Kein Held. Nirgends?

Kafkas Künstler, Söhne, Tiere und andere Protagonisten

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

In Erinnerung an Sylvia Merten geb. Kracht (1948-2012)

Konfessionen gegen literaturwissenschaftliche Vernunft

Wer Wissenschaftler wird, lernt mit den Untersuchungsgegenständen der Wissenschaft distanziert und analytisch umzugehen. Man hält sie von sich fern, man betrachtet sie unter dem Mikroskop, man seziert sie, man experimentiert mit ihnen. Wenn die Untersuchungsgegenstände Lebewesen sind, wenn sie gar Menschen sind, macht man sie gleichsam zu toten Objekten, eben zu Gegenständen. In der Humanwissenschaft Medizin wird der menschliche Körper dann zum idealen Untersuchungsgegenstand, wenn er tot ist. Der Anatomie verdankt die Medizin entscheidende Erkenntnisfortschritte. Wer Wissenschaftler wird, lernt, auch in der Literaturwissenschaft, dass es ein Vergehen gegen fundamentale akademische Tugenden ist, mit den Untersuchungsgegenständen der Wissenschaft nicht distanziert und analytisch umzugehen. Deshalb galt lange Zeit, und gilt zum Teil noch immer, dass ein Autor erst dann ein würdiger Gegenstand der Literaturwissenschaft ist, wenn er tot ist. Eine andere, ungemein beliebte und zum Teil auch erfolgreiche Möglichkeit, die Untersuchungsgegenstände der Literaturwissenschaft zu verobjektivieren, besteht darin, nicht von realen Autoren oder auch Lesern zu sprechen, sondern allein von Texten. Dann gibt es keine Aussagen, Absichten, Anliegen, Ansichten, Wünsche oder Emotionen von Menschen, die etwas geschrieben haben, sondern das alles ist Sache von Texten. Aus Autorenintentionen hat die Literaturwissenschaft Textintentionen gemacht, der Autor interessiert sie nicht als empirische Person, sondern als abstrakte Instanz, als Konstrukt der Textanalyse. Und der Textanalytiker richtet sein Interesse nicht auf den realen Leser, zum Beispiel also auf sich selbst, auf seine persönliche und individuelle Reaktion auf den Text, sondern auf den Adressaten des Textes, auf den impliziten Leser, also wiederum auf ein Abstraktum, über das sich nur über die Analyse von Texten etwas sagen lässt.

Ich erlaube mir trotzdem, wenigstens kurz, von eigenen Lektüreerlebnissen zu erzählen, zu berichten auch über andere Vergehen gegen die literaturwissenschaftliche Vernunft. Diese habe ich erst lange nach dem Lesen von Büchern kennen gelernt – und zum Teil immer noch nicht begriffen. Oder sie einfach nicht begreifen wollen.

Eines der Vergehen gegen den Sündenkatalog literaturwissenschaftlicher Tugendlehren besteht darin, literarische Figuren nicht als künstliche, von Autoren artifiziell geschaffene Konstrukte zu lesen, sondern sie wie lebendige, ganz reale Menschen wahrzunehmen, sich mit ihnen zu identifizieren, sie zu bewundern, sie zu lieben oder auch zu hassen. Als Kind und jugendlicher Leser waren es vor allem die Helden der Literatur, denen ich verfallen war. Die Heldensagen des klassischen Altertums und des Mittelalters bekam ich von meiner Mutter vorgelesen. Odysseus oder den Siegfried der Nibelungen habe ich bewundert und geliebt. Karl May musste ich selbst lesen und habe sie ebenfalls geliebt: Winnetou und Old Shatterhand, auch Old Surehand und Kara Ben Nemsi. Sie waren alle so, wie ich auch gerne gewesen wäre: schlau (wie Odysseus), fast unverletzlich (wie Siegfried), stark, edel und gut (wie Old Shatterhand). Und da es mir im Kino nicht anders ging, füge ich hinzu: lässig, siegessicher, von den männlichen Feinden gefürchtet, von den Freunden zur Rettung der Menschheit auserkoren und von Frauen umschwärmt wie James Bond, als Sean Connery ihn noch spielte.

Doch dann, so ab 16, kam Kafka. Auch seine Protagonisten liebte ich und mit ihnen zusammen (wie bei Karl May) den Autor, aber Kafkas Helden waren eher zum Verzweifeln. Kein Held. Wirklich nirgends, so schien es: ein unschuldig Angeklagter, der sich nicht richtig zur Wehr setzen kann, ein stellenloser Landvermesser, ein in Amerika Verschollener, ein ungeheures, hilfloses Ungeziefer, ein Reisender, der sich in einer Strafkolonie tatenlos, statt dagegen im Namen der Menschlichkeit zu revoltieren, ein Folterinstrument vorführen lässt, ein dressierter Affe, ein blinder Maulwurf, eine singende Maus und so fort.

„Helden“ sind sie allenfalls in jenem neutralisierten Sinn, mit dem der Begriff mittlerweile auch in der Literaturwissenschaft verwendet wird. Sie sind Hauptfiguren oder Protagonisten, aber nicht mehr heroische Gestalten mit außerordentlichen körperlichen, intellektuellen, künstlerischen oder moralischen Qualitäten. In mittelhochdeutschen Texten hat „Held“ seit dem 11./12. Jahrhundert die Bedeutung „kampftüchtiger Mann“, „Krieger“. Zwar sind fast alle Erzähltexte Kafkas Beschreibungen eines Kampfes, in den seine Protagonisten verwickelt sind, eines Kampfes gegen und um Macht und um Anerkennung, doch von „Kampftüchtigkeit“ kann bei ihnen keine Rede sein. Sie alle sind keine Sieger. Kafkas Helden sind Verlierertypen.

