Ein Liebhaber des Halbschattens mehr

Fridolin Schley kritisiert die Literaturkritik von W. G. Sebald nicht ganz überzeugend

Von Markus JochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Joch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So gewaltiges Ansehen der Erzähler W. G. Sebald genießt, so verrufen ist der polemische Literaturkritiker, besser bekannt als moralisierender „Literaturpfaffe“ (Lothar Baier). 2010 beschrieb ihn der Germanist Manfred Durzak gar als „manisches Phänomen“. Missliebige Autoren für verrückt zu erklären, zeugt von einem Affektniveau, vor dem sich der jüngste Verächter, Fridolin Schley, Jahrgang 1976, gefeit glaubt. Obwohl er ans vertraute Bashing anschließt, versichert Schley, die Positionierungen des Literaturkritikers nicht zu bewerten, sondern lediglich ihre unbewussten Feldstrategien freizulegen. Es soll eine nüchterne Dissertation mit Bourdieu werden, „die Studie intendiert keinen Denkmalssturz“. Nur macht sie sich sogleich daran.

Schnell gerät die der akademischen Legitimation geschuldete Beteuerung in ein schiefes Verhältnis zum Sündenregister, demzufolge Sebald methodisch entgleist, wüst attackiert, sich in Schmerzensposen eines Heiligen wirft, profitiert, bedient, einstreicht, abgreift und so weiter. Die „kritische Analyse“ infiziert sich merklich am Gegenstand, ganz wie die Kollegenschelten aus Norwich will sie ausschließlich Fehlleistungen und Eigennutz sehen. Teilweise aber gründet die Abneigung auf einleuchtenden Argumenten.

Zu einfach macht es sich Sebald etwa in seiner Dissertation. Die steile These zu Alfred Döblin, die Gewaltdarstellungen der Romane hätten dem heraufziehenden Nationalsozialismus unwillentlich zugearbeitet, erweist sich als spekulativ. Und dem Weimarer Publizisten politische Orientierungslosigkeit, gar Opportunismus nachzusagen, heißt, eine Konstante zu übersehen, das Sympathisieren mit der pro-republikanischen, unorthodoxen Linken. Woher der früh sich abzeichnende Hang, sofort Wankelmut und Scheinopposition zu unterstellen, überhaupt charakterliche Defizite? Schley erkennt darin den Versuch, die eigene Autorschaftsfigur zu profilieren, das implizite Gegenmodell des wahrhaft kritischen Häretikers, der mit dem Entzaubern kanonisierter Größen auch ihre germanistischen Lobredner herausfordert.

Die Unkosten indirekter Selbstaufwertung steigen, als Sebald die narrative Anlage seines Welterfolgs „Die Ausgewanderten“ (1992) zur Norm erhebt: Ein mit Zügen des Autors versehener Erzähler, freiwilliger Exilant, dient Überlebenden der Shoah als Vermittler ihrer Erinnerungen, arbeitet dokumentarisches Material ein, wenn auch mit Fiktionalitätssignalen durchsetzt − so und nur so darf vom Zivilisationsbruch geschrieben werden.

Offensichtlich spricht der Schriftsteller mit, wenn der Literaturwissenschaftler fast zeitgleich Jurek Becker bekrittelt, dessen Erzähler in „Jakob der Lügner“ (1969) es an emotionaler Präsenz fehlen lasse, das Elend im Ghetto von Lodz überdies nicht drastisch genug rapportiere. Abwegige Vorwürfe, wendet Schley zu Recht ein, denn weder lag Becker daran, klaffende biografische Wunden vorzuzeigen, noch ging es seinem Roman primär um möglichst authentisches Erinnern. Im Gegenteil, Plot und Titel wollten doch auf die Kraft der Halbwahrheit hinaus.

