Erheben, sichern, feststellen
Rolf Dieter Brinkmanns Gedichte in Einzelinterpretationen
Von Daniel Tobias Seger
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseRolf Dieter Brinkmann? Ist das nicht der mit dem krassen Rombuch? Hat der nicht das Gedicht über die Orangensaftmaschine geschrieben? War es nicht der Brinkmann, der gerne eigene und fremde Texte und Bilder, bevorzugt öde Landschaften und nackte Frauentorsi, zusammenmontiert hat? Hat Brinkmann 1968 nicht die verdutzten Kritiker Marcel Reich-Ranicki und Harald Hartung auf dem Podium in der Berliner Akademie der Künste angebrüllt, am liebsten würde er sie beide über den Haufen schießen?
Ja, das ist Rolf Dieter Brinkmann. Er war und ist für viele der Berserker der deutschen Literatur der 1960er- und frühen 1970er-Jahre, ein Monomane, ein Introvertierter, ein detailbesessener Avantgardist, beeinflusst von der amerikanischen Subkultur, ein „Kosmonaut des Innenraums“ (William S. Burroughs), ein Frühvollendeter: 1940 in Vechta geboren, ab 1966 freier Schriftsteller, Lyrik und Prosa. 1972/73 Stipendiat der Villa Massimo in Rom, 1974 Lektor in Austin, 1975 Tod in London bei einem Autounfall – mit 35 Jahren.
Ja, das ist Rolf Dieter Brinkmann. Sein Werk steht noch immer etwas einsam da. Zu eigentümlich ist die Form, in der er seine Texte präsentiert: Verse, nach einem scheinbar undurchsichtigen Muster auf der Seite verteilt oder verstörende Text-Bild-Montagen. Und Brinkmann ist ein Kind seiner Generation, deren Lebenswelt uns heute schon sehr fremd geworden ist: Wer weiß noch etwas mit der Beat Generation anzufangen, mit Burroughs, Frank O’Hara, Michael McClure oder mit anderen Unangepassten, etwa mit Ezra Pound? Und wer findet sie heraus und ordnet sie ein, die zahllosen Anspielungen in Brinkmanns Texten auf die Konsumwelt der damaligen Zeit, auf Fernsehserien, auf Popsongs und Schlager, auf Verhältnisse in den Vereinigten Staaten und natürlich auf gesellschaftspolitische Tendenzen und Debatten in Deutschland und anderswo?
Wohlgemerkt: Rolf Dieter Brinkmann lässt sich entdecken auch ohne erklärenden Apparat. Eine schöne Auswahl aus Lyrik und Prosa hat Genia Schulz bei Reclam herausgebracht und mit einem kongenialen Nachwort versehen (RUB 9311). Wer Brinkmann liest, dem fällt neben der Zeitgebundenheit auch die Zeitenthobenheit seiner Texte auf, ihre Offenheit, ihre einladende Geste, ihre Zartheit neben allen harten, zum Teil brutalen Schnitten, dem verbalen Maschinengewehr und den immer etwas pubertären Obszönitäten. Das erst postum erschienene Italienbuch „Rom, Blicke“ etwa ist eine wütend-aggressive Abrechnung mit dem Klassischen, mit den politischen Entwicklungen, mit dem Literaturbetrieb. Verfall, Schmutz, Endzeit in Rom – und dann aber immer wieder auch sanfte Töne, das italienische Licht von sanfter Qualität und Klarheit, gelbe Blätter im Gegenlicht und Vogellaute in der Luft.
Bei Brinkmann seien alle Türen offen, hat Genia Schulz festgestellt, einen Schlüssel brauche man nicht, nur springen müsse man können/wollen – etwa zwischen Text und Bild, im Text, zwischen den aufgespannten Themenfeldern, ja, auch zwischen den Emotionen. Snap shot – bei diesem Verfahren kann nicht alles in weiches Licht getaucht sein. Vielmehr schälen sich Einzelheiten heraus, nie Gesehenes wird sichtbar, auch das, worüber gerne hinweggesehen wird. Rolf Dieter Brinkmann ist ein Hinschauer – und ein Hinsteller: In seinen Texten steht die Sprache da und soll wirken, auch optisch, etwa durch monströse Druckbildwiedergabe oder durch die Beigabe von Fotos, wie in „Godzilla“: das Gedicht auf einem Frauenarm oder einem Frauentorso angebracht: die Haut als Grenzfläche: da gibt es kein Ausweichen!