Und der Autor? Wie etliche Jahre vor ihm Karl May hat Kafka, wenn auch auf andere Weise und auf gänzlich anderem Niveau, viel dazu getan, dass man als Leser die Protagonisten seiner Werke mit dem Autor identifiziert. Mit K. sind die Nachnamen der Protagonisten seiner Romane „Der Prozess“ und „Das Schloss“ abgekürzt, sie könnten also Kafka heißen. Der Vorname des Protagonisten in Kafkas Romanfragment „Der Verschollene“, bekannt geworden unter dem Titel „Amerika“, beginnt ebenfalls mit einem K. Er heißt Karl Rossmann.

Im Unterschied zu Karl May (1842-1912), der sich selbst als Old Shatterhand inszenierte, hat Kafka sich nie zum Helden stilisiert. Schon seine Protagonisten eignen sich dazu nicht. Und wie andere maßgebliche Schriftsteller der Moderne hat er Abstand genommen von tradierten Bildern, die den Künstler zum Genie, Propheten, Führer, König oder gottgleichen Schöpfer stilisieren.

Kafka nannte 1921 in einem Gespräch mit Gustav Janouch die traditionelle Vorstellung vom Dichter, die Janouch in einem Sonett mit einem typischen Bild veranschaulicht hatte, eine „kleinbürgerliche Konvention“ und „Illusion verborgener Wünsche“: „Sie beschreiben den Dichter als einen wunderbar großen Menschen, dessen Fuße sich auf der Erde befinden, während der Kopf in den Wolken schwindet. Das ist natürlich ein ganz gewöhnliches Bild im Vorstellungsrahmen der kleinbürgerlichen Konvention. Es ist eine Illusion verborgener Wünsche, die mit der Wirklichkeit nichts Gemeinsames hat. In Wirklichkeit ist der Dichter immer viel kleiner und schwächer als der gesellschaftliche Durchschnitt.  Er empfindet darum die Schwere des Erdendaseins viel intensiver und stärker als die anderen Menschen. Sein Gesang ist für ihn persönlich nur ein Schreien. Die Kunst ist für den Künstler ein Leid, durch das er sich für ein neues Leid befreit. Er ist kein Riese, sondern nur ein mehr oder weniger bunter Vogel im Käfig seiner Existenz.“

Was mich an Kafkas Helden und an seiner Person damals dennoch faszinierte, wusste ich nicht so genau. Ganz genau weiß ich es heute noch nicht, aber vielleicht etwas besser. Es gab damals aber noch andere Gründe, Kafka zu lesen. Wenn ich davon kurz erzähle, dann nur deshalb, weil mir inzwischen klar ist, dass diese Gründe doch nicht ganz so privat sind, wie es zunächst erscheinen mag. Ich habe Kafka mit 16 wegen eines Mädchens zu lesen begonnen. Ich mochte dieses Mädchen. Doch da war einer, etwas älter als ich, der mochte sie ebenfalls. Und der erzählte von seiner Kafka-Lektüre. Wenn ich mich noch richtig erinnere, von einer Geschichte, in der sich der Held in einen Käfer verwandelt. Das Mädchen war offensichtlich beeindruckt. Der Name Kafka war mit der Aura des besonders Schwierigen, Geheimnisvollen umgeben. Ihn nur gelesen, auch nur zu verstehen versucht zu haben, war eine intellektuelle Auszeichnung. Da wollte ich mithalten können.

Symptomatisch daran ist: Kafka-Kennerschaft war in bestimmten Milieus, und ist es zum Teil immer noch, auch eine Frage des Prestiges. In den sozialen und symbolischen Abgrenzungskämpfen zwischen sozialen Schichten und Gruppen, wie sie der französische Kultursoziologe Pierre Bourdieu eingehend beschrieben hat, fungierte Kafka-Kennerschaft als sublimer Ausweis der Zugehörigkeit zu einer kulturellen Elite. Wie ich mit 16 glaubte, dass Kafka-Kennerschaft die Chancen im Konkurrenzkampf um dieses Mädchen erhöht, scheint noch unter Erwachsenen, zumal im Kulturbetrieb und erst Recht in der Literaturwissenschaft, Kafka eine ganz besondere Herausforderung, Kafka-Kennerschaft ein besonders begehrter Ausweis intellektueller Potenz und literarisch-künstlerischer, literaturkritischer und literaturwissenschaftlicher Sensibilität zu sein, ein „kulturelles Kapital“, um noch einmal auf einen Begriff von Bourdieu zurückzugreifen, das sozialen Distinktiongewinn (also die Möglichkeit, sich von anderen zu unterscheiden) verspricht. Fast jeder, der in der Literatur- und Literaturwissenschaftsszene Rang und Namen hat, hat sich irgendwann diesen Ausweis zu beschaffen versucht. Das gilt für Schriftsteller, Verleger und erst Recht für Literaturwissenschaftler. Einige andere haben sich ihr Leben lang fast nur mit Kafka beschäftigt und sich damit große Verdienste erworben. Kurzum: Kafka-Kenner avancieren potentiell zu Helden in intellektuellen Milieus.

Dichter als Helden?

