Siechendes China

Dai Sijie stellt in seiner Geschichtensammlung „Der kleine Trommler“ eisige Poesie gegen geistige Nivellierung

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dai Sijie wagt es, gegen die kommunistische Herrschaft in China aufzubegehren. Der 1984 nach Paris emigrierte Schriftsteller, für dessen Werke in China ein Publikationsverbot erlassen wurde, wird nicht müde, mit mutigen Worten gegen die hinter „majestätisch-pompösen und von proletarischer Romantik geprägten Schilderungen“ verborgene geistige Nivellierung und Zensur der Probleme in China zu kämpfen. Drei Geschichten, drei tragikomische Leben im Reich der Mitte umfasst sein neustes Buch – „Der kleine Trommler“.

Die drei Kurzgeschichten führen den Leser auf die „Insel der Edlen“. Dort leben – zwischen von Rost zerfressenen Container-Slums, einer gigantischen und nach verbranntem Kunststoff riechenden Elektronikschrotthalde sowie einem künstlichen Stausee der Insel – Menschen, an denen die „Segnungen des sozialistischen Systems“ vorbeigeeilt sind. Sie befinden sich unter der Armutsgrenze. Und obwohl in China noch heute die Führung in Peking bestimmt, wer arm ist, treffen hier Armut und Reichtum schonungslos aufeinander und bilden die Ausgangslage für die zahlreichen Konflikte in den Kurzgeschichten. Menschenhandel, Willkür der Justiz, Todesstrafe, ein von Krankheiten gezeichnetes Leben wie vor der industriellen Revolution – und das im Jahr 2002 –: Dai Sijie nimmt kein Blatt vor den Mund, um auf die Ungleichheiten in dem sich schnell wandelnden und gesellschaftlich auseinanderdriftenden Land hinzuweisen.

Die erste Kurzgeschichte beginnt mit dem Auftauchen eines Fremden in der Containerstadt der Insel, der Direktor des örtlichen Gefängnisses kommt zu den Ärmsten, um den progeriekranken Neffen einer stummen Alten zu kaufen. Er braucht den kranken Jungen, um einen Häftling zu ersetzen. Denn der vergreiste Junge sieht einem politischen Häftling in der Todeszelle seiner Bezirkshaftanstalt erstaunlich ähnlich – man hätte ihn aber auch „für einen siechen alten Affen halten können“.

Der Junge muss rostige Handschellen und schwere Ketten tragen und lernt seine Rolle als zum Tode verurteilte Nummer 9413. Er denkt dabei, es sei nur ein Spiel, sein Training für einen großen Auftritt im Zirkus, doch er irrt. In der zweiten Geschichte muss die Tochter des Stauseewärters oberhalb des Umerziehungslagers „Morgenröte“ miterleben, wie ihre Mutter nach einer Bleivergiftung ihre Erinnerungen verliert, sich die Behandlung in einem überfüllten Krankenhaus nicht leisten kann und plötzlich verschwindet.

Die durch Schwermetalle vergifteten Wasserreservoirs der Insel riechen manchmal wochenlang nach Verwesung. Und in einem See findet das Mädchen schließlich einen menschlichen Oberschenkelknochen. In der dritten Kurzgeschichte entzieht der wirtschaftliche Aufschwung einer Schmiedin die Lebensgrundlage: „Die Lage hatte sich rapide verschlechtert, seit die Insel der Edlen sich auf das Recycling von elektronischen Abfällen konzentriert hatte.“ Noch einmal tritt sie an das Feuer und den Amboss, um eine Kette zu schmieden für ihren wahnsinnigen Sohn, „der über Frauen herfällt, Häuser anzündet, brüllt und heult“. Sie legt ihn in Fesseln, eine Heilanstalt wäre zu teuer. Seinen Verstand hat der Sohn verloren wegen der „Giftstoffe im elektronischen Müll“.

Doch „tadellos und mit größter Diskretion“ erfüllen die Herrschenden ihre Aufgaben und erfreuen sich an den Statussymbolen des westlichen Kapitalismus: Der Gefängnisdirektor fährt einen glitzernden Audi, auf der Bahre des Gerichtsarztes, der Hingerichteten direkt nach der Exekution Organe entnimmt, steht „made in Germany“ – ein „supermoderner Operationstisch“, wird angemerkt. Doch „in eine tiefe Depression“ fallen die Insel-Bewohner nicht. Asbestminenarbeiter und Arbeiter, „deren vom Silizium zerstörten Lungen platzten“, richten ihren Blick auf den golden riffelnden Min-Fluss, chinesische Malerei als Fluchtoption in die Welt des Geistes.

Dai Sijie bedient sich der Sprachverliebtheit der jahrtausendealten chinesischen Kultur, um mit eisiger Poetik und bezaubernder Leichtigkeit eine erbarmungslose, erschütternde Welt zu schaffen, in der mit stoischer Ruhe das Schicksal akzeptiert und schnell vergessen wird. Wie Gleichnisse sind die poetischen Bilder Sijies zu lesen: Wenn die Eisfläche auf dem „Morgenröte“-Stausee von Schlittschuhkufen vollständig zerkratzt ist, weil die Tochter des Wärters Taubenfiguren ins Eis ritzt, gießt ihr Vater Wasser auf das Eis, um eine spiegelglatte Fläche zu erhalten. Diese Metapher für die Risse in der Gesellschaft und die Versuche der kommunistischen Führung, mit Umverteilung und neuen Steuern den Ärger der verarmten Landbevölkerung zu dämpfen ist nur ein Beispiel für die kunstvollen dunklen Schatten, die Sijie über die Wege der Insel kriechen lässt. Rauch verschleiert die vom Amboss der Schmiedin „aufsteigenden Funkenkringel der Hammerschläge“. Die ins Feuer blickende Schmiedin sieht in den Flammen beinahe den Glanz des ewigen, wahren Chinas – in „schmelzende[n] gläserne[n] Armreifen, wie lauter kleine, zähflüssige Nachtsonnen“. Die humanistische Gelehrsamkeit des alten Reiches blitzt auf, doch die weißglühende Kette braucht die Mutter nur, um den wahnsinnigen Sohn zu fesseln.

Mit solch faszinierender sprachlicher Raffinesse fesselt „Der kleine Trommler“ seinen Leser. Am Ende sollte klar sein: Kultur ist Luxus, zuerst muss das Überleben gesichert werden – auch im postolympischen China der Gegenwart. „Er war inmitten von Elektroschrott aufgewachsen, und nun fiel es ihm schwer, sich neuen Horizonten zu öffnen.“ Sijie will Horizonte öffnen, indem in seinem Buch keine Blicke abgewendet und Geheimnisse verdeckt werden. „Der kleine Trommler“ wirkt wie ein Schuss aus der Büchse des Stauseewärters. Der Rückstoß der drei Kurzgeschichten ist so heftig, dass man sich die Augen reibt und nicht versonnen den Rauchwölkchen nachblickt. Es darf gehofft werden, dass der Schuss gehört wird und es nicht zu schnell wieder still wird.

Titelbild

Dai Sijie: Der kleine Trommler. Drei chinesische Geschichten.
Übersetzt aus dem Französichen von Eike Findeisen.
Piper Verlag, München 2012.
151 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783492054935

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