Warum die (aus dem Nachlass stammende) Becker-Schelte alles andere als ein Ausrutscher ist, erläutert Schley klug. Verquere, da selbstbezogene Wertungskriterien verweisen auf Sebalds Strategie, die „Zugangsvoraussetzungen zum Subfeld Holocaust-Literatur“ zu „exclusivieren“. Wer anders schreibt als „Max“ (Winfried Georg schien ihm ein typischer Nazi-Name), schreibt mangelhaft. Die unduldsame Linie verfolgt Sebald im literarischen wie literaturwissenschaftlichen Feld mit einer gewissen Raffinesse. Die Positionierungen des Schriftstellers und des Germanisten sind aufeinander abgestimmt; der eine erfüllt, was der andere in der deutschen Nachkriegsliteratur demonstrativ vermisst, der eine liefert das Angebot für die vom anderen geschaffene Nachfrage.

Zugleich inszeniert sich dieser Autor in beiden Feldern als unbestechlicher Außenseiter, der, „quasi-vertrieben von den postfaschistisch unterwanderten Nachkriegsjahrzehnten“, dem verkommenen Literaturbetrieb der Heimat absagt. Nur wer kompromisslose Randständigkeit beweist, ist den Marginalisierten wahlverwandt genug, darf auch als deutscher Nichtjude über jüdische Schicksale schreiben, essayistisch wie literarisch, nur der Held der Peripherie bringt die dafür nötige Empathie mit.

Wie sich das erzählende und nichterzählende Werk wechselseitig helfen, meißelt Schley schön heraus und ist auch deshalb ein Verdienst, weil die ,bourdieusiens‘ zu selten felderübergreifend arbeiten. Doch leider durchzieht seine Studie ein Kurzschluss, vor dem man Promovenden am besten schon in der Betreuungsphase warnt: Verfolgt ein Autor Eigeninteressen, müssen seine Urteile über Kollegen falsch sein. Diese fixe, der Theorie des literarischen Feldes fremde Idee führt an der Pointe vorbei. Konkurrenzzentrierte Kritik kann durchaus Erkenntnis abwerfen. Vorausgesetzt, sie misst die Konkurrenten nur an deren eigenem Programm, die Gruppe 47 zum Beispiel am Anspruch auf historischen Klartext.

1983 registriert allein der böse Blick aus England, wie trostreich Grass’ „Tagebuch einer Schnecke“ (1972) von der Danziger Judenvertreibung handelt. Ihre getreue Dokumentation wird garniert mit der fiktiven Geschichte des Nichtjuden Hermann Ott, eines unbeugsamen Helfers der Minderheit, vorbildlich sozialdemokratisch gesinnt sowieso. An der „retrospektiven Wunschfigur des Autors“ entziffert Sebald eine unter deutschen Nachkriegsliteraten verbreitete Tendenz. Von Nationalsozialismus und Judenhass konnten sie selten erzählen, ohne die Leser mit Fabeln vom „stillen Heldenleben“ widerständiger Deutscher zu erbauen und der Kundschaft so eine Auseinandersetzung mit dem Banaleren, den Deformationen durch Selbstangleichung, zu ersparen. Auf 50 Prozent Aufklärung kamen 50 Prozent Süßstoff, den der Quertreiber als Erster beim Namen nennt, ohne zu ahnen, welche biografische Hypothek Grass abzutragen hatte.

Dass in diesem Fall Informationen aus der Vita für das Erhellen trüber Autor-Leser-Beziehungen entbehrlich waren, bringt Schley in Erklärungsnot; es passt nicht ins Feindbild vom „Biographisten“ Sebald. Darauf lässt er sich nun mal nicht reduzieren. Und wenn er dubiose Verhältnisse zwischen Leben und Werk ansprach, dann im berüchtigtsten Fall aus guten Gründen. Was weiten Teilen der Germanistik als Abgrund an Biografismus gilt, der Angriff auf Andersch (1993), wirkt wie ein Muster an Schlüssigkeit, verglichen mit den vernebelnden Gegenreden, die Schley aufwärmt.

