Verpasste Gelegenheiten
Wie sowohl die römisch-katholische Kirche als auch die „F.A.Z.“ ihre Chancen verspielten
Von Dirk Kaesler
Eine Hoffnung weniger
Am 31. August 2012 starb in Gallarate in der Lombardei der ehemalige Mailänder Kardinal und Jesuitenpater Carlo Maria Martini in seinem 85. Lebensjahr. Dieser Kardinal war bei dem Konklave im April 2005 einer jener Kandidaten gewesen, die immer wieder als möglicher Nachfolger von Papst Johannes Paul II. genannt worden waren.
Bekanntlich ist das Abstimmungsverhalten der damals stimmberechtigten 115 Kardinäle geheim. Erst Jahre später wurde anonym kolportiert, dass der endgültig gewählte Kardinal Joseph Ratzinger, der zum Papst Benedikt XVI. gemacht wurde, im ersten Wahlgang 47, im zweiten 65 und im dritten 72 Stimmen erhalten habe. Einer derjenigen, die bis zum Ende des Wahlgeschehens im Rennen gewesen sein sollen, war Kardinal Martini. Aber, von Anfang an waren Zweifel angebracht: Noch nie wurde ein Jesuit Papst. Die Widerstände des „weißen Papstes“ und seiner Amtskirche gegen einen „schwarzen Papst“ – so genannt wegen der ehemals schwarzen Ordenskleidung der „Societas Jesu“ – waren seit der Bestätigung des Ordens im Jahr 1540 immer schon groß gewesen.
Viele Menschen, auch Nichtkatholiken, hatten jedoch darauf gehofft, dass gerade dieser Kirchenmann Papst werden würde. Mit seiner Person verbanden sich große Hoffnungen, dass die römisch-katholische Kirche tatsächlich jene Versprechen, die sich mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil der Jahre 1962 bis 1965 angebahnt hatten, eingelöst und erweitert werden würden. Der Geist des Aufbruchs – des „aggiornamento“ – der nach diesem Konzil auch durch die katholische Kirche wehte, hatte die Verheißung wachsen lassen, dass die Hinwendung zum Gewissen des Einzelnen und die Bereitschaft von anderen christlichen Kirchen zu lernen, bleiben würde. Gerade die Betonung der Bedeutung der Heiligen Schrift und der Taufe, die alle Christen miteinander verbindet – unabhängig von der jeweiligen Konfessionszugehörigkeit – führten zu großen Hoffnungen auf eine wirkliche Ökumene.
Der Mailänder Kardinal Martini verkörperte geradezu diese Hoffnungen, denn kaum ein anderer katholischer Kirchenführer hatte sich über viele Jahre hindurch derart leidenschaftlich in theologischen und moralischen Fragen in eben dieser Richtung öffentlich geäußert wie dieser Priester, der im Alter von 17 Jahren in den Jesuitenorden eingetreten war. Nach den klassischen Etappen des Studiums und dem Empfang der Priesterweihe im Jahr 1952 erwarb Martini zwischen 1958 und 1964 an der päpstlichen Jesuiten-Universität Gregoriana in Rom zwei theologische Doktortitel, jeweils mit dem Prädikat „summa cum laude“. Nach seiner seelsorgerischen Tätigkeit und einer Zeit als Professor und Rektor am römischen Bibelinstitut war er 1978 zum Rektor der Gregoriana berufen worden. Papst Johannes Paul II. ernannte Martini im Dezember 1979 zum Erzbischof von Mailand, der größten Diözese der Welt. Große Beachtung fand damals seine „lectio divina“; das waren öffentliche Vorlesungen, die Menschen auf der Suche nach dem Sinn ihres Lebens im Dom einen neuen Zugang zur Heiligen Schrift anboten.
Einer breiten Öffentlichkeit wurde Martini vor allem durch das Buch über seinen Briefwechsel mit dem agnostischen Schriftsteller Umberto Eco bekannt. Die Diskussion der beiden Intellektuellen kreiste um die Frage „Woran glaubt, wer nicht glaubt?“.
