Das Warten aufs Ende

Gaston Salvatores Theaterstücke verfehlen die Konflikte der Geschichte

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gaston Salvatore ist ein leidenschaftlicher Theaterautor: Seit „Büchners Tod“ von 1972 hat er eine ganze Reihe von Arbeiten für die Bühne vorgelegt, bis hin zum noch unaufgeführten Drama „Die moralische Nacht“ (2011). Die Themen sind oft historisch, und nicht allein ein berühmter Autor wie Georg Büchner sorgt in Salvatores Stücken qua Stoff für Bedeutung. Auch Josef Stalin, Rudolf Hess, Charles Darwin, Salvador Allende treten bei ihm auf. Es geht um die großen Fragen von Macht, Gewalt, Revolution und Widerstand, vom Umgang mit der Vergangenheit. Immer wieder geht es um Faschismus, Kolonialismus und um die Fehler und Verbrechen, die Salvatore bei den Linken sieht.

Die Stoffwahl ist mit der Biografie Salvatores verknüpft. Der gebürtige Chilene, Neffe des 1973 mit US-Unterstützung gestürzten und ermordeten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende, beteiligte sich in Europa an der Studentenbewegung, war mit Rudi Dutschke befreundet und geriet in Westdeutschland zeitweise selbst ins Visier der staatlichen Verfolgung. Seine Theaterstücke hingegen wirken, vergleicht man sie mit dem auch kulturrevolutionären Anspruch der 68er, auf den ersten Blick in ästhetischer Hinsicht traditionalistisch. Anfangs bezeichnete Salvatore sie meist, denkbar neutral, als „Stück“, aber bereits „Lektionen der Finsternis“ (1989) ist – wie dann noch drei weitere Werke – als „Tragödie“ benannt. Die drei neuesten Texte sind, laut Genrebezeichnung, allesamt Dramen. Tatsächlich hat Salvatores Theater mit modischer Postdramatik nichts zu schaffen. Er bringt Charaktere auf die Bühne – Personen, die etwas wollen und tun; oder wenigstens etwas wollten und taten.

Das muss kein Nachteil sein. Tatsächlich hat ja ein Großteil der aktuellen Bühnenproduktion, mangels tradierter Maßstäbe, mit denen man sich immerhin auseinandersetzen könnte, etwas langweilig Kunstgewerbliches. Die Frage ist allerdings, ob Salvatore die alten Muster zu erfüllen vermag. Wenn „Büchners Tod“ im Titel Büchners Drama „Dantons Tod“ zitiert, hat das, über die Anspielung für Literaturkenner hinaus, auch eine inhaltliche Dimension. Büchner exponiert im ersten Akt seines Schauspiels geradezu schulgerecht einen Konflikt zwischen zwei Parteien, um dann im Fortgang den dramatischen Wechsel von Spiel und Gegenspiel ausfallen zu lassen: Die Robespierristen tun etwas, die Dantonisten warten auf ihren Untergang.

Diese im Grunde undramatische Anlage spitzt Salvatore noch zu: Büchner liegt im Sterben und reflektiert in wenigen klaren Momenten über die Gründe, weshalb seine Revolution gescheitert ist. Einmontiert sind Szenen mit seinen hessischen Mitverschworenen, die es nicht ins Exil geschafft haben und nun von Metternich’schen Theaterchargen gefoltert werden. Das Beharren und der Verrat der Gefangenen ist im Detail so klug differenziert wie die Privilegien des zum Patienten gewordenen Wissenschaftlers Büchner, die von seinen klassenbewussten Pflegern subtil unterlaufen werden. Doch gibt es insgesamt nichts mehr zu tun, nur noch zu leiden. Da ist der ganze Frust von 1972: dass es 1968 keine Revolution gab.