Auch von solchem Heldentum scheinen Kafkas Figuren wie auch er selbst weit entfernt. Bei ihm wie bei vielen anderen Autoren der literarischen Moderne sind zusammen mit den Heldenfiguren die Künstlerfiguren einem radikalen Prozess der Entheroisierung unterzogen worden. Zwar gibt es in der Literatur der frühen Moderne, vor allem im Umfeld des George-Kreises, noch einmal angestrengte Versuche eines heroisierenden Dichterkultes, doch darin ist dieser Kreis eher traditionell als modern. Der Kreis erklärte es als seine Aufgabe, den „untergang des bis heute gültigen menschentums, […] des heldisch gehobenen Menschentums“ zu verhindern. Friedrich Gundolf forderte 1912 unter dem Titel „Vorbilder“: Zeiten, „in denen alles zerfließt“, bedürfen der „Heroen“, in denen „sich die kultureinheit wieder“ herstellt. Titel wie „Dichter und Helden“ (Gundolf) oder „Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik“ (Max Kommerell) waren für dieses Programm symptomatisch. Es entsprach nicht mehr den neuen Standards moderner Literatur. Die maßgeblichen Schriftsteller der Moderne haben Abstand genommen von tradierten Bildern, die den Künstler zum Genie, Propheten, Führer, König oder gottgleichen Schöpfer stilisieren.

An der Demontage von Künstler-Bildern als Helden-Bildern arbeiten in den Anfängen des 20. Jahrhunderts auch Schriftsteller und Wissenschaftler, die Biografien schreiben. In die Lebensbeschreibungen berühmter Persönlichkeiten mischen sich um 1900 nachhaltig die Psychiatrie und bald auch die Psychoanalyse ein. Und obwohl sie dazu beitragen, die seit der Antike überlieferten Vorstellungen über den Zusammenhang von Genie und Wahnsinn fortzuschreiben, waren sie gleichzeitig dazu geeignet, tradierte Formen der Helden- und Dichterverehrung zu destruieren. 1928, im selben Jahr wie das Buch des George-Verehrers Max Kommerell mit dem die alten Formen der Dichterheroisierung aufnehmenden Titel „Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik“, erschien das Buch „Genie, Irrsinn und Ruhm“ des Psychiaters Wilhelm Lange-Eichbaum. Zu den Lesern gehörte Gottfried Benn. 1930 veröffentlichte er seine Essays über „Genie und Gesundheit“ und über „Das Genieproblem“. Mit süffisanter Lust an der Infragestellung biografischer Helden- und Heiligenverehrung zählte er die „Genies“ auf, die von Lange-Eichbaum pathografisch erfasst waren. „Leider soffen sie: Opium: De Quincey, Coleridge, Poe. Absinth: Musset, Wilde. Äther: Maupassant (außer Alkohol und Opium), Jean Lorrain. Haschisch: Baudelaire, Gautier…“. Es folgen die Namen der berühmten Alkoholiker, der an arteriosklerotischer Verblödung Gestorbenen, der Epileptiker (van Gogh, Platen, Flaubert, Dostojewsky), der Schizophrenen (Hölderlin, van Gogh, Tasso, Newton, Strindberg, Panizza), der Paralytiker (Manet, Nietzsche, Lenau) und der ihr Leben lang sexuell Abstinenten (Newton, Kant, Menzel).

Die Psychoanalyse hatte sich zu dieser Zeit schon längst an den entheroisierenden Tendenzen der Künstler-Biografik beteiligt. Die zunächst an Patienten erprobten Rekonstruktionen verborgener Teile von Lebensgeschichten weitete sie bald auch auf Biografien berühmter Persönlichkeiten aus. Freuds erster großer biografischer Versuch über Leonardo distanzierte sich ausdrücklich von Tendenz konventionellen Biografik, Hagiografien hervorzubringen. Er bezeichnete sie als Produkt eines „furor biographicus“ und beanstandete, „daß Biographen in ganz eigentümlicher Weise an ihren Helden fixiert sind. Sie haben ihn häufig zum Objekt ihrer Studien gewählt, weil sie ihm aus Gründen ihres persönlichen Gefühlslebens von vornherein eine besondere Affektion entgegenbrachten. Sie geben sich dann einer Idealisierungsarbeit hin, die bestrebt ist, den großen Mann in die Reihe ihrer infantilen Vorbilder einzutragen, etwa die kindliche Vorstellung des Vaters in ihm neu zu beleben. Sie löschen diesem Wunsch zuliebe die individuellen Züge in seiner Physiognomie, glätten die Spuren seines Lebenskampfes mit inneren und äußeren Widerständen, dulden an ihm keinen Rest von menschlicher Schwäche oder Unvollkommenheit und geben uns dann wirklich eine kalte, fremde Idealgestalt anstatt des Menschen, dem wir uns entfernt verwandt fühlen könnten.“

Der infantilen Idealisierungsarbeit, die sich ihre Wunschhelden schafft, begegnen zeitgleich mit der Psychoanalyse Autoren der literarischen Moderne mit einer Entidealisierungsarbeit, die auch vor den Heroen der deutschen Literaturgeschichte nicht halt macht. Thomas Manns Erzählung „Schwere Stunde“ (1905) destruiert ein weithin gültiges Bild der Dichterpersönlichkeit der deutschen Klassik. Das Krankheitsmotiv wird hier nicht ohne humoristische Untertöne eingesetzt. Er „zog hustend die Schöße seines Schlafrockes zusammen […] und schnob mühsam durch die Nase, um sich ein wenig Luft zu verschaffen; denn er hatte den Schnupfen wie gewöhnlich.“ Die Rede ist hier von Friedrich Schiller. Als krank und völlig erschöpft wird er dem Leser vor Augen gestellt. Sein Werk verdankt er der „Zucht und Selbstüberwindung“, mit der er seine Schwäche mit letzter qualvoller Kraftanstrengung zu überspielen vermag. In der 1912 erschienenen Novelle „Der Tod in Venedig“, deren Protagonist zunächst Goethe sein sollte, ist es der erfolgreiche und in der Öffentlichkeit als Vorbild geltende Dichter Gustav Aschenbach, der die Ideale seines bürgerlichen Publikums repräsentiert. Seine sittliche Stärke und Würde werden im Verlauf der Erzählhandlung zunehmend in Frage gestellt.

