Eine verwickelte Handlung und eine schöne Sprache

Der nächste Band der Oßmannstedter Ausgabe der Werke von Christoph Martin Wieland ist erschienen, wieder ohne Kommentare

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Komm, laß dich nieder zu uns auf diesen kanapee,
Und, statt zu rufen, ich seh, ich seh,
Was niemand sieht als du, erzähl‘ uns fein gelassen
Wie alles sich begab. Sieh, wie mit lauschendem mund
Und weitgeöffnetem aug die hörer alle passen,
Geneigt zum gegenseit‘gen bund
Wenn du sie täuschen kannst sich willig täuschen zu lassen?
Wolan! so höret dann die sache aus dem grund.“

So setzt ein Erzähler an, das Chaos der ersten Seiten doch ein wenig zu lichten: das Hauen und Stechen, des „Ritters gutes schwert, der Heyden blinkende Säbel“, der taumelnde Tanz der durch einen Ton aus Oberons Horn Verzauberten, das Unglück der Liebenden, die dann „hülflos, nackt, am öden ufer irren; / Ihr lager eine kluft, mit einer handvoll dürrren / Halbfaulem Schilf bestreut, und beeren wilder art / Die kärglich hier und dort an kahlen hecken schmoren / All ihre Kost!“ Aber: „Noch hat ihr elend nicht die höchste stuf‘ erreicht“. Es ist ein großes Durcheinander, das man kaum versteht. Deswegen ist auch der Einwurf so nötig, an die Muse gerichtet: „Doch, Muse, wohin trägt dich die adlersschwinge / Der hohen trunknen schwärmerey? / Dein hörer steht bestürzt, er fragt sich wie ihm sey, / Und was du siehst sind ihm geheimnisvolle dinge.“

Mit Wucht fängt so eine Verserzählung an, die über 240 Seiten lang die Geschichte von Hüon erzählt, einem jungen Ritter, der den intriganten Sohn von Karl dem Großen in Notwehr erschlägt, ein „Gottesgericht“ übersteht, indem er einen Zweikampf gewinnt, und vom wütenden Kaiser trotzdem verbannt wird, es sei denn, er bestehe eine weitere Probe: Er soll die Tochter des Kalifen von Bagdad dreimal als seine Verlobte öffentlich küssen, bei einem Bankett den Mann erschlagen, der links vom Sultan sitzt, und ein paar Barthaare und vier Backenzähne des Kalifen mitbringen – dann sei er wieder willkommen. Eine unmögliche Aufgabe, eigentlich. Aber Hüon, der etwas von dem reinen Toren Parzival an sich hat, macht sich frohgemut auf den Weg.

Dann wird die Handlung ein wenig verwickelter. Im Libanon trifft er Scherasmin, einen Einsiedler, der ihm als Knappe und Diener folgt, nachdem er früher schon Diener bei Hüons Vater gewesen war, danach begegnet er Oberon, der ihm ein Horn und einen goldenen Becher schenkt. Wenn Hüon in allerhöchster Not in das Horn bläst, wird Oberon ihm zur Hilfe eilen, und außerdem verzaubert der Ton des Horns alle, die nicht reinen Herzens sind, und verurteilt sie zum ekstatischen Tanz. Und der Becher füllt sich immer von selbst mit einem guten Rotwein, der den Rittern neue Kraft verleiht. Mit diesen Gaben besteht Hüon mehrere Abenteuer, findet seine große Liebe, eben die Kalifentochter Rezia, die sich auch in ihn verliebt, sie meistern die Aufgaben und können fliehen.

Allerdings gibt es noch eine zweite Handlung, die für den Verlauf wichtig ist: Oberon und Titania haben sich wegen eines untreuen Menschenehepaares zerstritten und Oberon gelobte, sich nicht wieder zu versöhnen, bis „ein getreues paar, vom schiksal selbst erkohren, / Durch keusche lieb‘ in Eins zusammen fließt, / Und, probefest in leiden wie in freuden […] / Der ungetreuen schuld durch seine unschuld büßt“. Nun sollen Hüon und Rezia, die inzwischen getauft wurde und Amanda heißt, bis zur Eheschließung in Rom keusch bleiben und so die Menschentreue wieder beweisen.