Nach seiner Emeritierung lebte Martini von 2002 an abwechselnd in Jerusalem und Italien, bis ihn seine fortschreitende Parkinson-Krankheit 2008 endgültig zur Rückkehr in die Heimat zwang. Auch von Jerusalem aus nahm er an öffentlichen Debatten teil. Dabei lösten seine differenzierten Stellungnahmen zu Euthanasie und Sterbehilfe, zu Apparatemedizin und Patientenverfügung lebhafte Diskussionen aus. Große Beachtung fanden auch seine Stellungnahmen zum Islam, in denen er eine „gerechte Wechselseitigkeit“ zwischen Christen und Muslimen einforderte. Aber auch von den Juden wurde er in Jerusalem freundschaftlich empfangen, als er 2005 sein in Ivrit übersetztes Buch über die spirituelle Bedeutung Zions vorstellte („Il Cammino verso Gerusalemme“). Wer die Juden nicht verstehe, sagte Martini immer wieder, könne auch das Christentum nicht wirklich verstehen: „Jesus ist ganz jüdisch. Die Apostel sind jüdisch, und niemand kann daran zweifeln, dass sie an den Traditionen ihrer Väter hingen“, heißt es bei Martini.
Sowohl durch seine zahlreichen Bücher, von denen viele auch auf Deutsch erschienen sind, als auch durch seine regelmäßige Kolumne in der Mailänder Tageszeitung „Corriere della Serra“, in der er biblische, dogmatische und allgemein menschliche Fragen zu beantworten suchte, erreichte Kardinal Martini viele Menschen, gerade auch jene, die in der römisch-katholischen Kirche keine Heimat mehr finden konnten.
Wer das offizielle Kondolenzschreiben von Papst Benedikt XVI. genau liest, erkennt durchaus, wie problematisch so manche der Positionen Martinis aus vatikanischer Sicht eingeschätzt worden waren. Ein Kardinal, der für einen radikal anderen Umgang seiner Kirche mit Geschiedenen plädierte, der das Verbot der Empfängnisverhütung öffentlich ablehnte, der sich für eine Anerkennung homosexueller Partnerschaften einsetzte, kann von „seinem“ Papst zwar als „pflichtbewußter und weiser“ Erzbischof und Bibelwissenschaftler gelobt werden. Aber in der Charakterisierung seiner „intensiven apostolischen Tätigkeit“ und seinem „leidenschaftlichen Dienst“ kann man durchaus auch einen gelinden Tadel herauslesen.
Die verpasste Chance der Berichterstattung
Wenn nun so ein Mann stirbt – und mit ihm die mit seiner Person verbundenen Hoffnungen – dann erwartet der geneigte Leser, dass gerade „seine“ Zeitung eben diese ganzen Dimensionen gründlich darstellt. Und vor allem hofft er darauf, dass jene Zeitung, hinter der ja die „klugen Köpfe“ stecken – sowohl in der Redaktion als auch in der Leserschaft – ausführlich über jenes letzte Interview berichtet, mit dem Kardinal Martini seine Kirche zum Umdenken aufforderte und „einen radikalen Weg der Veränderung“ forderte.
Dieses von Martini noch selbst autorisierte Interview, das der Jesuitenpater Georg Sporschill zusammen mit der Journalistin Federica Radice mit Martini kurz vor seinem Tode am 8. August 2012 geführt hatte, erschien am 2. September 2012 im „Corriere della Sera“ und wurde dort als „spirituelles Testament“ annonciert.
Der österreichische Jesuit Sporschill eignete sich ganz besonders für dieses Gespräch. Nach seinen jahrelangen Erfahrungen mit Menschen in Gefängnissen, mit drogenabhängigen Jugendlichen und mit Straßenkindern in Rumänien und Moldawien lernten sich beide Männer, der leidenschaftliche Sozialarbeiter und der greise Kardinal, in Jerusalem kennen und waren Freunde geworden. In ihrem gemeinsamen Buch „Jerusalemer Nachtgespräche“ suchten beide nach Antworten auf kritische Fragen jener Jugendlichen, mit denen sie immer wieder konfrontiert wurden: Was würde Jesus heute tun? Welche Zukunft hat Glauben in Zeiten des Wohlstands? Was ist der Weg der verschiedenen Religionen?
Von diesem Interview konnte in der kurzen Meldung des Italien- und Vatikan-Korrespondenten der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, dem Historiker Jörg Bremer, vom Tod Kardinal Martinis vom 31. August 2012 unter der Überschrift „Liberaler Herausforderer“ naturgemäß noch keine Erwähnung sein. Von dessen Amtsvorgänger, Heinz-Joachim Fischer, der jahrzehntelang über die Geschehnisse im Vatikan für die F.A.Z. berichtete und der sich wiederholt eine zu große Nähe zu Papst und Kurie vorwerfen lassen musste, wäre nicht einmal diese einigermaßen freundliche Darstellung zu erwarten gewesen.
Also hoffte der aufmerksame Leser auf eine ausführlichere Würdigung, unter Einbeziehung des Interviews, vom katholischen Theologen Daniel Deckers, der gegenwärtig für die Berichterstattung über die katholische Kirche für die „F.A.Z.“ zuständig ist. Dieses Warten erwies sich bis heute als vergebens.