In der literarischen Moderne entwerfen Autoren mit ihren Texten, Figuren und Protagonisten Bilder von ihrer eigenen Schriftsteller- und Künstlerrolle, die auf alte Ansprüche an Größe, Souveränität und Autonomie verzichten, ja solche programmatisch verwerfen. Alfred Döblins Roman „Wallenstein“ lässt sich als Kontrastprogramm zu jener Auffassung lesen, die der preußische Hofhistoriograf Heinrich von Treitschke im 19. Jahrhundert resonanzreich formuliert hatte: „Personen, Männer sind es, welche Geschichte machen, Männer wie Luther, wie Friedrich der Große und Bismarck. Diese große, heldenhafte Wahrheit wird immer wahr bleiben, und wie es zugeht, daß diese Männer erscheinen, zur rechten Zeit der rechte Mann, das wird uns Sterblichen immer ein Rätsel sein.“ In Döblins „Wallenstein“ werden die Bilder jener Helden, die Geschichte machen, zu Spottbildern. Und wo Döblin Dichter und Künstler imaginiert, geht er ähnlich desillusionierend vor. In Döblins „Zueignung“ zu seinem Roman „Die drei Sprünge des Wang-lun“ sieht sich der fiktive Autor des chinesischen Romans an seinem Schreibtisch bei offenem Fenster dem Lärm der Großstadt ausgesetzt. Der Text reflektiert die veränderten Bedingungen, unter denen sich das Autor-Subjekt in der literarischen Moderne zu schreiben anschickt:

„Daß ich nicht vergesse –
Ein sanfter Pfiff von der Straße herauf. Metallisches Anlaufen, Schnurren, Knistern. Ein Schlag gegen meinen knöchernen Federhalter.
Daß ich nicht vergesse –
Was denn?
Ich will das Fenster schließen.
Die Straßen haben sonderbare Stimmen in den letzten Jahren bekommen. Ein Rost ist unter die Steine gespannt; an jeder Stange baumeln meterdicke Glasscherben, grollende Eisenplatten, echokäuende Mannesmannröhren. Ein Bummern, Durcheinanderpoltern aus Holz, Mammutschlünden, gepreßter Luft, Geröll. Ein elektrisches Flöten schienenentlang. Motorkeuchende Wagen segeln auf die Seite gelegt über den Asphalt; meine Türen schüttern. Die milchweißen Bogenlampen prasseln massive Strahlen gegen die Scheiben, laden Fuder Licht in meinem Zimmer ab.
Ich tadle das verwirrende Vibrieren nicht. Nur finde ich mich nicht zurecht.“

Ähnlich desorientiert und ohnmächtig sind die Dichter- und Künstlerfiguren in vielen anderen Werken Döblins.

Kafkas Kunst der Selbstverkleinerung

In der Destruktion tradierter Helden- und Künstlerbilder wird Döblin wohl nur von einem Autor der Moderne an Radikalität übertroffen: von Franz Kafka. Es gibt keinen Autor, der sich mit seinen Figuren und auch mit seinen außerliterarischen Äußerungen als Schriftsteller und als Person so systematisch und konsequent klein gemacht hat wie Kafka. Klein im wörtlichen und metaphorischen Sinn. Klein bis zum Verschwinden. Der Autor und der Erzähler verschwinden in Kafkas Texten. Die Protagonisten reduzieren sich im „Prozess“ und im „Schloss“ auf das Kürzel K. Im Verlauf von Kafkas Geschichten wachsen die Protagonisten nicht und machen keine Aufwärtsentwicklung durch, sondern sie werden kleiner, schmaler, schwächer, erfolgloser, sinken tiefer. Kafka ist, das hat ihm später Thomas Bernhard nachgemacht, ein Übertreibungskünstler. Und seine Übertreibungskunst, für deren oft groteske Komik deutsche Leser – anders als französische – lange Zeit kein angemessenes Sensorium hatten, ist nicht zuletzt eine Kunst der Verkleinerung seiner Protagonisten. Sie geht mit der Vergrößerung von Kontrastfiguren einher, die in den Texten als Antagonisten fungieren. In der Parabel „Vor dem Gesetz“ wird der Mann vom Lande, dem der mächtige Türhüter keinen Einlass zu gewähren scheint, kindisch und klein. Und bevor er stirbt, heißt es: „Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannes verändert.“ Die Prosaskizze „Eine kaiserliche Botschaft“ hebt den Kontrast von Kaiser und Untertan gleich zu Beginn so hervor: „Der Kaiser – so heißt es – hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet.“