Dummerweise halten sich die beiden nicht dran, sondern erliegen ihrer Lust. Erst nach vielen und vielfältigen Abenteuern, die noch ganz in der Tradition der Barockromane stehen, wo immer mal wieder ein Sturm kommt, der die Liebenden trennt, ein paar Sklavenhändler, eine einsame Insel, die doch nicht ganz einsam ist, ein Serail und so weiter – nach vielen Abenteuern und Zufällen aber bestehen sie doch eine weitere Prüfung, als sich nämlich der Sultan Almansur und seine Frau in Amanda beziehungsweise Hüon verlieben: Denn jetzt sind sie „entschlossen, eh‘ den tod in flammen zu erwählen, / Als ungetreu zu seyn selbst einem thron zu lieb‘!“ Und damit bringen sie die erwünschte Erlösung für Oberon.

Obwohl der Stoff aus einem Ritterroman und den abstrusen Barockabenteuerromanen entnommen ist, ist doch der Ton, den Wieland hier virtuos anschlägt, ein gänzlich anderer. Elegant, spielerisch und voller geistesfunkelndem Witz erzählt er diese Liebesgeschichte voller Wunder und Unwahrscheinlichkeiten. Auch ironisch, denn der Wein aus dem goldenen Becher hilft nicht nur den Männern, sondern einmal auch dem etwas gebrechlichen Esel Scherasmins. Und als Hüon nach einer Schlacht mit vielen Rittern von ihnen eingeladen wird, heißt es: „Und, wie die Herren ihn so schön und höflich sahn, / Verziehn sie ihm ihr rippenweh von herzen.“

Das Reimschema variiert Wieland so gekonnt und leichthändig, dass es niemals zu leiern anfängt, nicht einmal heute, wo wir doch kaum noch einen Reim ertragen können, schon gar nicht über 240 Seiten lang. Zudem zieht er alle Register einer abwechlsungsreichen Sprachkunst: Hat mal jemand Wielands Wortschatz gezählt? Jemand, der 21 Stücke von Shakespeare übersetzt hat, müsste ihm kaum nachstehen. Auch die Sinnlichkeit kommt nicht zu kurz – etwas, das ihm viele Zeitgenossen schon vorgeworfen haben. Man lese nur die Kapitel auf der Insel, in denen sich Hüon und Amanda so nahe kommen, dass sie neun Monate später ein Kind bekommt – das hat lange niemand mehr so trickreich, lebendig und sinnlich machen können.

„Oberon“ ist das Hauptstück des neuen Bandes der Oßmannstedter Ausgabe, die Wielands Werke in chronologischer Reihenfolge herausbringt, ohne sich um Zusammenhänge zu kümmern. Und so bringt der Band 15.1. außer dem „Oberon“ einfach einige Beiträge aus der damals wohl wichtigsten deutschen Zeitschrift, die 1773 bis 1789 von Wieland herausgegeben wurde, der bis 1810 auch den Nachfolger „Der Neue Teutsche Merkur“ herausgab (1813 starb er in Weimar). 1780 erschien hier auch „Oberon“. Ein schöner Glücksfall für uns, dass wir diese heitere Verserzählung jetzt auch in Wielands eigenen Worten und nicht „vorsichtig modernisiert“ lesen können. Als wenn man sie so, wie sie Wieland schrieb, nicht mehr lesen könnte! Ein leider nicht auszurottender Unsinn.