Am 5. September, immerhin drei Tage nach der Publikation des Interviews, erschien jedoch ein Artikel des Feuilleton-Journalisten Dirk Schümer, der seit diesem Sommer endlich wieder aus dem von ihm so geliebten Venedig über europäische Themen für die „F.A.Z.“ berichten darf, nachdem er für kurze Zeit nach Wien geschickt worden war. Unter dem Titel „Ambrosianisch“ schrieb Schümer über jene Zeit, in der die Straßen der Mailänder Innenstadt „leergefegt“ waren, wenn Martini im Mailänder Dom predigte, und er berichtete auch über jene Diskussionen darüber, ob der freiwillige Nahrungsverzicht des schwerkranken Kardinals Suizid oder gar Euthanasie der behandelnden Ärzte gewesen sei. Aber immerhin erwähnte er das Interview und schrieb, dass die katholische Theologie daran sicher „noch länger zu kauen“ haben werde. Das Interview selbst jedoch blieb im Blatt nicht übersetzt oder abgedruckt.
Das letzte Interview
Mein Italienisch ist nicht gut genug, als dass ich die Originalfassung gut hätte verstehen können. Also machte ich mich auf die Suche nach einer verlässlichen deutschen Übersetzung. Bei dieser Suche stieß ich auf die Tatsache, dass gerade österreichische Zeitungen und zahlreiche österreichische Nachrichtendienste nicht nur wesentlich ausführlicher über das Wirken und Ableben des Kardinal Martini berichtet haben – immer verbunden mit der Darstellung der mit seiner Person verbundenen Hoffnungen vieler Katholiken und Protestanten – sondern dass vor allem in zahlreichen Blogs eine geradezu ausufernde Debatte über dieses letzte Interview des ehemaligen Kirchenfürsten tobt. Gerne leihe ich meine Glosse der Übernahme einer der vielen deutschen Fassungen, verbunden mit der Hoffnung, dass es den einen oder anderen zum Nachdenken und Handeln bringt.
Frage: Wie sehen Sie die Situation der Kirche?
Kardinal Carlo Maria Martini: Die Kirche in den Wohlstandsländern Europas und Amerikas ist müde geworden. Unsere Kultur ist alt, unsere Kirchen sind groß, Häuser sind leer, die bürokratische Organisation wuchert, unsere Riten und Gewänder sind prächtig. Doch drücken sie das aus, was wir heute sind? Dienen die Kulturgüter, die wir zu pflegen haben, der Verkündigung und den Menschen? Oder binden sie zu sehr unsere Kräfte, sodass wir uns nicht bewegen können, wenn eine Not uns bedrängt? Der Reichtum belastet uns. Wir stehen da wie der reiche Jüngling, der traurig wegging, als ihn Jesus zur Mitarbeit gewinnen wollte. Ich weiß, dass wir nicht einfach alles verlassen können. Doch wir könnten zumindest Menschen suchen, die frei und den Menschen nahe sind, wie es Erzbischof Romero und El Salvadors Jesuiten-Märtyrer waren. Wo sind die Helden bei uns, auf die wir schauen können? Keinesfalls dürfen wir sie mit den Fesseln der Institution behindern.
Frage: Wer kann der Kirche heute helfen?
Martini: Pater Karl Rahner gebrauchte gerne das Bild von der Glut, die unter der Asche zu finden ist. Ich sehe so viel Asche, die in der Kirche über der Glut liegt, dass mich manchmal Hoffnungslosigkeit bedrängt. Wie können wir die Glut von der Asche befreien, sodass die Liebe wieder zu brennen beginnt? Als Erstes müssen wir die Glut aufspüren. Wo sind einzelne Menschen, die hilfreich sind wie der barmherzige Samariter? Die Vertrauen haben wie der heidnische Hauptmann? Die begeistert sind wie Johannes der Täufer? Die Neues wagen wie Paulus? Die treu sind wie Maria von Magdala? Ich empfehle dem Papst und den Bischöfen, in ihre Leitungsgremien zwölf ungewöhnliche Menschen aufzunehmen. Menschen, die bei den Ärmsten sind, Jugendliche um sich haben und Experimente machen. Es braucht die faire Auseinandersetzung mit Menschen, die brennen, damit der Geist wehen kann.
Frage: Welche Heilmittel empfehlen Sie gegen die Müdigkeit?
