Studien zu Kafkas Religiosität
Über Gernot Wimmers Sammelband „Franz Kafka zwischen Judentum und Christentum“
Von Gerhard Müller
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDass Franz Kafka in religiöser Hinsicht dem Judentum (Westjudentum) zuzurechnen sei, ist seit den erläuternden Schriften Max Brods, spätestens seit dem „Kafka-Handbuch“ Hartmut Binders (1979) bekannt. Und in Klaus Wagenbachs Kafka-Monografie (1973) heißt es, „seine religiöse ,Entwicklung‘, wenn man davon überhaupt sprechen kann, [schritt][…] stets in Richtung auf das Judentum voran – das Christentum hat in ihr kaum eine Rolle gespielt“.
Der hier vorzustellende Band von Gernot Wimmer bemüht sich darum, „Kafkas Position zum Judentum bestimmbar zu machen“. Er ist plausibel gegliedert, indem er drei Sektionen einschließt: Deren erste, „Sozialisation“ überschrieben, enthält vier eher biografisch orientierte Beiträge; die zweite, „Theologie“, bringt ihrem Titel gemäß drei Beiträge zu theologischen Fragen (wobei sich hier nach Meinung des Rezensenten die interessantesten Partien des Bandes finden), und im dritten Teil, „Interpretation“, gehen vier Autoren verschiedenen Aspekten des Kafka’schen Prosawerks literaturwissenschaftlich-interpretatorisch nach. Insgesamt also elf eigenständige Beiträge, die in einer Rezension wie dieser nicht im Einzelnen referiert werden können (ohnehin ist es schwer, Sammelbände angemessen zu rezensieren), sodass es mir erlaubt sei, Akzente zu setzen.
I. Sozialisation: Christoph Gellner bemüht sich, Kafkas „Bezüge zur jüdischen Tradition, die im Werk allgegenwärtig sind“, zu erhellen, und wirft „einen Blick auf den im Widerstreit zwischen verschatteter Glaubensüberlieferung und jüdischer Assimilation, zwischen Ost- und Westjudentum, Religiosität und Säkularität, Chassidismus und Zionismus stehenden Kafka“. Roman Halfmann geht von den antisemitischen Ausschreitungen in Prag 1920 aus: „Zweifellos begann auch Kafka sich angesichts dieser Krawalle unter Druck gesetzt und damit jüdischer denn je zu fühlen […]. Die Ausschreitungen führten dazu, dass Kafka sich verstärkt mit seinem Jüdischsein auseinandersetzte“. Lesenswert ist insbesondere der lange Beitrag Bernd Neumanns über Kafkas Verhältnis zu Milena Jesenská, wobei auch viel zu Fragen des Christentums gesagt wird, was allerdings nicht christliches Denken bei Kafka betrifft, sondern vielmehr seine Reflexionen beziehungsweise seine Position in dieser Beziehung: er als Prager Deutscher und Jude, sie als Tschechin und Christin. „Die ,christliche Tschechin‘ hatte […] in den vergangenen Jahren die kurzzeitige Rückkehr von Kafkas Assimilationshoffnungen bewirkt, die nunmehr in einer tschechisch dominierten Republik angesiedelt waren“. An dieser Stelle wird auch deutlich, dass der Titel des Sammelbandes – „Franz Kafka zwischen Judentum und Christentum“ – überzogen und missverständlich ist; eine irgendwie geartete Zwischen- oder Mittlerstellung von Kafkas Religiosität liegt nicht vor; dass er sich mit dem Christentum immer wieder auseinandergesetzt hat, ist offenkundig, aber doch ein anderer Aspekt. Gernot Wimmer geht anschließend „unter besonderer Berücksichtigung der jüdischen Glaubensrelevanz“ der „Frage nach der genaueren soziologischen Positionierung“ Kafkas nach, wobei er sich weitgehend auf den „Brief an den Vater“ bezieht.
II. Theologie: Während Thorben Päthes Beitrag „Judentum und Christentum – Gemeinsamkeiten und Unterschiede“ hauptsächlich generell informierend ist, befasst sich Manfred Voigts ausführlich und konkret mit „der Frage, auf welche Weise die literarischen Texte Kafkas mit seiner Identität als Jude in Zusammenhang stehen. […] Es soll hier also der Widerspruch zwischen dem, auch durch den jüdischen Selbsthass gekennzeichneten, Westjudentum Kafkas und seiner Talmud-Rezeption als Zentrum seiner Text-Produktion nachgewiesen werden“. Voigts führt aus: „Das Besondere Kafkas bestand darin, dass er die Widersprüche, die im Westjudentum vorhanden waren, in aller Klarheit und Härte empfunden und auf seine besondere Art literarisch gestaltet hat“. Und: „Die Tatsache, dass er in keiner der jüdischen Strömungen eine Identität finden konnte, war für ihn die Voraussetzung seiner literarischen Produktion“. Detaillierter geht Voigts auf Kafkas „Nähe zum talmudischen Denken“ ein. Für den Rezensenten ein informativer und anregender Beitrag. Als Theologe äußert sich anschließend Jochen Schmidt in einem knapp gehaltenen Aufsatz zu „Anklängen an die Struktur theologischer Problemstellungen oder Denkbewegungen“ bei Kafka.
III. Interpretation: Bis auf den letzten Beitrag des Bandes stehen die im Kern textinterpretatorisch gehaltenen Aufsätze vor dem Hintergrund religiös bezogener Fragestellungen. Zuerst geht Tomislav Zelić auf die rätselhafte Figur des Odradek in dem kurzen Prosatext „Die Sorge des Hausvaters“ ein, danach befasst sich Theo Elm ausführlich mit dem Schlusskapitel des Romans „Der Verschollene: ,Das Teater von Oklahoma. Die Kulissen der Religion und die Ikonographie der Literatur‘“. Besonders die Bibelbezüge werden differenziert thematisiert, wobei Elm „die ironische Vernichtung der religiösen Sinnbezüge“ heraushebt.
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