„Der Augenblick der Arbeit ist der Augenblick des Glücks“

Wilhelm Genazino beherrscht die Kunst, im Kleinen das Große zu sehen, auch außerhalb der Welt seiner Romane

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt schönere Städte als Frankfurt am Main. Hier schweben sie ein, die Touristen aus aller Welt – aber hier bleiben sie nicht. Manche setzen nicht einmal einen Fuß auf den Boden der mehr als 1.200 Jahre alten Stadt. Direkt vom Flugzeug aus geht es in den Zug und ab zu lohnenderen Zielen. Goethe wurde hier geboren? Ja, aber in dem kleinen idyllischen Weimar an der Ilm hat er schließlich gelebt. Das erste frei gewählte deutsche Parlament hatte hier seinen Sitz? Ja, aber heute wird Deutschland vom Berliner Spreebogen aus regiert. In Frankfurt kümmert sich die Europäische Zentralbank um das Wohl und Wehe der gemeinsamen europäischen Währung? Ja, aber ausgegeben wird das Geld lieber in München und Hamburg, Heidelberg und Dresden, auf Rügen und im Moseltal.

Wilhelm Genazino ist seit fast 50 Jahren Frankfurter – und ein bekennender dazu. Die „Angestelltenstadt“ ist Hauptschauplatz seiner Bücher. Man kann die Wege der in ihnen agierenden Figuren nachgehen, wenn man will. In die gleichen Schaufenster schauen wie sie. Die gleiche Enge in den Grünanlagen empfinden, wo im Sommer sämtliche Bänke belegt sind mit jungen Müttern und ihrem Nachwuchs. Genazinos Helden – Mittelständler in der Regel – sind passionierte Flaneure und häufig Melancholiker. Durch ihre Augen blickt der Leser auf die vielen Facetten des Frankfurter Lebens. Und wundert sich, was die alles sehen und wie selbst das Kleinste und Nebensächlichste, an dem ein weniger aufmerksamer Beobachter achtlos vorbeigehen würde, plötzlich an Bedeutung gewinnt, wichtig wird, über sich hinausweist.

Nun, im Jahr seines siebzigsten Geburtstages, nimmt der Autor in einem schmalen Bändchen seine Leser wieder mit auf die Straßen und Plätze, in die Cafés und Supermärkte, zu den Trinkhallen und in die U-Bahn-Stationen seiner Stadt. Doch versteckt er sich diesmal nicht hinter einer erfundenen Figur, sondern gibt sich als der zu erkennen, der er ist. Dass das Ganze sich streckenweise dennoch wie ein Genazino-Roman liest, zeigt dabei nur, wie dicht bei diesem Schriftsteller Leben und Erfindung beieinanderliegen, wie realitätsgesättigt seine Prosa ist.

„Tarzan am Main“ ist prismatisch strukturiert. Man kann die vielen, meistens 2 bis 4 Seiten langen Abschnitte in der Reihenfolge lesen, in der das Buch sie präsentiert, muss das aber nicht zwingend tun. Da es keine durchgehende Handlung gibt, sondern „Spaziergänge“ aneinandergereiht werden – übrigens auch solche in die Biografie des einstigen „pardon“-Redakteurs und Mitarbeiters beim Hessischen Rundfunk – ist es im Grunde egal, wo man einsteigt. Allein überall trifft man auf jenen typisch „poetischen“ Blick, durch den das Normale, Durchschnittliche, Alltägliche exotische Qualitäten bekommt. Wie kleine Wunder kommen einem all die Beobachtungen vor, die aus der Vielzahl von Eindrücken  herausheben, was bei oberflächlicher Betrachtung am wenigsten auffällt, um ihm dann eine Bedeutung zu geben, die es einmalig werden lässt.

Pelztiere auf Caféhausstühlen sind eigentlich achtlos zusammengeknüllte und dort abgelegte Kleidungsstücke. In der „Änderungsschneiderei Pasqualetto“ arbeitet der Inhaber gemeinsam mit seiner Frau unter defekten Neonröhren wie unter vom Himmel zuckenden Blitzen. Ob ein Stück Schokoladentorte liegend oder aufrecht stehend verpackt werden soll, ist eine Frage der Verkäuferin dieser Leckerei, die langes Nachdenken erfordert und dann doch nicht beantwortet werden kann. Drei Beispiele – alle dem ersten Buchabschnitt entnommen –, die zeigen, wie Wilhelm Genazino arbeitet.

Und wenn er nicht arbeitet? Dann ist er unterwegs in den Häuserschluchten, schaut und notiert im Geiste und wird durch das Geschaute automatisch wieder zurückgetrieben an seinen Schreibtisch. „Der Augenblick der Arbeit ist der Augenblick des Glücks“, heißt es an einer Stelle. Und auch wenn er ein paar Seiten weiter, genervt durch einen aufdringlichen „Ungedruckten“, behauptet: „Niemand muss Schriftsteller werden.“ – für ihn gilt das wohl nicht. Allein in diesen Stadtspaziergängen schlummert ein Dutzend neuer Romane. Deshalb sollte man auf die listige Frage „Gibt es ein Publikum, das auf ein neues Buch von mir wartet?“ vielleicht überhaupt nicht reagieren. Wir wollen hier aber trotzdem einmal so tun, als nähmen wir sie ernst, und antworten: Ja. Und möge dieses Buch besser heute als morgen erscheinen und noch lange nicht das letzte sein! Denn keiner zeigt uns die Welt wie dieser „Tarzan am Main“.

Titelbild

Wilhelm Genazino: Tarzan am Main. Spaziergänge in der Mitte Deutschlands.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
140 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783446241220

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