Zwei Probleme weist dieses Stück auf, die sich in Salvatores Bühnenwerk immer wieder finden werden. Erstens setzt es historische Kenntnisse voraus, die nicht vorauszusetzen sind. Wer vor der Aufführung nicht die genauen Verhältnisse kennt, unter denen Büchners „Hessischer Landbote“ entstand, wird vieles nicht verstehen. Zweitens behandelt Salvatore politische Fragen auf eine unpolitische Weise. Nach der Niederlage fragt der Dichter: Was haben wir falsch gemacht? Warum haben wir versagt? Wie gehen wir mit unserem Leid um, und wie können wir uns darin als moralisch autonome Menschen rechtfertigen? Der politische Ansatz hingegen wäre: Die Lage ist schwierig, okay. Das ist sie häufig. Was können wir jetzt tun, um sie zu verbessern?

Wie Politisches auf der Bühne nicht zu behandeln geht, zeigt leider „Allende“, von Salvatore als „Tragödie in drei Akten“ bezeichnet. Das Stück zeigt die letzten Stunden von Allendes Präsidentschaft: den Abend und die Nacht vor dem Militärputsch und dann den Morgen in Allendes Amtssitz, die Bombardierung und den Tod des Präsidenten, sowie die anschließende Gewalt. Das Stück aus dem Jahr 2000 ist politisch erfreulich. Es widerspricht der gängigen Deutung, dass der Kalte Krieg ein Kampf westlicher Edeldemokraten gegen sozialistische Totalitaristen gewesen sei, und benennt Verbrechen der USA und ihrer Handlanger, und zwar Verbrechen gegen demokratisch legitimierte Politiker.

Es ist erfreulich, aber ein gutes Drama ist es trotz zeitlicher Konzentration der Handlung nicht geworden. Viel zu viele Nebenfiguren treten auf, die man in Deutschland nicht kennt, die zum Fortgang nichts beitragen, den Verlauf sogar behindern. Und sogar dieser Satz ist ungenau, denn es gibt keinen dramatischen Verlauf. Allende und seine Freunde wissen nicht genau, was los ist, und warten auf ein mögliches Geschehen; und als das Geschehen da ist und sie wissen, was los ist, da warten sie auf den Untergang.

Historisch war es ein Irrtum Allendes, dem General Pinochet zu vertrauen und ihn zum Oberkommandierenden des Heeres zu ernennen. Das Publikum weiß, dass der Offizier 1973 putschte und die Identität von staatlicher Folter und Wirtschaftliberalismus durchsetzte. Tatsächlich kommen Irrtümer in der Geschichte relativ häufig vor, mit häufig negativen Folgen. Aber ist die Konstellation dramatisch sinnvoll? Dass Allende bezüglich der Verfassungstreue Pinochets einer Illusion folgte, wird zum Gefühlwert, der das Mitleid mit Allende verstärkt. Die eigentlich politische Frage: Welches Verhalten ist in einer bestimmten politischen Lage sinnvoll – mit bestimmten Interessen, mit einem bestimmten Informationsstand – diese Frage tritt in den Hintergrund. Damit zerfällt der politische Konflikt, und es bleibt nur noch das Warten aufs Ende. Dies aber ist, sofern man das Ende bereits kennt, spannungslos.

Dass es fast allen dieser Stücke an Spannung fehlt, liegt auch an zwei weiteren um Grunde undramatischen Elementen. Zum einen mag Salvatore Sprünge zwischen Vergangenheit und Gegenwart – ein im Grunde erzählerisches Element. Vielleicht ist es auch ein legitimes filmisches Mittel, insofern die Überblendung ohne weitere Schwierigkeiten zu handhaben ist. Doch im Theater, dessen Stärke in der Konkurrenz der Medien gerade in der körperlichen Präsenz liegt, sind Komplikationen der Zeitstruktur ein sicheres Mittel für den Misserfolg.