Kafkas „Brief an den Vater“ enthält zwei Personenporträts, die einander wechselseitig erhellen und kontrastiv gegenüberstehen: ein Selbstporträt und ein Porträt des Vaters. Der Sohn charakterisierte sich selbst mit Merkmalen, die im Gegensatz stehen zu den Merkmalen, die er dem Vater zuschreibt. Der Vater: ein ungemein vitaler, lebenskräftiger, starker und selbstbewusster Mann; der Sohn: ein schwacher, lebensuntauglicher, kränklicher Mensch, ohne Selbstvertrauen, gequält von permanenten Schuldgefühlen und Ängsten. „Ich mager, schwach, schmal, Du stark, groß, breit.“ Durch solche Gegenüberstellungen ist der Brief zu weiten Teilen strukturiert. „Vergleiche uns beide: ich, um es sehr abgekürzt auszudrücken, ein Löwy [der Familienname der Mutter] mit einem gewissen Kafkaschen Fond, der aber eben nicht durch den Kafkaschen Lebens-, Geschäfts-, Eroberungswillen in Bewegung gesetzt wird, sondern durch einen Löwy’schen Stachel, der geheimer, scheuer, in andere Richtung wirkt und oft überhaupt aussetzt. Du dagegen ein wirklicher Kafka an Stärke, Gesundheit, Appetit, Stimmkraft, Redebegabung, Selbstzufriedenheit, Weltüberlegenheit, Ausdauer, Geistesgegenwart“. Der Vater ist tyrannisch, launisch, extravertiert, robust und skrupellos; der Sohn dagegen ein introvertierter Hypochondrist: „Mich beschäftigte nur die Sorge um mich, diese aber in verschiedenster Weise. Etwa als Sorge um meine Gesundheit; es fing leicht an, hier und dort ergab sich eine kleine Befürchtung wegen der Verdauung, des Haarausfalls, einer Rückgratsverkrümmung und so weiter, das steigerte sich in unzählbaren Abstufungen, schließlich endete es mit einer wirklichen Krankheit. Aber da ich keines Dinges sicher war, von jedem Augenblick eine neue Bestätigung meines Daseins brauchte, nichts in meinem eigentlichen, unzweifelhaften, alleinigen, nur durch mich eindeutig bestimmten Besitz war, in Wahrheit ein enterbter Sohn, wurde mir natürlich auch das Nächste, der eigene Körper unsicher; ich wuchs lang in die Höhe, wußte damit aber nichts anzufangen, die Last war zu schwer, der Rücken wurde krumm; ich wagte mich kaum zu bewegen oder gar zu turnen, ich blieb schwach; staunte alles, worüber ich noch verfügte, als Wunder an, etwa meine gute Verdauung; das genügte, um sie zu verlieren, und damit war der Weg zu aller Hypochondrie frei, bis dann unter der übermenschlichen Anstrengung des Heiraten-Wollens das Blut aus der Lunge kam“.

Zur Schwäche und sozialen Minderwertigkeit, die Kafka sich selbst und seinen Figuren zuschreibt, gehört nicht zuletzt die Unfähigkeit, der Mangel an Kraft, zu heiraten. Zu Zeiten Kafkas gilt, gerade auch im Umkreis jüdischer Kultur, ein Mann erst dann als richtiger Mann, wenn er eine Familie gründet und ernährt. Diesen Männlichkeitsnormen entsprechen weder Kafka noch seine literarischen Figuren. Und sie leiden darunter. Kafkas Protagonisten sind allesamt Junggesellen und kinderlos. „Blumfeld, ein älterer Junggeselle“ heißt ein Erzählfragment. (Eine deutsche Pop-Gruppe hat sich den Namen zu eigen gemacht.) Der Protagonist leidet unter der Einsamkeit seiner trostlosen Jungegesellenexistenz, ist jedoch zugleich unfähig, die Anwesenheit anderer, und sei es nur die eines Hundes, zu ertragen. „Das Unglück des Junggesellen“ heißt eine andere Prosaskizze. Sie beginnt mit den Sätzen: „Es scheint so arg, Junggeselle zubleiben, als alter Mann unter schwerer Wahrung der Würde um Aufnahme zu bitten, wenn man einen Abend mit Menschen verbringen will, krank zu sein und aus dem Winkel seines Bettes wochenlang das leere Zimmer anzusehen, immer vor dem Haustor Abschied zunehmen, niemals neben seiner Frau sich die Treppe hinaufzudrängen […] fremde Kinder anstaunen zu müssen und nicht immerfort wiederholen zu dürfen: ‚Ich habe keine.‘“

Sozial gescheiterte und skurrile Existenzen führt Kafka in seinen Junggesellenfiguren vor. Doch Vorsicht! Die Prosaskizze beginnt mit dem unscheinbaren Wort „scheint“. „Es scheint so arg, Junggeselle zubleiben…“. Es scheint nur so. Die Junggesellenexistenz ist in Kafkas Werken und autobiografischen Schriften Vorraussetzung und Begleiterscheinung der Künstlerexistenz. Ihre gleichsam zölibatäre und reine Einsamkeit wird nicht nur erlitten, sondern sie ist Bedingung für das literarische Schreiben.

Warnungen an die Geliebte

Von diesen Ambivalenzen und Konflikten handelt der gesamte Briefwechsel mit Felice Bauer. Am 13. August 1912 begann es, dieses sich über fünf Jahre hinziehende, tragische und komische Beziehungsdrama, aus dessen Beschreibung Elias Canetti später einen so erhellenden wie spannenden Essay gemacht hat und der noch heute in Kafka-Biografien einen großen Raum einnimmt. Die Briefe haben vielfach den Charakter einer Beichte, stehen unter dem Diktat eines Geständniszwangs: dem Zwang, eigene Schwächen schonungslos offen zu legen, und zwar vornehmlich die Schwächen, die seine eigentliche Identität als Schriftsteller ausmachen. Man weiß als Leser der Briefe oft nicht recht, wozu diese Litanei von Selbstbezichtigungen mehr dient: ihn, den Schriftsteller, für eine Ehe untragbar erscheinen zu lassen und somit die Ehe zu verhindern oder der potentiellen Ehefrau von vornherein Nachsicht gegenüber schwer erträglichen „Eigenheiten“ abzufordern. „Was sagst Du aber, liebste Felice, zu einem Eheleben, wo, zumindest während einiger Monate im Jahr, der Mann um 1/2 3 oder 3 aus dem Bureau kommt, isst, sich niederlegt, bis 7 oder 8 schläft, rasch etwas isst, eine Stunde spazieren geht, dann zu schreiben anfängt und bis 1 oder 2 Uhr schreibt. Könntest Du denn das ertragen? Vom Mann nichts zu wissen, als dass er in seinem Zimmer sitzt und schreibt? Und auf diese Weise den Herbst und den Winter verbringen? Und gegen das Frühjahr zu den Halbtoten an der Tür des Schreibzimmers empfangen und im Frühjahr und Sommer zusehn, wie er sich für den Herbst zu erholen sucht? Ist das ein mögliches Leben?“