Viel ist zu entdecken bei Rolf Dieter Brinkmann. Und wer sich mit seiner Lyrik eingehender beschäftigen möchte, dem steht jetzt ein umfangreiches Kompendium zur Verfügung: die zwei von Jan Röhnert und Gunter Geduldig herausgegebenen Bände mit dem ziemlich staubigen Titel „Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen“. In vier Abteilungen – frühe Gedichte, Pop-Periode, lyrischer Umbruch, späte Poetik – werden zentrale lyrische Texte Brinkmanns ausführlich und nach einem – auch hier ist das Wort angebracht: klassischen Muster besprochen. Auf Informationen zur Edition des Gedichts werden, wenn vorhanden, Selbstäußerungen des Autors gegeben, gefolgt von Hinweisen zur Forschungssituation. Im Anschluss daran finden sich Wort- und Sacherläuterungen, die einmünden in die in der Regel ausführliche Interpretation des jeweiligen Gedichts.
Die beiden Bände mit an die hundert Gedichtinterpretationen, vorgelegt von fast sechzig Brinkmann-Experten (neben Literaturwissenschaftlern sind auch Schriftsteller darunter), wird die Auseinandersetzung mit dem Autor, der die Philologie gerne abfällig als „Viehlologie“ bezeichnet hat, zweifellos bereichern. Ob das Handbuch allerdings neben der „fachspezifischen“ auch die „literaturinteressierte“ Öffentlichkeit erreichen, und an Brinkmanns Werk heranführen kann, muss bezweifelt werden. Aber auch aus der Sicht einer bereits an Brinkmann ‚herangeführten‘ „fachspezifischen Öffentlichkeit“ (was für ein Ausdruck!) ergeben sich beim Blick auf die vorgelegten Interpretationen kritische Fragen.
Hier ist zunächst etwas zum Preis zu sagen, den der Verlag für das Handbuch veranschlagt: 200 Euro, genauer gesagt: 199,95 Euro, ein Betrag, der auch nicht besser ausschaut. Eine „literaturinteressierte Öffentlichkeit“ spricht man mit einem solchen Preis nicht an. Und so bleibt das Handbuch eben da, wo es der am Projekt offensichtlich wenig interessierte Verlag von Anfang an hinkalkuliert hat: in der (heute, in Zeiten der Mittelknappheit, muss man sagen: einen oder anderen) Universitätsbibliothek. It’s the economy, stupid! Die Rolf-Dieter-Brinkmann-Gesellschaft, in deren Auftrag das Handbuch erschienen ist, hat offenbar auch nichts für eine angenehmere Preisgestaltung tun können.
In noch größeres Erstaunen versetzt den Leser sodann jedoch die Tatsache, dass auf den gesamten 948 Seiten kein einziges Gedicht von Rolf Dieter Brinkmann zusammenhängend abgedruckt zu finden ist, nicht einmal Auszüge werden gegeben. Gerade bei diesem Autor, der seine Verse oft nach komplizierteren Mustern angeordnet, der Wörter zu schwarzen Monstern aufgeblasen und der seine Gedichte mit Bildern bevorzugt aus Zeitschriften zusammenmontiert hat, ist der unvermittelte Blick auf das Gedicht notwendig, fällt hier aber vollständig aus.
Der Abdruck sei, so erklären die Herausgeber hörbar zähneknirschend, von den Rechteinhabern ausdrücklich abgelehnt worden, obwohl doch ein wissenschaftliches Werk der Würdigung des Autors diene und zur Reputation und weiteren Verbreitung von dessen Œuvre beitragen werde. Nun ist das Verhalten von sogenannten Rechteinhabern ein eigenes (bisweilen von Hysterien und Grotesken durchzogenes) Thema und soll an dieser Stelle nicht weiter besprochen werden. Dass jedoch weder der Verlag, noch die im Auftrag zeichnende Rolf-Dieter-Brinkmann-Gesellschaft (in deren Reihen doch „Rechteinhaber“ sitzen sollten) zumindest für einige (anschauliche oder schwer auffindbare) Texte eine Abdruckgenehmigung erwirken konnten, erstaunt doch sehr.
Und so wird das Handbuch endgültig zu einem Buch für den sein Seminar vorbereitenden Studenten: die grünen Bände auf der einen Seite, das Gedicht auf der anderen Seite. Gegeben werden zumeist klassische Gedichtinterpretationen mit Seiten-, Strophen-, Vers- oder Zeilenangaben, die der Leser erst einmal finden muss: Seitenangaben der „Primärausgaben“ sind aufzusuchen, ‚Sequenz‘-Angaben sind zu identifizieren, Versangaben wie 11-12a anzusehen oder symmetrische Muster wie 2-3-2-1-1-3-4-1-2-1-1-2-3-2 sind am hoffentlich zugänglichen Gedicht nachzuvollziehen. Das ist mühselig und belohnt wird der Leser auch nicht immer. Denn oft werden die Interpretationen begleitet von einem kleinteiligen und bisweilen nervend oberlehrerhaften philologischen Posing mit viel heißer Luft.