Martini: Ich empfehle drei starke Medikamente: Das erste von ihnen ist die Umkehr. Die Kirche, angefangen bei Papst und Bischöfen, muss sich zu ihren Fehlern bekennen und einen radikalen Weg der Veränderung gehen. Die Skandale um den Missbrauch von Kindern zwingen uns, Schritte der Umkehr zu setzen. Die Fragen zur Sexualität und zu allen Themen, die den Leib betreffen, sind ein Beispiel. Sie sind jedem Menschen wichtig, manchmal vielleicht zu wichtig. Nehmen wir wahr, ob die Menschen die Stimme der Kirche zur Sexualmoral noch hören? Ist die Kirche hier eine glaubwürdige Gesprächspartnerin oder nur eine Karikatur in den Medien?
Das zweite ist das Wort Gottes. Das Zweite Vatikanische Konzil gab den Katholiken wieder die Bibel in die Hand. Aber können sie die Heilige Schrift verstehen? Wie finden Katholiken einen selbstbewussten Umgang mit dem Wort Gottes? Nur wer dieses Wort in sein Herz aufnimmt, kann beim Neuaufbruch der Kirche mitmachen und in persönlichen Fragen gute Entscheidungen treffen.
Das Wort Gottes ist einfach und sucht als Partner das hörende Herz. Dazu braucht es nur Stille, Hören, Lernen, Fragen und Warten, wenn ich es nicht fassen kann. Nicht der Klerus und nicht das Kirchenrecht können die Innerlichkeit des Menschen ersetzen. Alle äußeren Regeln, Gesetze und Dogmen sind dazu da, die innere Stimme des Menschen zu klären und die Geister zu unterscheiden.
Für wen sind die Sakramente? Sie sind ein drittes Heilmittel. Die Sakramente sind keine Instrumente zur Disziplinierung, sondern eine Hilfe für die Menschen an den Wendepunkten und in den Schwächen des Lebens. Bringen wir Sakramente zu den Menschen, die neue Kraft brauchen? Ich denke an die vielen Geschiedenen, wieder Verheirateten, an Patchwork-Familien. Sie brauchen besondere Unterstützung. Die Kirche steht zur Unauflöslichkeit der Ehe. Es ist eine Gnade, wenn eine Ehe und Familie gelingt. Wenn die Eheleute zusammenhalten und einander tragen. Wenn sie Kinder haben und sie zu selbstständigen und mutigen Christen erziehen. Christliche Familien zeichnen sich aus durch die Kraft, jenen entgegenzukommen, die Not haben in der Beziehung oder in der Erziehung.
Die Art und Weise, wie wir mit Patchwork-Familien umgehen, bestimmt die Generation der Kinder. Eine Frau wurde von ihrem Mann verlassen und findet einen neuen Lebenspartner, der sich ihrer und der Kinder annimmt. Die zweite Liebe gelingt. Wenn diese Familie diskriminiert wird, wird nicht nur sie, sondern werden auch ihre Kinder zurückgestoßen. Wenn sich die Eltern in der Kirche ausgeschlossen fühlen oder keine Unterstützung erfahren, verliert die Kirche die nächste Generation.
Vor der Kommunion beten wir: „Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“ Wir wissen, dass wir unwürdig sind und mit unserer Leistung die Liebe nicht verdienen. Liebe ist Gnade. Liebe ist Geschenk. Die Einladung, zur Kommunion zu gehen und das Brot des Himmels zu empfangen, richtet sich an die Suchenden und Bedürftigen. Das ist kein Anbiedern, sondern ein selbstbewusstes Angebot der Kirche im Wissen darum, dass bei Gott nichts unmöglich ist. Die Frage, ob Geschiedene zur Kommunion gehen dürfen, sollte umgedreht werden. Wie kann die Kirche den Menschen, deren Beziehung schwierig oder gescheitert ist, mit der Kraft der Sakramente zu Hilfe kommen?
Frage: Womit ringen Sie persönlich?
Martini: Die Kirche ist zweihundert Jahre lang stehen geblieben. Warum bewegt sie sich nicht? Haben wir Angst? Angst statt Mut? Wo doch der Glaube das Fundament der Kirche ist. Der Glaube, das Vertrauen, der Mut. Ich bin alt und krank und auf die Hilfe von Menschen angewiesen. Die guten Menschen um mich herum lassen mich die Liebe spüren. Diese Liebe ist stärker als die Hoffnungslosigkeit, die mich beim Blick auf die Kirche in Europa manchmal überkommt. Nur die Liebe überwindet die Müdigkeit. Gott ist die Liebe. Ich habe noch eine Frage an Dich: Was kannst Du für die Kirche tun?
Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu Dirk Kaeslers monatlich erscheinenden „Abstimmungen mit der Welt“.