Nach der Flut

Sara Grans „Die Stadt der Toten“ bedient alle Erwartungen und leidet darunter

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Berichterstattung zum Wirbelsturm Katrina, der vor einigen Jahren die Südostküste der USA heimgesucht hatte, konnte sich nicht wirklich entscheiden, was die größere Katastrophe war: der Sturm samt Überflutung und Zerstörung New Orleans oder die Organisation der Hilfsaktionen. Die Zahlen, die sich zu Katrina und den nachfolgenden Schäden finden lassen, sprechen von annähernd 2.000 Toten und über 80 Milliarden Dollar Sachschäden. Dass George W. Bush das politisch überlebt hat, ist wohl eher verwunderlich als die Akzeptanz des zweiten Golfkriegs, der mit eher fadenscheinigen Gründen begonnen wurde. Wer auch immer mehr Schaden angerichtet hat – der Sturm oder die Katastrophenhilfe – kann nun offen bleiben. Die Stadt jedenfalls, so der Entwurf dieses Krimis der amerikanischen Autorin Sara Gran, ist zerstört und wird sich wohl nie mehr von dem erholen, was geschehen ist.

In diese Situation hinein platziert Sara Gran eine merkwürdige Krimigeschichte: Ihre Heldin, Claire DeWitt, wird gebeten, den verschwundenen Onkel ihres Auftraggebers zu finden. Die Vermutung liegt nahe, dass er nicht in der Flut und im anschließenden Chaos verunglückt ist, sondern ermordet wurde.

Claire DeWitt macht sich denn auch auf die Suche im teils zerstörten, teils maroden, teils aber leidlich funktionierenden New Orleans. Dass die Zerstörung das Gesamtbild beherrscht, die Protagonistin mit ihren Gesprächspartnern aber immer wieder ungestört essen gehen kann oder zum Hotel kommt, mag befremdlich vorkommen, liegt aber in der Absicht begründet, die Brüchigkeit der Welt vorzustellen, in der DeWitt sich bewegt. Brüchig ist sie und weit entfernt von den zivilisatorischen Normen, die sogar im Westen der USA Standard sind. Das sollte zu denken geben.

Sie wird entsprechend geprägt von marodierenden Jugendbanden, die wild aufeinander losschießen, und die irgendwas mit dem Verschwinden des Onkels, der Staatsanwalt war, zu tun haben. Jedenfalls ist nach kurzer Zeit irgendjemand hinter DeWitt her, was die Sache teils einfacher macht, teils nicht. Drogen, Gewalt, Missbrauch und eine Stadt, die nur noch den Schatten eines städtischen Gebildes darstellt, machen aus der Szenerie so etwas wie einen Alptraum aus dem Süden der USA. Dass die Jugendlichen sich den Tod eher wünschen als eine Fortsetzung ihrer jetzige Existenz, mag man sich vorstellen.

Es kann auch nicht wundern, dass der Plot, den Gran entwirft, die offizielle Welt (der Staatsanwalt als Onkel) und die inoffizielle (die Gangs) miteinander verbindet. DeWitts Reise in der Unterwelt New Orleans‘ nach der Flut ist zugleich eben auch eine Reise in die zahlreichen Verflechtungen, die zwischen den Welten bestehen.

In diesem Fall sind es die Verbindungen des Staatsanwalts mit den Jungen, die sich für ihr Überleben prostituieren. Missbrauch als Ausdruck des Amts? Keine Seltenheit, und dass DeWitt das enthüllt, ist als Genrebild schon fast Normalität.

Aber sie geht einen denkwürdigen Schritt weiter, der das Chaos und den Niedergang mit so etwas wie einer Katharsis, einer Reinigung und Heilung verbindet: Denn Katrina bietet denen, die sich bis dahin eher als die Ausgestoßenen oder Schmarotzer des Systems verstanden haben, Gelegenheit zu so etwas wie sich selbst zu finden.

Die jungen Männer, die sonst nichts dabei finden, jeden, der sich ihnen in den Weg stellt, niederzumachen, brechen in Privathäuser und Läden ein, um für die, die es brauchen, Lebensmittel und Wasser zu beschaffen. Sie retten mit Booten Menschen von Dächern, sie entpuppen sich als selbstverständliche Helfer, erleben das Prinzip Solidarität und genießen es. Das ist der Moment, in dem sich ein Leben ändern kann.

Nicht anders der Staatsanwalt: Im Moment der Katastrophe wird er vom Nutznießer seiner Macht zum selbstlosen Helfer, und erlebt sich damit völlig neu. Aber es gibt eben kein Happy End in der Katastrophe, denn der Moment des höchsten Glücks ist eben auch der, in der die Welt der Jungen und des Mannes aufeinanderprallen. Ein Missverständnis führt zur Eskalation. Der Mann stirbt.

Unterzogen ist die Erzählung mit einem permanenten Verweis auf das große Vorbild DeWitts, einen französischen Detektiv namens Jacques Silette, der auch noch ein Buch über seine Arbeit geschrieben hat. Das aber ist keineswegs eine Anleitung zur Detektivarbeit, sondern ein eigenes Rätsel, das wohl in die Richtung zu lösen ist, dass nur der Rätsel lösen kann, der sein eigenes Rätsel gelöst hat. Erkenne dich selbst?

Nun ja, es mag Geschmacksache sein, oder langweilige Esoterik, Sara Gran hat sich jedenfalls zu dieser Konstruktion entschieden. Nicht zuletzt deshalb, weil sie damit ihre Protagonistin extrem stark stilisieren kann: teuer, gut, verrückt, wie der Klappentext sagt. Auch dieser Meinung wird man sein können.

Titelbild

Sara Gran: Die Stadt der Toten. Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Eva Bonné.
Droemersche Verlagsanstalt, München 2012.
360 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783426226094

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch