Zwischen Anpassung und Dissidenz

Ljudmila Ulitzkajas großartiger Roman über die sowjetische „Generation der Sechziger“

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das ist doch erstaunlich am sowjetischen Leben – oder am russischen? –, man weiß nie, von wem man denunziert wird und von wem man Hilfe angeboten kriegt, die Rollen wechseln blitzartig.“ Als Micha Melamid auf diese Weise Bilanz zieht, hat ihm das Leben bereits übel mitgespielt. Micha ist einer von drei Freunden, deren Lebensgeschichten Ljudmila Ulitzkaja in ihrem neuen großen Roman „Das grüne Zelt“ über mehrere Jahrzehnte hinweg verfolgt und vor den Lesenden entfaltet. Micha muss es wissen: Waisenjunge, Jude, Leser, begeistert er sich schon früh für die russische Literatur, er schreibt Gedichte und wird zum enthusiastischen Lehrer für Taubstumme in der Provinz. Doch als er verbotene Bücher zu lesen beginnt, verliert Micha seine Stelle. Nun gerät sein Leben aus den Fugen, er wird ausgegrenzt, weiß nicht mehr, wer ihm wohlgesinnt ist und wer sein Feind ist. Schließlich wird Micha zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt. Nach seiner Entlassung ist nichts mehr wie zuvor, Micha findet den Anschluss an die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt nicht mehr – sein Leben mündet in die Katastrophe.

Bei allen individuellen Zügen, die Michas Schicksal aufweist, steht auf einer Linie mit den Erfahrungen einer ganzen Generation von Sowjetbürgern, die – auf welche Weise auch immer – in Widerspruch zum Staat geraten sind, als heimliche oder offene Dissidenten, als Zweifler oder auch nur als Menschen, die in ihren Träumen nach anderem streben, als dies die offizielle Ideologie von ihnen erwartet. Sie erhoffen sich mehr Freiheiten, etwa im Kunstschaffen. Es ist dies die „Generation der Sechziger“, der „Schestidesjatniki“, wie sie auf Russisch bezeichnet werden. Geboren zwischen Mitte der 1920er- und Mitte der 1940er-Jahre, haben sie die Zeit der Stalin’schen Säuberungen und dem „Großen Vaterländischen Krieg“ entweder bereits selber bewusst erlebt, oder aber sie wissen davon aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern. Die Generation der Sechziger wächst in eine Epoche hinein, die stabiler ist als die vorangegangen Jahrzehnte und zugleich weniger Schrecken verbreitet – Stalin ist 1953 gestorben, und die „Weltspiele der Jugend und der Studenten“ bringen 1957 zumindest die Ahnung von einer anderen Welt nach Moskau.

Die Schestidesjatniki, zu denen auch die drei Freunde in Ulitzkajas Roman gehören, werden Zeugen eines kurzen politischen und gesellschaftlichen Tauwetters unter Chruschtschow. Sie hinterfragen den Stalinkult, bekommen Zweifel am System, hegen Hoffnung auf Veränderungen. Sie treten allmählich in Opposition zum Regime, oft tun sie dies nur im Kleinen, im Privaten; doch manche werden auch aktiv, indem sie beispielsweise im Untergrund Literatur verlegen und vertreiben, die nicht stromlinienförmig ist. Doch sie müssen auch Enttäuschungen hinnehmen: den Einmarsch der Sowjetarmee in Ungarn 1956, die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 und schließlich die umfassende Stagnation während der Jahre unter Generalsekretär Breschnew. Alle diese Ereignisse und Gegebenheiten hinterlassen ihre Spuren in den Biografien der Schestidesjatniki. Es gehört zu den überzeugendsten Eigenschaften von Ulitzkajas Epochenroman, dass es der Autorin darin gelingt, auch die Biografien ihrer Protagonisten in ihrer geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingtheit zu zeigen.

Auf je eigene Weise hinterlässt die Epoche ihren Stempel auch auf den Biografien Iljas und Sanjas. Micha ist mit den beiden seit der Schule befreundet. Auch wenn im späteren Leben der Kontakt zwischen den dreien hie und da fast versiegen wird, so bleiben ihre Lebensgeschichten doch stets miteinander verbunden – manchmal werden die Bezüge auch erst viel später aufgedeckt. Ilja, der auf ein Studium pfeift, widmet sich lieber der Fotografie und wird damit unversehens zum Dokumentalisten der Dissidentenszene. Er verzichtet auf eine traditionelle berufliche Karriere, lässt sich stattdessen als „Sekretär“ bei Kulturschaffenden anstellen und gewinnt dadurch ein paar Freiräume: Im Untergrund organisiert er das Dissidentenleben mit, verbreitet und versteckt oppositionelle Literatur. Als die Behörden ihm auf die Spur kommen, tritt er die Flucht an – er emigriert in den Westen. Sanja Steklow seinerseits muss nach einer Verletzung an der Hand den Traum von einer Laufbahn als professioneller Pianisten begraben – er wird stattdessen zum Musikwissenschaftler. Doch schließlich wandert auch er aus: Freunde verschaffen ihm eine fiktive Braut aus den USA – die Episode, wie Debby und Sanja sich in Moskau näher kennenlernen, ist im Übrigen eine der witzigsten im ganzen Roman – hier (und anderswo) beweist Ulitzkaja, dass sie durchaus auch über Humor verfügt. Seine Homosexualität wird Sanja allerdings sein Leben lang unterdrücken. Gleichwohl kommt er von den drei Freunden in den Wirren der Zeit noch am besten weg – doch ist er eben auch derjenige, der sich am wenigsten in Politik hat hineinziehen lassen.

Ilja, Sanja und Micha sind der Welt der Künste zugeordnet, jeder hat auf seine eigene Weise daran Anteil. „Das grüne Zelt“ ist daher auch ein Roman über die Frage, inwiefern ein Staat wie die Sowjetunion die künstlerische Entfaltung behindert, aber auch – in anderer Hinsicht freilich – wiederum befördern kann. Ulitzkaja erkundet die Möglichkeiten künstlerischer Betätigung in jener Epoche und lotet die Bedingungen aus, unter denen eine solche stattfinden musste. Dass der Literatur als der „Kunst der Wörter“ dabei der heikelste und schwierigste Part zukam, scheint naheliegend. „Das grüne Zelt“ entwickelt ein episches Panorama der 50er- bis 90er-Jahre, das viel mehr Einzelschicksale beleuchtet als die bisher erwähnten. Außer den drei Männern porträtiert Ulitzkaja drei Frauen, Olga, Tamara und Galja. Zwar widmet die Autorin ihnen im Roman ungleich weniger Raum; zudem mögen diese Figuren zunächst den Eindruck erwecken, sie dienten lediglich als Spiegel für die Männer. Aber Ulitzkaja verleiht auch ihnen ihre je eigene Geschichte: Olga, Iljas zweite Frau, ist ihrem Mann ganz ergeben und unterstützt seine illegalen Aktionen. Als er emigriert und sie mit ihrem Sohn zurückbleibt, erkrankt sie an Krebs. Tamara, Biologin, wird zu einer überzeugten Christin. Und die eher unscheinbare und langweilige Galja schließlich muss eine Sportlerinnenkarriere abbrechen, als sie sich verletzt – sie heiratet schließlich einen Spitzel des KGB, was sie allerdings nicht daran hindert, oppositionelle Manuskripte zwecks weiterer Verbreitung abzutippen.

Um diese sechs Hauptgestalten herum zeigt uns Ulitzkaja einen ganzen Reigen weiterer Figuren: Manches Schicksal wird dabei nur kurz angedeutet, angetippt; weitere Geschichten werden stark zusammengefasst und nur in knappen Abschnitten abgehandelt, und wieder andere Biografien werden in all ihren Einzelheiten entfaltet. Zu letzteren gehört der erste Literaturlehrer der drei Freunde: Viktor Juljewitsch Schengeli wird zum großen Vorbild der Heranwachsenden, der ihr Leben nachhaltig beeinflusst: „Er vermittelte seinen Schülern alles, was er selbst wusste. Im Grunde einfache Dinge – Ehre, Gerechtigkeit, Verachtung von Gier und Gemeinheit...“. Doch darunter sind auch Nebenfiguren, die nur kurz in Erscheinung treten und sich gleichwohl in das Bewusstsein der Leser einschreiben: Valentina etwa, die Schwester von Olgas Mutter, erscheint unvermittelt auf deren Beerdigung und übergibt Olga alte Familienfotos. Olga wird durch diese Begegnung völlig erschüttert, denn sie erfährt erst jetzt, dass ihr Großvater Pope war und vom Staat zum Volksfeind erklärt worden ist.

Ljudmila Ulitzkaja zeigt ein unverkennbares Interesse für die Beziehungen zwischen den Menschen, seien dies nun Verwandte oder aber Wahlverwandte. In diesem Punkt bleibt Ulitzkaja sich selbst treu, denn dies kennt man bereits aus Romanen wie „Medea und ihre Kinder“ oder „Ergebenst, euer Schurik“. Doch nicht nur darin, und auch nicht allein im Vermögen, diese Schicksale mit der Epoche in Bezug zu setzen, liegt die Kraft ihres Romans begründet. Man muss schließlich in der Lage sein, eine solch gewaltige Stoffmenge literarisch zu bewältigen. Ulitzkaja erzählt bisweilen fast minutiös; dann wiederum rafft sie stark. Verdichtung und Überblick wechseln sich ab und erwecken den Eindruck einer lebendigen Sprache. Das Erzählen erfolgt zudem nicht immer linear; Ulitzkaja nimmt immer wieder Späteres vorweg oder trägt Früheres nach. Dies bewirkt, dass ein und dasselbe Ereignis bisweilen zwei- oder dreimal berichtet wird, nämlich aus der Perspektive unterschiedlicher Figuren. Dabei offenbart sich zweierlei: Manche Geschehnisse werden von verschiedenen Protagonisten des Romans durchaus unterschiedlich eingeschätzt und bewertet; und vieles, was zunächst als zwangsläufig erscheinen mochte, ist es in anderer Wahrnehmung durchaus nicht mehr. Die Erzähltechnik trägt wohl ihren Teil dazu bei, dass Ulitzkaja in ihrem Roman nicht immer eindeutige Urteile fällt. Zwar gibt sie durchaus zu verstehen, auf welcher Seite ihre Sympathien liegen – nämlich bei den „Dissidenten“. Andererseits suggeriert sie aber auch, dass nicht jedes Handeln der Protagonisten nachvollzogen und begründet werden kann; es hat in jenen Jahren auch die Macht des Zufalls gegeben, und bisweilen auch die Möglichkeit, eine Wahl zu treffen. Manches wird durch das Schicksal auch ganz im Dunkeln gelassen. Es gibt keine eindeutige „Lesart“ der Geschichte, oder wie Schengeli einmal formuliert: „Geschichte ist keine Mathematik. Man kann sie kaum als exakte Wissenschaft bezeichnen. In gewissem Sinne ist die Literatur exakter. Die Sicht eines großen Schriftstellers wird oft zur Wahrheit.“