Wie das geht? Etwa so: Da fallen dem Interpreten im bekannten Brinkmann-Gedicht „Von der Gegenständlichkeit eines Gedichts“ die Verse „Die Farbe | der Tinte ist königsblau“ auf, was ihn zu folgender „Marginalie“ anregt: Es erscheine einerseits unwahrscheinlich, dass Brinkmann mit „königsblau“ Assoziationen zu kunsthistorischen Dimensionen habe hervorrufen wollen, etwa zu religiöser Tafel- oder Buchmalerei, andererseits sei der Autor im Louvre gewesen. Näherliegend sei, dass mit dem Blau Brinkmanns Kenntnis der Kunst von Yves Klein und dessen Anthropometrien anklinge, aber, so schließt der gebildete Interpret seine „Marginalie“, die von drei (überflüssigen) Fußnoten begleitet wird, was immer sich bezüglich der blauen Farbe darüber hinaus noch anführen lasse, am naheliegendsten erscheine doch die Tatsache, dass in der Schule gebräuchliche Tinten den Namen „königsblau“ führen.
Aha, so so! Und was heißt das jetzt für den Text? Ein Gedicht später gesellt sich zu dieser ins Leere schießenden Bildungshuberei eine philologische Wallung: Gegenstand jetzt Brinkmanns Gedicht „Photographie“. Erneut ist die Farbe Blau der Anknüpfungspunkt: Ausgehend von Gottfried Benn entwickelt die Interpretin, begleitet von elf Fußnoten, den „Blau-Kosmos“ der modernen Lyrik, weist dann auf die Wichtigkeit dieser Farbe für Brinkmann hin, assoziiert mit dem im Gedicht genannten „blauen | Mantel“ den blauen Schutzmantel der Madonna in der abendländischen Ikonografie. Aber, sorry: Genaues weiß man halt nicht, „wir erhalten zu wenige Angaben, um solche Bezüge herstellen zu können, wenngleich Attribute einer Mariendarstellung gleichsam aufblitzen“. Sei’s drum: Auch wenn man nichts Genaues weiß, die Blau-Konnotationen „sollten zumindest genannt werden“. Am Ende bleibt Ratlosigkeit zurück: Der Text biete „Blau-Tiefe gleichsam an, um sie im selben Atemzug wieder zu verwerfen“.
Insgesamt hätte beiden Bänden ein straffendes Lektorat seitens der Herausgeber gut getan, ist aber offensichtlich nicht erfolgt. Und so verschwinden wertvolle Hinweise zu biografischen Details, zu Anspielungen oder zu Verbindungen zu anderen Gedichten und Texten Brinkmanns oft in einem Strom ungezügelter und zielloser Geschwätzigkeit, deren Komik in der Regel unfreiwillig ist. Etwa wenn über Achselhaarrasur sinniert wird oder über den sch-Laut, der über die Worte „frisch gewaschene schwarze“ direkt in die Strumpfhose im Gedicht „Trauer auf dem Wäschedraht im Januar“ gleite. Auch die Seligkeit eines Interpreten, der ein Brinkmann-Gedicht „wie gemacht für eine Interpretation im Deutschunterricht der Mittelstufe“ bejubelt, vermag ein Lächeln auf das Gesicht des Lesers zaubern: Putzig! Und welches Gedicht eignet sich, bitte sehr, für die Oberstufe?
Nach dem leider nur kurz aufflammenden Interesse für Rolf Dieter Brinkmann anlässlich seines 30. Todestages im Jahr 2005 ist es um ihn wieder stiller geworden. Leider ist mit den vorliegenden beiden Bänden zu seinem lyrischen Werk die Chance vertan worden, eine wirkliche Bresche zu schlagen zu diesem unangepassten Poeten. Schon das verbissene Vorwort der Herausgeber lässt nichts Gutes ahnen: Es gehe bei ihrem Projekt darum, Brinkmann „zum Klassiker der deutschsprachigen Literatur zu erheben“ und ihm einen „festen Platz als Gegenstand der ‚Neueren deutschen Philologie‘ zu sichern“, wobei die Qualität seiner Texte bereits „wichtige Interpreten festgestellt“ hätten. Erheben, sichern, feststellen – und das bei einem Dichter, der ein Meister des Erscheinens und Verschwindens war!
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