Kafka scheint mit den Briefen bei Felice die Garantie zu suchen, dass sie, sollte es zur Ehe kommen, alle seine Schwächen, die mit der Fixierung auf Literatur zu tun haben, akzeptiert. Zwischen den Zeilen steht die Botschaft: ‚Wenn du mich geheiratet hast, wirst du mich akzeptieren müssen, wie ich bin. Denn ich habe dich ja immer wieder gewarnt. Du wolltest es nicht anders. Nicht ich bin schuld, sondern du, wenn es dir in der Ehe mit mir schlecht geht.‘ Mitte Juni 1913 schreibt er den Brief, der zum ersten Mal ausdrücklich um ihre Hand bittet. Es dürfte einer der seltsamsten sein, die je zu diesem Zweck geschrieben wurden. Der erste Teil stammt wohl vom 10. Juni. Er führt zunächst ein weiteres Hindernis an, das zwischen ihm und ihr stehen könnte: den Arzt und die eigene Kränklichkeit. Das nimmt sich, bedenkt man die Umstände, unter denen die Beziehung Jahre später endgültig abgebrochen wird, wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung aus. Der Briefteil endet mit den Sätzen: „Aber zu langem Zögern ist nicht mehr Zeit, wenigstens fühle ich das so, und deshalb frage ich also: Willst Du unter der obigen, leider nicht zu beseitigenden Voraussetzung überlegen, ob Du meine Frau werden willst? Willst Du das?“ Zögernder und doppeldeutiger kann eine derartige Frage kaum gestellt werden.

Noch im selben Brief, der um Felices Hand anhält, beginnt Kafkas von nun an zäh geführter Kampf gegen die Verlobung. Über mehrer Seiten hinweg zeichnet er ein erschreckendes Bild von seiner Person, das eines beweisen soll: dass er „für den menschlichen Verkehr verloren“ und „für das Alleinsein geboren“ ist. Aber, als ob das als Argument nicht ausreiche, fügt er noch hinzu: „ich komme auch mit mir nicht aus, außer wenn ich schreibe.“ Es folgt die Bilanz: „Nun bedenke, Felice, welche Veränderung durch eine Ehe mit uns vorginge, was jeder verlieren und jeder gewinnen würde. Ich würde meine meistens schreckliche Einsamkeit verlieren und Dich gewinnen, die ich über allen Menschen liebe. Du aber würdest Dein bisheriges Leben verlieren, in dem Du fast gänzlich zufrieden warst. Du würdest Berlin verlieren, das Bureau, das Dich freut, die Freundinnen, die kleinen Vergnügungen, die Aussicht, einen gesunden, lustigen, guten Mann zu heiraten, schöne, gesunde Kinder zu bekommen, nach denen Du Dich, wenn Du es nur überlegst, geradezu sehnst. Anstelle dieses gar nicht abzuschätzenden Verlustes würdest Du einen kranken, schwachen, ungeselligen, schweigsamen, traurigen, steifen, fast hoffnungslosen Menschen gewinnen, dessen vielleicht einzige Tugend darin besteht, dass er Dich liebt. Statt dass Du Dich für wirkliche Kinder opfern würdest, was Deiner Natur als der eines gesunden Mädchens entsprechen würde, möchtest Du Dich für diesen Menschen opfern, der kindlich, aber im schlimmsten Sinne kindlich ist und der vielleicht im günstigsten Fall buchstabenweise die menschliche Sprache von Dir lernen würde.“

Auch den Vater von Felice gedachte Kafka bald mit solchen Argumenten zu traktieren, um in ihm einen Verbündeten im Kampf gegen die Verlobung zu gewinnen. In einer Tagebuchaufzeichnung vom 21. August 1913 entwirft er einen Brief an ihn. Hier steht der schon zitierte Satz: „Mein Posten ist mir unerträglich, weil er meinem einzigen Verlangen und meinem einzigen Beruf, das ist der Literatur, widerspricht.“ Der Satz ist in diesem Zusammenhang auch als Warnung zu verstehen, die Tochter einem Mann zu überlassen, dessen Einkommen auf Dauer nicht unbedingt gesichert ist. Als Beispiel für die vollkommene Untauglichkeit zur Ehe beschreibt Kafka weiterhin seine Situation in der Familie: „Nun, ich lebe in meiner Familie, unter den besten und liebevollsten Menschen, fremder als ein Fremder.“ Der Grund dafür ist wieder die Bindung an die Literatur: „Alles, was nicht Literatur ist, langweilt mich und ich hasse es, denn es stört mich oder hält mich auf, wenn auch nur vermeintlich. Für Familienleben fehlt mir dabei jeder Sinn, außer der des Beobachters im besten Fall. Verwandtengefühl habe ich keines, in Besuchen sehe ich förmlich gegen mich gerichtete Bosheit. Eine Ehe könnte mich nicht verändern, ebenso wie mich mein Posten nicht verändern kann.“