In den „Kirschen der Freiheit“ präsentierte sich Andersch als Innerer Emigrant und kleiner Widerständler, weil Deserteur. Ausgespart blieb im „Bericht“ eine Erzählung mit reichlich Blut-und-Boden-Vokabular (1942), die Akkreditierung in der Reichsschrifttumskammer (RSK) als Nebenerwerbsschriftsteller, vor allem die dafür nötige Scheidung von der halbjüdischen Ehefrau (1943). Sebalds Textbefund – Selbststilisierung mit gezielten Auslassungen, die wenig Widerständiges zum Verschwinden bringen – trifft zu, während Schleys Formulierung von üblichen „Verschiebungen und Verdichtungen“ so treuherzig wie unscharf ausfällt. Unverzeihlich selbstgerecht, ignoriere Sebald ein erklärtermaßen wunschbiografisches Erzählen. Zu dem Rettungsring griff die Andersch-Gemeinde schon Mitte der Neunziger, dumm nur, dass er löchrig bleibt. „Erzählung spielt eine Möglichkeit durch“, Anderschs bekannte Sentenz zum Denken im Konjunktiv, legitimiert den Roman, dem sie entstammt, „Winterspelt“, das dezidierte Planspiel von 1974. Sie ist schwerlich rückprojizierbar auf den Bericht, eine entschieden faktual auftretende Erzählung, im Zeichen jenes forcierten Wahrheitsanspruchs, den Andersch in der unmittelbaren Nachkriegszeit erhob.

„Aufgabe der deutschen Literatur: revolutionärer Realismus“ („Der Anti-Symbolist“, 1947) – die vollmundigen Töne stachelten Sebald allererst an. Also erlaubte er es sich, anders als die Gemeinde, die 1990 ans Licht gekommenen Fakten der Vita mit der Autobiografie abzugleichen. Und deren Extremselektionen als Parodie aufs Programm zu betrachten. Eine Ungeheuerlichkeit, Germanistik ohne Schnarchgeräusche.

Um die Störung als grundloses Eifern abtun zu können, lässt Schley das Programm des frühen Andersch unter den Tisch fallen – so pflegen auch die routinierteren Apologeten zu verfahren (V. Wehdeking, D. Lamping). Jetzt aber liest man gar, nicht ohne Verblüffung, der Newcomer von 1952 habe sich „zum Typus desjenigen erklärt, der in der Diktatur passiv blieb und somit politisch versagt hat“. Eine interessante Aussage. Ihr korrekter Anteil – aus dem politischen Rückzug zwischen 1933 und 1944 machte Andersch keinen Hehl – kippt sogleich ins Falsche.

Als Versagen wollte der Berichterstatter seine „totale Introversion“ im ,Dritten Reich’ nicht verstanden wissen. Im Gegenteil, statt sie einfach der Angst nach der KZ-Haft zuzuschreiben – einem nur verständlichen Gefühl, das er an einer Stelle auch ansprach, die Sebald wiederum als seltenes Exempel der Offenheit würdigte –, legitimierte Andersch den Rückzug aus der KPD über. Als reiche eine KZ-Haft allein nicht aus, machte unser Realist aus maximal sechs Wochen Haft drei Monate und imaginierte einen SS-Brigadeführer Eicke, der ihm in Dachau den Revolver angedroht habe. Eicke traf jedoch erst nach Anderschs Entlassung in Dachau ein. Beide Dramatisierungen sind seit 2008 bekannt – Schley entgeht, dass Sebald gar nicht wusste, wie recht er mit dem Vorhalt der Selbststilisierung hatte. (Im Übrigen haben R. Seubert und E. Mather an der Faktizität von KZ-Haft und Desertion begründete Zweifel vorgebracht.)