Zum anderen ist Salvatores Theater episch auch durch die geschwätzigen Beschreibungen von Bühnenbild und Personen, wie sie sich sonst nur bei Rolf Hochhuth und – ästhetisch klüger und vor allem besser formuliert – bei Friedrich Dürrenmatt finden. Es handelt sich nicht um episches Theater im Sinne Bertolt Brechts, wo es um Illusionsbrechung und Ideologiekritik geht, sondern um eine Episierung aus dramaturgischer Hilflosigkeit.

Einige Stücke freilich sind besser. „Monsieur Joseph“ (2011) formuliert baut durchaus spannungsreich ein moralisches Dilemma auf: das eines französischen Juden, der in der Besatzungszeit mit den Deutschen Geschäfte macht, die diesen nützlich sind; dabei gut leben und verdienen will und aber seine Mittel nutzt, um Juden zu retten. Salvatore verzichtet jedoch darauf, den Konflikt in seiner ganzen Schärfe durchzuführen. Als alter ego lässt er ein KZ-Opfer agieren, das Joseph rechtfertigt und so den Stückschluss durch eine allzu platte Antwort demoliert.

Auf der Bühne am besten dürfte „Stalin“ (1985) wirken. Der schon schwerkranke Herrscher lässt sich Anfang 1953, wenige Monate vor seinem Tod, einen jüdischen Schauspieler kommen, der vor und mit ihm den „Lear“ spielen und diskutieren muss. Stalin weiß, welche Angst er verbreitet, und er genießt sie und spielt sie aus, Schauspieler auch er. Er verlockt sein Gegenüber zur Rebellion und vernichtet es. Das ungleiche Duell zweier hochintelligenter Männer bietet zwei dankbare Rollen; und das Wissen, dass der Mächtige, der das Spiel zu kontrollieren meint, doch gerade zwei Monate später sein Leben verlieren wird, hält den Kampf lange in der Schwebe.

Problem ist wiederum, dass auch dieses Geschichtsstück von konkreter Geschichte nichts wissen will. Der historische Stalin hatte Freude an der Macht (das war eine Bedingung seines Erfolgs). Er war, sobald seines Erfolgs gewiss, ein Meister gespielter Bescheidenheit, genau wie der Stalin bei Salvatore. Er war aber auch – das fehlt bei Salvatore – ein Produkt konkreter historischer Umstände. Er hatte faktische Probleme zu lösen – vom Aufbau des Sozialismus in einem Land mit Industrialisierung, Verstädterung und Kollektivierung der Landwirtschaft über den Krieg bis zum Wiederaufbau. Es gibt gute Gründe, seine Lösungen zu kritisieren. Ihn als Machtspieler zu zeigen, der in seiner Datsche Vergnügen an der Demütigung eines jüdischen Lear hat, das verkleinert seine Leistung wie seine Problematik ins Private.

Salvatore zielt auf die große Geschichte und kann sie doch nicht fassen. Er greift auf die großen Gattungen zurück und kann sie nicht mit theatralem Leben erfüllen. Dies beweist aber nicht, dass nun modische Postdramatik angesagt sei. Man kann all das, wie so gegensätzliche Dramatiker wie Heiner Müller und Peter Hacks gezeigt haben, auch heute noch besser machen.

Es ist lobenswert, dass der Wallstein Verlag die Edition von Stücken, an denen man immerhin lernen kann, auch heute unternommen hat, wo Stücke kaum noch verkauft und gelesen werden. Ein Kritikpunkt bleibt: Wenn man schon gut 1.100 Seiten mit 14 Dramen druckt, wäre doch der knappe Arbeitstag zumutbar gewesen, den es allenfalls gekostet hätte, Daten von Entstehung, Uraufführung und Erstdruck zusammenzutragen. Was die Jahreszahlen auf den Buchrücken bezeichnen, bleibt dabei ganz unklar. Ein wenig mehr Sorgfalt wäre auch hier besser gewesen.

Titelbild

Gaston Salvatore: Stücke. 2 Bände.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
1122 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783835311466

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