Kleine Literatur und Tiere

Kafkas Selbstverkleinerungs- und Selbstherabsetzungsrhetorik konnte auch da, wo es um seine Existenz und Tätigkeit als Schriftsteller ging, groteske Formen annehmen. „Nur nicht überschätzen, was ich geschrieben habe“, redete er sich ein. Seinem Verleger Kurz Wolff sagte er: „Ich werde Ihnen immer viel dankbarer sein für die Rücksendung [gemeint ist: Ablehnung] meiner Manuskripte als für deren Veröffentlichung.“ Dem entspricht der Umgang mit dem, was er schrieb. Einen großen Teil davon vernichtete er selbst. Seinem Freund Max Brod trug er testamentarisch auf, die etwa 3.400 Seiten umfassende Hinterlassenschaft an Tagebuchaufzeichnung und literarischen Fragmenten zu beseitigen. „Auf jede Manuskriptseite, die er der Überlieferung für wert hielt, kamen zehn, vielleicht zwanzig Seiten, die vernichtet sehen wollte. Alle literarischen Projekte, die über den Umfang einer Erzählung hinausreichten, scheiterten.“ (Rainer Stach) Klein ist Kafkas Literatur nicht zuletzt auch in dem Sinn, dass seine Prosatexte oft nur wenige Zeilen lang sind. Klein ist aber auch der Gesamtumfang dessen, was Kafka selbst als abgeschlossen einschätzte und veröffentlichte. Zur Größe des späteren Ruhmes steht der Umfang von insgesamt etwa 350 veröffentlichten Druckseiten in einem grotesken Missverhältnis.

Das Verfahren, sich als Künstler bzw. Schriftsteller zu verkleinern, ist seinen zu Lebzeiten veröffentlichten wie auch den nachgelassenen Texten deutlich eingeschrieben. Die Protagonisten der Romane und der Erzählungen „Das Urteil“, „Die Verwandlung“ oder „In der Strafkolonie“ scheinen zwar keine Künstlerfiguren sein, sind es aber doch. Die Zeichen, die darauf verweisen sind allerdings so versteckt oder beiläufig gesetzt, dass sie leicht übersehen werden. Die Protagonisten werden immer wieder als Schreibende in Szene gesetzt: Georg Bendemann schreibt im „Urteil“ zu Beginn einen Brief. Und zwar an den Freund in Russland, dessen Junggesellenexistenz wiederum eines der bei Kafka wiederkehrenden Bilder der Schriftstellerexistenz ist. Joseph K. schreibt an einer großen, autobiografischen Schrift zur Rechtfertigung seiner selbst. K. im Schloss verfasst diverse Brief und Eingaben. Das Folterinstrument in der Strafkolonie ist eine große Schreibmaschine. Karl Rossmann in dem Amerika-Roman wird im letzten Kapitel des Fragments durch ein Plakat verlockt, das „Künstler“ sucht.

In den Texten, in denen unverborgen eine Künstlerfigur im Zentrum steht, wird diese durch verschiedene Verfahrensweisen verkleinert. In der Künstler-Erzählung „Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse“ ist der fiktive Erzähler eine anonyme Maus und die Künstlerin, über die er erzählt und in deren Problemen überdeutlich Kafkas eigene wiederzuerkennen sind, ist ebenfalls eine Maus. In der Erzählung „Der Bau“ ist dieser Bau Bild eines Kunstwerkes. Es geht um den Bau eines Maulwurfs, dessen Werk der Selbsterhaltung dient. Unsere Kultur und die Literatur in ihr konstruiert auch die Tiere in werthierarchischer Ordnungen. In der Literatur können zweifellos auch Tiere vorbildliche Heldenfiguren abgeben, doch heroische Konnotationen haben eher Löwen oder Adler als Mäuse, Maulwürfe, Ratten oder Affen. In der Erzählung „Ein Hungerkünstler“ ist am Ende von einem Panther die Rede. Doch der ist nicht der Protagonist des Textes. Er tritt vielmehr an seine Stelle und stiehlt dem Hungerkünstler die Show. Die Öffentlichkeit interessiert sich für den Künstler immer weniger. Im Zirkus steht sein Käfig nicht mehr als Glanznummer mitten in der Manege, sondern „in der Nähe der Stallungen“. Für die Besucher wird er bald nur noch zum „Hindernis auf dem Weg zu den Ställen“, bis er, vollkommen isoliert, deklassiert und entkräftet, stirbt, samt dem Stroh begraben wird und endlich einem jungen, vitalen Panther Platz macht. Auch wo Kafkas Protagonisten keine Tierfiguren sind, werden sie oft mit Tieren verglichen. Joseph K. hat als Sucher und Verteidiger der Gerechtigkeit durchaus das Zeug zu einer heroischen Figur, doch entsprechenden Erwartungen wird er nicht gerecht. Er unterwirft sich am Ende den Instanzen der Macht wie ein Hund. Seine Hinrichtung entbehrt aller Merkmale eines Heldentodes. Der letzte Satz des Romans lautet: „‚Wie ein Hund!‘, sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.“ Mit der fast völligen Unterordnung unter die strafende Macht ist K. am Ende jenem Kaufmann Block ähnlich geworden, der zuvor in der hündischen Unterwürfigkeit gegenüber seinem Advokaten ein beschämendes Bild abgegeben hatte: „Das war kein Klient mehr, das war der Hund des Advokaten. Hätte ihm dieser befohlen, unter das Bett wie in eine Hundehütte zu kriechen und von dort aus zu bellen, er hätte es mit Lust getan.“

Die Differenz zwischen Tier und Mensch ist dem aufgeklärten Humanismus heilig wie kaum etwas anderes. Sie zu unterlaufen gehört zum Repertoire jener Schock- und Provokationstechniken, mit denen sich die ästhetische Moderne gegenüber den übermächtigen Traditionen des deutschen Idealismus und der klassischen Ästhetik profilierte. Und sie gehört zu den Techniken, die Kafka verwendete, um tradierte Helden- und Dichterbilder zu destruieren und dabei auch sich selbst zu verkleinern. Dieser Autor hat sich klein gemacht, wo es nur ging.