Das Hochspielen selbst mag man als lässliches, da unnötiges Renommieren einstufen, Schleys diesbezügliche Unkenntnis jener Art Schnitzer zurechnen, die gerade in einer materialreichen Qualifikationsschrift vorkommen können. Und doch, ans unfreiwillig Komische grenzt die Behauptung, Anderschs Erinnerungen an den Nationalsozialismus glichen im Ganzen einer Selbstkritik. Seine Demut als Erzähler bestand darin, die Anpassung an die RSK zu überspringen, umso ausführlicher auf die Desertion von 1944 einzugehen und diese als seinen „ganz kleine[n] private[n] 20. Juli“ zu feiern. Während Sebald eine narrative Gewichtung schillernder Art erkannte, verlieren die „Kataloge der Wahrheit“ selbst über die berühmteste, aus der Fahnenflucht Dissidenzkapital schlagende Formulierung kein Wort – sonst stellte sich womöglich die Einsicht ein, dass der Biografist par excellence Andersch hieß.

Auch wenn es um die Verteidigung des ersten Romans geht, bewährt sich Schley als Liebhaber des Halbschattens, der ein umstrittenes Werk so diskret beleuchtet, dass seine Problemzonen unsichtbar bleiben. An „Sansibar oder der letzte Grund“ (1957) beanstandete Sebald bekanntlich eine „umgeschriebene Lebensgeschichte“: Mit der erbaulichen Story vom Ex-Kommunisten Gregor, der sich in eine schöne Jüdin verliebt und sie vor den Nazis rettet, mache der Ex-Kommunist Andersch aus dem Protagonisten „den Helden, der er selber nie gewesen ist“. Für Schley ein banausisches Bekritteln, Zeichen „eines bis an die Grenzen des Naiven veralteten methodischen Zugriffs“, da sich a) die Gleichsetzung von Autor und literarischer Figur verbiete, b) eine fiktionale Laborsituation vorliege, in der eine Wunschbiografie zu platzieren völlig legitim sei, noch unproblematischer als im Bericht.

Was plausibel klingt (Eigenlogik des Fiktionalen) und man Sebald rituell entgegengehalten hat, erweist sich näher betrachtet als Proseminar-Weisheit, die von den Spezifika des Erfolgsromans absieht. Erneut wird der Unterschied zwischen einer für die Leser transparenten Wunschbiografie („Winterspelt“) und einer intransparenten (erst die „Kirschen“, nun „Sansibar“) bagatellisiert. Beachtenswert ist die Differenz auch im Bereich literarischer Fiktion, wie ein vorderhand ähnlich gelagerter Fall verdeutlichen mag.

Als Peter Weiss für die „Ästhetik des Widerstands“ ein proletarisches Roman-Ich erfand, machte er in einem Begleitinterview mit der „Zeit“ (1975) den Widerstand seines Alter ego im ,Dritten Reich‘ als „Wunschautobiographie“ kenntlich (daher stammt das Zauberwort). So schloss er, bei allen Überschneidungen zwischen literarischer Figur und Autor-Person, Missverständnisse aus. Auf derlei Klärung hat der Verfasser von „Sansibar“ ,verzichtet‘. Er begnügte sich damit, die heldische Figur des Gregor durch eine Merkmalskette mit seiner durch die Autobiografie bekannten Autor-Person zu verbinden (gleichaltrig, beide von der Passivität der KPD angewidert, mit hoch entwickeltem Kunstsinn gesegnet, überdies firmiert Gregors Ausstieg aus der Partei ständig als „Desertion“ und „Fahnenflucht“). Da der Romancier selbst eine Haltungsnähe zwischen literarischer Figur und Autor suggerierte, lud er Sebald geradezu ein, beide Größen in Bezug zu setzen und hervorzuheben, dass ihr Verhalten in einem sensiblen Punkt (Rettung/Nicht-Rettung) abweicht. Den Einwand der Beschönigung auch an den Romancier zu adressieren war daher weniger naiv als der Vorlage adäquat.