Der Rest des 580 Seiten starken Buchs machen kleinere Aufsätze und Rezensionen aus und einige Dialoge (vor allem von Lukian), die 1780 und 1781 im „Teutschen Merkur“ erschienen sind. Man entdeckt da einen anderen Wieland, der nicht spielerisch ist, sondern vor allem die Sprache der anderen genau untersucht, der sich bei der etwas fiesen Anekdote über Rousseau Gedanken über die Moral macht und darüber, ob auch ein so großer Geist wie Rousseau Fehler begehen darf und vor allem, wie wir das bewerten. Ein Wieland, der in so langen Satzperioden, wie sie sonst nur Karl Kraus beherrschte, sich mit viel Sorgfalt dem Kern des Problemes immer mehr nähert. Der immer wieder neu ausholt und auch seine eigenen Gefühle mit analysiert, ein Skeptiker, der auch sich selber immer wieder hinterfragt.

Und da wird diese schöne und teure Ausgabe (sie ist preislich ganz offensichtlich für Bibliotheken und reiche Menschen konzipiert, dabei wäre es doch schön, wenn es wie bei dem ebenfalls von Reemtsma gesponserten Arno Schmidt auch eine Taschenbuchausgabe geben würde – sie ist nicht in Sicht) aus drei Gründen etwas unglücklich.

Zum einen sind die Stücke aus ihrem Zusammenhang, dem der Zeitschrift, herausgerissen, man weiß nicht, worum es im „Merkur“ sonst noch ging, ob es vielleicht eine groß angelegte Diskussion über Rousseau oder über den Diebstahl, über Moral oder den Umgang mit großen Menschen gegeben hat. Zum zweiten weiß man nicht, was vielleicht andere Autoren im „Merkur“ über diesen Gegenstand geschrieben haben oder ob. Man müsste dann schon in die Zeitschrift selbst hineinschauen. Glücklicherweise kann man das inzwischen, die Uni Bielefeld hat sie digitalisiert und ins Netz gestellt. Aber wie umständlich ist das.

Zum dritten aber, und die ersten beiden Punkte hängen damit zusammen, gibt es keinen Kommentar. Er soll einmal erscheinen, wann, weiß man noch nicht. Der erste Kommentarband überhaupt soll in diesem Herbst erst erscheinen, seither sind neun Bände der Werkausgabe erschienen. Und das ist eigentlich sehr ärgerlich und steht einer neuen Rezeption von Wielands Werken sehr entgegen. Denn wie soll man ihn denn verstehen, wenn die vielen Anspielungen, die damals zum allgemeinen Bildungsgut gehörten, nicht erklärt und kommentiert? Warum also bringt diese schöne Oßmannstedter Ausgabe nicht den Text- und den Kommentarband gleichzeitig heraus? Andere Ausgaben schaffen das doch auch?

Denn nicht nur, dass man vielleicht nur zufällig manches weiß (dass Joppen ein alter Name für Jaffa ist etwa) und auch im Internet oder in diversen Lexika vielleicht nicht findet, auch sind von dem in mehreren Sprachen versierten Wieland französische und griechische Sätze eingestreut, die unübersetzt stehen und Anspielungen auf eine antike Bildung, die Wieland damals voraussetzen konnte, die heute aber nur noch Spezialisten haben. All das fehlt ebenso wie irgendwelche Hinweise auf die sieben Überarbeitungen, die „Oberon“ erfahren hat, eine historische Einordnung der politischen Bemerkungen oder Anmerkungen zur Philosophie Wielands. Dazu kommen kurioserweise immer wieder Druckfehlerangaben, und die Angabe Wielands, dass der ganze Jahrgang der Zeitschrift in „Weimar 1 Thlr. 6 Ggr. Leipziger Courant“ kosten und dass man sich „bekanntermaßen bei allen L. Postämtern in Teutschland auf den T.M. abonnieren“ kann.

Titelbild

Christoph Martin Wieland: Werke Band 15.1.: Oberon. 1. Text.
Bearbeitet von Hans-Peter Nowitzki und Heinz-Günther Nesselrath.
De Gruyter, Berlin 2012.
580 Seiten, 199,95 EUR.
ISBN-13: 9783110300567

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