Maskenspiel der Macht

Aber dies war auch eine strategisches Maskenspiel, seine durchaus vorhandenen Ansprüche auf Größe und Macht zu tarnen und dadurch umso wirksamer durchzusetzen. Man unterschätzt Kafkas Machtansprüche und Größenfantasien, wenn man seinen Selbststilisierungen folgt. Hinweise auf solche Ansprüche und Fantasien finden sich in seinen Schriften und literarischen Texten immer wieder. Der junge Protagonist des Amerika-Romans kann sie sich nur mit einer Schamhaftigkeit eingestehen, die wohl auch für den Autor kennzeichnend ist: „Karl erhoffte in seiner ersten Zeit viel von seinem Klavierspiel und schämte sich nicht, wenigstens vor dem Einschlafen an die Möglichkeit einer unmittelbaren Beeinflussung der amerikanischen Verhältnisse durch dieses Klavierspiel zu denken.“ Über sich selbst schrieb Kafka einmal: „Ich habe von den Erfordernissen des Lebens gar nichts mitgebracht, soviel ich weiß, sondern nur die allgemeine menschliche Schwäche. Mit dieser – in dieser Hinsicht ist es eine riesenhafte Kraft – habe ich das Negative meiner Zeit, die mir ja sehr nahe ist, die ich nie zu bekämpfen sondern gewissermaßen zu vertreten das Recht habe, kräftig aufgenommen.“ Hinter solchen Sätzen steht kein geringerer Anspruch als der, ein Repräsentant seiner Zeit zu sein.

Aufschlussreicher noch als solche ausdrücklichen Hinweise sind allerdings andere Phänomene in Kafkas Werken. Sie betreffen die von diesem Autor literarisch aufgebauten Beziehungen zu seinen Lesern. Kafkas literarische Techniken gezielt eingesetzter Mehrdeutigkeiten und Verrätselungen bauen eine Beziehung zum Leser auf, die diesen in eine Position der Hilflosigkeit und Ohnmacht bringen, in eine Rolle des ohnmächtig Deutenden drängen. Dieser Positions- und Rollenzuweisung sind seine Leser, Literaturwissenschaftler und Psychoanalytiker eingeschlossen, massenhaft gefolgt, meist ohne die Mechanismen dieser Rollenzuweisung und ihre psychischen wie sozialen Implikationen eingehender zu reflektieren.

Ein Spiegelbild seiner Rolle erhält der Leser in den Bemühungen von Kafkas Protagonisten, die widersprüchlichen und rätselhaften Texte und Zeichen patriarchaler Machtinstanzen zu interpretieren. Im „Urteil“ sind es die Reden und Verhaltensweisen des Vaters, die besonders interpretationsbedürftig sind. Als Autor nimmt Kafka selbst diese Position der undurchschaubaren, unzugänglichen Autorität ein. Die um die Auflösung der Rätselhaftigkeit bemühten Leser befinden sich ihm gegenüber in der Position von ewigen Söhnen oder Töchtern, die sich der Autorität seiner Texte nur annähern können. Wie Kindern muss ihnen der Autor-Vater in seiner überlegenen, gottgleichen Größe unverständlich bleiben. Diese Autoritätsposition des Autors wird jedoch durch jenes Signalsystem überdeckt, dass eine Identität von Autor und Sohn suggeriert. Indem man als Leser für den Sohn und Protagonisten, dessen Perspektive der Autor dominieren lässt, und gegen den Vater Partei ergreift, glaubt man, auch für den realen Autor Partei ergreifen zu müssen. Als selbst vaterähnliche Autorität entzieht sich der Autor dadurch möglichen Aggressionen. Vielleicht lassen sich Kafkas Werke beziehungsanalytisch einerseits gleichsam als ‚Briefe‘ an imaginierte Väter oder auch Mütter verstehen, bei denen der Autor mit dem Gestus eines unschuldigen und bemitleidenswerten Kindes um Verständnis wirbt. Andererseits lassen sich diese Werke jedoch auch als Instrumente verstehen, mit denen Kafka für sich selbst eine Position undurchschaubarer und dadurch schwer angreifbarerer Macht aufbaut.

So gesehen, wiederholt sich in der durch den Text inszenierten Autor-Leser-Beziehung etwas von jenem Rollenwechsel in der Erzählung „Das Urteil“, bei dem der Sohn zum Vater und der Vater zum Kind wird. Der Rollenwechsel gelingt in der Erzählung nur kurzfristig. Die Wirkung der Worte des Vaters, der seinen Sohn zum Tod des Ertrinkens verurteilt, sind gewaltig. Eine ähnliche Wirkung versuchte allerdings der Autor Kafka auf seine Leser auszuüben. Und dies ist ihm durchaus gelungen. Der Machtanspruch des Autors Kafka war, im wörtlichen Sinn, gewaltig, als er erklärte, ein Buch müsse uns wie ein Faustschlag auf den Schädel wecken, es müsse auf uns wirken „wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt“, es müsse „die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“. Ein geradezu archaisch anmutendes Heldenbild lässt sich mit solchen Formulierungen assoziieren: Kämpfer mit Faust und Axt. Kafka also insgeheim ein Old Shatterhand? Faust und Axt sind in Kafkas Äußerungen natürlich Metaphern. Die Waffe des modernen Autor-Helden ist sein Text.

Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, der in mehreren Versionen gehalten wurde. Eine etwas ausführlichere Fassung ist unter dem Titel „Kafkas Helden der Moderne“ erschienen in: Franz Kafka – Visionär der Moderne. Hg. von Marie Haller-Nevermann und Dieter Rehwinkel. Wallstein Verlag, Göttingen 2008. S. 139-154. Einige Teile greifen zurück auf Thomas Anz: Franz Kafka. Leben und Werk. München 2009 (überarbeitete Neuausgabe in der Reihe C.H. Beck Wissen des zuerst 1989 erschienenen Buches).