Ene Beziehung zwischen Autor und Figur ernstlich leugnen mag freilich auch Schley nicht; sicherheitshalber greift er auf die wohlwollende Deutung zurück, wonach wir in der Kluft zwischen Fabel und Vita ein „indirektes Schuldbekenntnis“ sehen sollten, nichts Anstößiges (so schon I. Heidelberger-Leonard 1995). Dazu nur so viel: Ein Familienminister fährt mit 140 km/h durch eine geschlossene Ortschaft. Anschließend erklärt er, es waren 40. Als die 140 ans Licht kommen, würdigt ein Parteifreund die „40“ als „indirektes Schuldbekenntnis“.

Spätestens wenn Schley der Wunschhermeneutik folgt, verhält sich sein Argumentationsstil symmetrisch zu dem des jungen Sebald. Dessen Magisterarbeit zu Carl Sternheim weist er überzeugend nach, Leben und Werk allzu flink engzuführen: Selbstbetrügerische Bühnenfiguren werden kurzerhand als Symptom für eine Überassimilation des jüdischen Dramatikers genommen, voyeuristische Protagonisten als Beleg für eine verklemmte Autorenpsyche. Aufs schlicht Brachiale antwortet Schley im Andersch-Kapitel mit schlicht Bequemem: Autor-Figur-Beziehungen zu problematisieren ist grundsätzlich vorwissenschaftlich respektive kunstfremd, und zeichnet sich denn doch Irritierendes ab, haben wir noble Motive des Autors vorauszusetzen. Ist das die Alternative, kann die Germanistik als Partyservice anheuern.

Ergiebiger wäre es gewesen, an Anderschs Erzählen Gewinn und Verlust biografisch rückgebundener Lektüre abzuwägen. So angemessen der unfeine Ansatz dem Frühwerk war – dort liegt die Überkompensation von Lebensgeschichte auf der Hand –, so zweifelhaft war Sebalds Prämisse: ,Einmal moralisch gefehlt, für immer schlechter Schriftsteller‛. Damit verkannte der Störenfried die Modifikationsfähigkeit von Andersch, eine Ästhetik der Scham, zu der er später (1967) mit dem „Efraim“-Roman fand (wo er in der Negativfigur des Keir Horne, obgleich nur verschlüsselt, den eigenen Egoismus im Nationalsozialismus objektivierte).

Lernen können hätte Schley von Uwe Schütte, der Sebalds Methode 2011 auf die Formel „Kenntlichmachung durch provokante Übertreibung“ gebracht hat. Sie trifft die Qualität des Umgangs mit Andersch sehr genau. Überzogen, eine Diffamierung, war die Entwertung des Gesamtwerks, erhellend die Kritik der Frühschriften, auf deren Fragwürdigkeiten die deutschsprachige Germanistik ohne den Weckruf aus England nicht einmal aufmerksam geworden wäre.

Warum verpassen die „Kataloge der Wahrheit“ die Chance, Qualitätsunterschieden in der Polemik wie im attackierten Œuvre nachzuspüren? Warum wird stattdessen die eine en bloc heruntergeschrieben, das andere hoch? Des Schreckensmanns Einseitigkeit nur umzukehren, hat mit einem blinden Fleck zu tun. Seine eigene Position im literaturwissenschaftlichen Feld zu erfassen, fällt Schley schwer.

Je verlässlicher er den Anti-Biografismus nachbetet, desto überzeugter hält er sich für einen Ketzer, der „zum ersten Mal“ Sebalds „bislang fast unbehelligt“ gebliebene Literaturkritik hinterfragt. Der Ministrant als Häretiker – das ist ein erheiternder Auftritt, zumal nach den vielen Abwertungen des „Literaturpfaffen“ in den letzten 20 Jahren. Welten trennen den Gratismut von der Risikofreude eines Sebald. Mit den biografisch orientierten Analysen wählte dieser die in der Zunft verpönteste Außenseiterposition. Wittert Schley darin nichts als Selbstinszenierung, beschreibt er in schönster Projektion sein eigenes Werk, eine Simulation von Häresie.