Ljudmila Ulitzkaja porträtiert in ihrem Roman Sowjetbürger, vorwiegend Angehörige der Intelligenzia, die mit den herrschenden Verhältnissen in unterschiedlichem Ausmaß hadern. Sie streift dabei zahlreiche Themenkomplexe: Neben der Kunst gilt Ulitzkajas Interesse auch der Wissenschaft, sie wendet sich dem Schicksal der Juden zu – zeitweise wurden in der Sowjetunion gegen Juden gerichtete Kampagnen inszeniert. Selbst die sowjetische Nationalitätenpolitik wird angeschnitten: Ulitzkaja erzählt ganz nebenbei auch die Geschichte der Krimtataren, die Stalin 1944 als Volk nach Zentralasien deportieren ließ – er warf ihnen vor, sie hätten im Krieg mit den deutschen Truppen kollaboriert. Micha setzt sich für die Rehabilitierung und die Rückkehr der Krimtataren in ihre Heimat ein. Eher am Rand wird aber auch der westliche Blick auf die Sowjetunion thematisiert, der von einer unreflektierten Schwärmerei für das alte und vermeintlich wahre Russland bis hin zu einem ebenso pauschalen unverhohlenen Hass auf den Kommunismus ganz unterschiedliche Haltungen umfassen konnte. Man möchte nun meinen, dies sei des Guten zu viel. Doch Ulitzkaja geht es beileibe nicht darum, alles bis ins Detail zu erklären und aufzuklären. Sie will mit dieser Themenvielfalt wohl lediglich andeuten, dass die einzelnen Aspekte der sowjetischen Realität eben miteinander in Zusammenhang stehen und nicht voneinander losgelöst betrachtet werden können.

Ganna-Maria Braungardt hat „Das grüne Zelt“ in ein Deutsch übertragen, dass sich flüssig und spannend liest. Allerdings sind ein paar Fehler zu erwähnen: Eine Stadt Nishegorod gibt es nicht – gemeint ist hier Nishni Nowgorod, immerhin eine Millionenstadt. Und jener berühmte Exilverlag hieß richtig YMCA, nicht IMKA – hier hat wohl eine vorschnelle Transliteration aus dem Russischen zum Fehler geführt. Man möchte annehmen, dass in beiden Fällen eigentlich eine kurze Recherche im Internet das Versehen hätte verhindern können.

Manche Rezensenten scheinen in ihren Besprechungen zu suggerieren, Ljudmila Ulitzkaja habe mit „Das grüne Zelt“ so etwas wie einen Oppositionellen-Roman geschrieben. Gewiss, die Sympathie der Autorin liegt auf Seiten der Dissidenten, und der sowjetische Staat wird beileibe nicht von der guten Seite gezeigt. Doch Ulitzkaja weiß auch, dass Urteile wie „gut“ und „böse“ nicht so einfach zu fällen sind. Was ist Heldentum? Was ist Verrat? Was ist Schuld? Hat Ilja seinen Freund Micha letztlich ins Lager gebracht, weil er ihn zu einer gefährlichen Tätigkeit verführt hat? Wer war in der Sowjetunion Dissident, wer Drückeberger? Die Antworten hierauf sind keineswegs immer eindeutig. Vielleicht würde Ulitzkaja selbst den Worten zustimmen, die Anna Alexandrowna, Sanjas Großmutter und im Übrigen eine der eindrücklichsten Figuren des Romans, einmal Micha gegenüber äußert: „Weißt du, Micha, alle Neuigkeiten auf der Welt sind alt. Mein Mann wurde von seinen eigenen Bruder ins Gefängnis gebracht. Umgekommen sind sie alle beide. Das Schicksal entscheidet, nicht unser Verhalten, ob gut oder schlecht. Iss, bitte.“

Titelbild

Ljudmila Ulitzkaja: Das grüne Zelt. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt.
Carl Hanser Verlag, München 2012.
592 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446239876

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