Reisen durch die Unterwelt

Über Cordula Simons Romandebüt „Der potemkinsche Hund“

Von Helmut SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Odessa: „Am 31. August dieses Jahres verstarb Anatol Grigorjevič Ivanov. Am 3. September desselben Jahres stieg er aus dem Grab.“ Die Auferweckung nicht im Frühjahr, sondern Ende Sommer ist als Experiment geplant und durchgeführt von der in ihrer Karriere stecken gebliebenen, allein lebenden Naturwissenschaftlerin Irina Sergejevna Muravenko, die darüber einen Artikel schreiben möchte und davon erhofft, dass „alles, was sie sich jemals gewünscht hatte, würde sich wunderbar ineinander fügen“. Abgelenkt von einem Hund verlässt sie jedoch den Friedhof, bevor Anatol aufwacht, im Bewusstsein gescheitert zu sein.

So beginnt das Romandebüt der 26-jährigen Cordula Simon, die in Graz und Odessa deutsche und russische Philologie studiert hat. Vorweg: Es handelt sich um einen beachtenswerten Romanerstling, witzig, voller fantastischer Bilder und dichter Atmosphäre. Cordula Simon erzählt gekonnt aus verschiedenen Perspektiven, auch aus der des Hundes, ohne dass der Text dabei uneinheitlich wirkt.

Bei Irina liegen der Gedanke an den Teufel und der an den Hund ganz nahe beieinander, so dass des Pudels Kern für Leserin und Leser offensichtlich wird. Irritiert flieht sie in die Geburtsstadt Lenins. Anatol folgt „mangels besserer Ideen“ orientierungslos dem „dreckigen Hintern des Hundes“ in das Zentrum Odessas. Was er sucht, ist „eine Ordnung, auf die er sich verlassen konnte“. Zurecht findet sich Anatol jedoch nicht mehr. Der „Grabmensch“ irrt verschmutzt und ohne Erinnerung durch die trostlosen Straßen Odessas, begleitet nur von dem Hund, den er Celebaka, „Menschenhund“, nennt. Odessa ist gezeichnet als eine Stadt des Verfalls, eines grotesken Kampfes ums Überleben. Anatol, der sich nach und nach von den Nähten befreit, mit denen der Totengräber ihm die Körperöffnungen verschlossen hat, begegnet dabei auf seinem Weg Zigeunerinnen, Marktfrauen, Gangstern und Milizionären, durchwegs Menschen, deren Leben von Armut und Aberglauben, Tristesse und Trägheit bestimmt ist. So surreal diese Geschichte daherkommt, so realistisch wirkt die Darstellung postsowjetischer Zustände. Cordula Simon hat Bulgakov genau gelesen und die Welt, die sie vorstellt, führt zu einem Blick auf eine trostlose Welt dahinter. Anders als beim russischen Klassiker gibt es da keinen Hinweis darauf, dass ein Weg aus dem realem Nihilismus möglich wäre. „Im Dunkel blieb er stecken“, lesen wir als letzten Satz des Romans. Anatols Weg ist eine ungeplante Zeitreise in die Welt einer kafkaesken Bürokratie, die ihm, ob im Krankenhaus oder bei Ämtern, sein Leben nicht gerade erleichtert. Wie bei Kafka wird dabei das Unzeitgemäße sowie das Unmenschliche dem Lachen Preis gegeben.

Die unsichtbare Welt des allgegenwärtigen Aberglaubens, der sich auch die Naturwissenschaftlerin Irina mit ihrer Sehnsucht nach Liebe nicht entziehen kann, kann keinen echten Trost spenden. Wie in der sichtbaren gibt es auch in ihr mehr Kakerlaken als Götter, wobei sich letztere weder hier noch dort sehen lassen. In Uljanowsk (Simbirsk), der Geburtsstadt Wladimir I. Lenins und Ivan A. Gončarovs, lässt sie sich in das Lenin-Museum einsperren, liegt mit „Oblomov“ in Lenins Bett und überlegt, „dass sie masturbieren könnte, in Lenins Bett masturbieren, ob sie die Erste war, die außer ihm auf diese Idee kam?“ Nimmt’s Wunder, dass sie in diesem Zimmer Geister wahrzunehmen und verrückt geworden zu sein meint? Durch das Buch geistern Michail A. Bulgakov und Lenin und Gončarovs „Oblomov“, dessen so menschenfreundliche wie tragische Träg- und Unentschlossenheit Irina erfasst.

Cordula Simon kennt nicht bloß die russisch/ukrainischen Klassiker, sie hört auch die Musik poetisch-regimekritische Musik von Viktor Zoj, die Punkmusiker von Sektor Gaza oder DDT. Den 24 Kapiteln des Romans stellt sie Zitate dieser und anderer Musiker voran, die die Atmosphäre stark mitbestimmen. Die ihnen eigene Mischung von Mystik und Sozialkritik, Romantik und Regimekritik wird so auch Thema des Buches.

Obwohl am Anfang der Geschichte ja eine Auferstehung steht, handelt Simons geschickt komponierter Text von einer Unterwelt, die sich außerhalb des Grabes befindet. Unterwegs in ihr taucht auch die Frage auf: „Ob man sich auf dem Weg in die Unterwelt verlaufen könne?“. Sie ist ein Beispiel für die Sätze, die man in „Der potemkinsche Hund“ unterstreichen könnte. Es gibt etliche davon und dafür muss man der jungen Autorin gratulieren.

Titelbild

Cordula Simon: Der potemkinsche Hund. Roman.
Picus Verlag, Wien 2012.
208 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783854526889

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