Woher die Fremd- und Selbstverkennung rührt, lässt der zum Teil wackelige Einsatz der Feldtheorie erkennen. Da ist zunächst die Semantik: Sebald „gibt“ den Außenseiter, verschreibt sich „scheinbar“ der ethischen wie ästhetischen Wahrheit, doch „unter dem Deckmantel der Aufklärung“ profiliert er „vor allem“ sich selbst – der Jargon der Uneigentlichkeit verzerrt den Begriff, den er veranschaulichen soll. Unter einer Posture versteht man die öffentliche und erfolgreiche Inszenierung des Autoren-Selbst, wie Schley weiß. Allein, in seinem Mund nimmt der deskriptive Terminus, der nur den Sinn für distinktive Auftrittseffekte bezeichnet, nicht ,Entlarvungen‘ dient, die Konnotation von falschem Spiel an, reiner Pose. Der Adept spricht von Inszenierung und meint Getue.

So übersieht man natürlich, dass Sebalds Außenseitertum eine zur Schau gestellte Haltung und zugleich eine reale Position war, der Herausforderer sich durch die Abwertungen konsekrierter (geweihter) Autoren Feinde sonder Zahl machte, besonders mit dem Interesse am Biografischen in Kauf nahm, im literaturwissenschaftlichen Feld symbolisches Kapital zu verlieren. Dass es das seit den Sechzigern am wenigsten prämierte Interesse ist, war ihm klar: „[…] dann kann es einem passieren, dass Sie verachtet werden, vor allem von Ihren Kollegen. Das gilt als unseriös.“ (Interview vom 22.2.2000) Der Mann scherte sich einfach nicht ums Manierliche, was ihm die Bravsten unseres Faches begreiflicherweise übel nahmen und nehmen. Umso besser werden ihnen die „Kataloge“ gefallen.

Wenn Schley meint, eine „völlig neue Bewertung“ des „geheiligten“ Autors zu bieten, einem Heer blinder Verehrer die Augen zu öffnen, registriert er allein die vom Autor im literarischen Feld eingenommene, seit Mitte der neunziger Jahre dominante Stellung. Er ignoriert die zeitlebens dominierte Position in der Literaturwissenschaft. Woraus nicht etwa ein Wille zur Halbblindheit spricht, sondern das unbewusste Interesse des Entzauberers, sich den Glauben an den Wert der eigenen Mission, des eigenen Kampfes zu bewahren. Die illusio (Bourdieu, „Regeln der Kunst“) hindert an der einfachen Einsicht, dass an Sebalds Literaturkritik das „Biographismus- und Rigorismus“-Etikett haftet wie „Black & Decker“.

Genau sieht Schley dagegen, nach welcher Logik dieser Autor arrivierte Kollegen ins Visier nahm. Nicht allein, dass es die ihm politisch relativ oder sehr nahe stehenden Schriftsteller waren (gemäßigt linke wie Grass, unorthodox linke wie Becker und Andersch), zuvorderst diejenigen, mit denen er ums legitime Erzählen von Nationalsozialismus und Antisemitismus wetteiferte. Mehr: Je größer die Nähe im Feld, desto höher der Aggressiongrad.

Letzterer kulminierte bezeichnenderweise, als es gegen Andersch ging, denn der sollte ja, nach dem Umzug ins Tessin (1958), auch noch ein Pseudo-Exilant sein. Die Logik der Objektwahl nachgezeichnet zu haben ist die beachtlichste Leistung einer Dissertation, die sich auf einem Niveau cum laude bewegt. Auch war es überfällig, die Arroganz der Aggressionen aus Nähe anzusprechen. Sebalds Unwille, an den Arrivierten auch nur ein gutes Haar zu lassen, konnte einem auf die Nerven gehen. (Pointieren können hätte man noch, dass er die Möglichkeit, dass es mit dem Erzähler Andersch seit dem Umzug in die Schweiz aufwärts ging, nicht einmal ins Auge fasste.)

Doch so ungewöhnlich, ja skandalös, wie die „Kataloge“ insinuieren, ist der unnachsichtige Umgang mit den Altvorderen nicht, am allerwenigsten in Sicht der Feldtheorie. Mit Bourdieu zu sprechen, stellt er nur ein markantes Beispiel dar für den „Kampf zwischen denjenigen, die Epoche gemacht haben und ums Überdauern kämpfen, und denjenigen, die ihrereits nur Epoche machen können, wenn sie diejenigen aufs Altenteil schicken, die Interesse daran haben, die Zeit anzuhalten“. Die Feldtheorie selbst beschreibt den Zwist zwischen Neuankömmlingen und kanonisierten Produzenten als Konstante des literarischen Feldes wie auch als Motor seines Wandels. Da Schley sich dessen zwar deklamatorisch bewusst ist, aber das Gewusste nicht konsequent auf sein Material bezieht, geraten ihm zwei Aspekte völlig aus dem Blick.

Zum einen trafen die Unschuldslämmer Grass und Andersch in Sebald nur auf ihresgleichen, was die Herablassung anbelangt. Sie selbst verhöhnten während ihrer Aufstiegsphasen ältere Autoren, wo sie nur konnten – der Blechtrommler die Inneren Emigranten, der revolutionäre Realist die Exilanten des ,Dritten Reichs’. Zum anderen waren die Übertreibungen, Andersch betreffend, die Kehrseite einer Differenzqualität, die den Schriftsteller Sebald auszeichnete. Wenn dieser stets eine Erzählerstimme wählte, die die Rede jüdischer Figuren nur indirekt wiedergab, „um ein, zwei Ecken herum“, solcherart die Distanz zwischen dem nichtjüdischen Erzähler und den Biografien der jüdischen Opfer betonte, hob er sich bewusst von der narrativen Anmaßung Anderschs ab, der sich mit Null- und internen Fokalisierungen immer wieder an die Stelle jüdischer Figuren setzte. Das tangentiale Verfahren selbst kennt Schley natürlich, nur von wem es sich absetzte, erkennt er nicht.

Wer, statt die Produktivität symbolischer Aggressionen zu berücksichtigen, die Feldtheorie partout als Überführungsinstrument verwenden will, kommt schon mal auf die Idee, harsche Urteile zu geweihten Autoren auf Bourdieus Ressentimentbegriff zu bringen. Der aber ist an die Aussichtslosigkeit des Erfolgs gebunden, die bei Sebald zu keinem Zeitpunkt vorlag. Richtiger schon ist die Beobachtung, dass in den wiederholten Attacken auf große Namen der Wunsch steckte, ihr symbolisches Kapital zu beerben und Aufmerksamkeit zu attrahieren. Die Denkmalsstürze darauf zu reduzieren ist allerdings zu simpel und auch deshalb wenig ratsam, weil Schley hier sein Betriebsgeheimnis ausplaudert.

Um Aufmerksamkeitsgewinn geht es ihm von der ersten Seite an (wozu der Rezensent gern beiträgt). Beseelt ist die Posture der Kühnheit von der Erwartung, dass vom kessen Literaturwissenschaftler ein wenig Glanz auf den Nachwuchserzähler fällt. Das ist eine pfiffige Akquise symbolischen Kapitals. Nichts Verwerfliches, nur eine unbewusste Strategie.

Anm.: Eine Kurzfassung des Textes ist im „Tagesspiegel“ erschienen.

Titelbild

Fridolin Schley: Kataloge der Wahrheit. Zur strategischen Inszenierung von Autorschaft bei W. G. Sebald.
Wallstein Verlag, Göttingen, Niedersachs 2012.
525 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783835309609

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