Zarathustras dürftige Erben

80 Jahre nach seiner Entstehung erscheint mit „Der Exot“ Friedrich von Oppeln-Bronikowskis Literarisierung der Allensteiner Offizierstragödie

Von Julia IlgnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Ilgner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass nicht jede Geschichte aus dem wirklichen Leben – und mag sie noch so wiedererzählenswert sein – zwangsläufig auch in der Literatur gern gelesen wird, hat schon so mancher Fall gezeigt, von Klaus Manns „Mephisto“ über Walsers „Tod eines Kritikers“ bis hin zu Per Johanssons (alias Thomas Steinfelds) „Der Sturm“.

Im vorliegenden Fall sind es die verbürgten Fakten um die Allensteiner Offizierstragödie, wie die Ereignisse später effektheischend von der wilhelminischen Presse bezeichnet wurden. Affäre, Mord, Selbstmord waren die Ingredienzen des Falls, der später als Justizdrama unter größter öffentlicher Anteilnahme verhandelt wurde. Im Zentrum des Geschehens stand der Artilleriehauptmann Hugo von Goeben, des Mordes an seinem Kameraden Major August von Schoenebeck angeklagt, verübt am zweiten Weihnachtstag des Jahres 1907 im preußischen Garnisonsstädtchen Allenstein. Ebenfalls auf der Anklagebank saß die Ehefrau des Ermordeten Antonie von Schoenebeck – im Verdacht auf außereheliche Beziehungen und Anstiftung zum Mord.

Mehr als 20 Jahre nach den Vorfällen hat sich Friedrich von Oppeln-Bronikowski (1873-1936), seinerzeit Übersetzer und Kulturvermittler von einigem Rang, des Stoffes angenommen. Doch auch in der späten Weimarer Republik scheuten sich die Verlage, das mit einer Publikation verbundene Wagnis einzugehen. Das Manuskript verblieb in der Schublade – bis es jetzt Friedrich-Wilhelm von Oppeln-Bronikowski, der sich seit Jahren redlich um seinen umtriebigen Vorfahr bemüht, im Schneesturm Verlag Itzehoe erstmals veröffentlichte. Die geringe Resonanz, welche die Wiederveröffentlichung bislang erfahren hat, bestärkt die Befürchtung, dass der Roman auch künftig ein Nischendasein führen wird. Auch hätte man dem Text ein dem Gegenstand angemessenes Format ebenso gewünscht wie ein sorgsameres Lektorat, Roman und Verfasser verdienen es allemal.

Gewandt und arbeitsam wie Bronikowski war, dürfte er noch heute so manches Regal von Literaturliebhabern zieren: Honoré de Balzac, Stendhal, Anatole France, Guy de Maupassant, Georges Rodenbach, Maurice Maeterlinck, Niccolò Machiavelli (unter anderem „Il principe“) – Bronikowskis Übertragungen aus der französischen und italienischen Literatur sind beträchtlich. Gleichsam sind sie Ausdruck einer wenn nicht verhinderten, so doch spät erfüllten Lebensliebe, der Passion für die Literatur. Geboren in eine militärische Dynastie (der Vater war Generallieutenant und entstammte dem lausitzischen Uradel) war Bronikowski für die soldatische Laufbahn vorgesehen. Kindheit und Jugend verbrachte er in der Kadettenanstalt zu Kassel, für die er ähnlich große Zuneigung hegte wie ein Marbacher Karlsschüler vor ihm. Anders jedoch als sein berühmter Vorgänger im Geiste musste Bronikowski nicht bei Nacht und Nebel entfliehen. Ein Reitunfall kam ihm zuvor, der ihn für alle weiteren familiären Pläne untauglich machte. An Dienstes statt studierte er Sprachen, Philosophie, Geschichte und Archäologie, bereiste Italien, die Schweiz und ließ sich schließlich in Berlin nieder.

Obschon ihm die konservative Literaturkritik nie besonders wohlgesonnen war (Max Geißler etwa nannte ihn „ein wenig selbstständiges, feuilletonistisches Talent“), fanden seine Arbeiten zur preußischen Geschichte und insbesondere über Friedrich den Großen Beachtung, seine Romane ein interessiertes Laienpublikum. Das Œuvre umfasst biografische Studien und historische Romane (unter anderem über die Borgia im Rom der Renaissance) ebenso wie Militärnovellen und Soldatenromane im Umfeld des Hohenzollernmilitärs. Um Letzteres handelt es sich bei dem 1929 entstandenen Roman mit dem programmatischen Titel „Der Exot“. Der Exot, das ist Hauptmann von Verden, der letzte Nachfahre eines vormals angesehenen Bremer Geschlechts, der Europa hinter sich gelassen hatte, um in den Burenkriegen Südafrikas sein Glück zu finden: „ein Mann, dem der Ruf soldatischer Tüchtigkeit und waghalsigen Mutes voranging“, doch gleichsam einer, der „sich nicht in sein Herz schauen [ließ]“. Wieder in der alten Welt wird der „Burenkrieger“ zum Batteriekommandanten in die fiktive Garnisonsstadt Kuhren abgeordert. Doch der reglementierte Dienst im Friedenskorps und das einförmige Dasein in der Provinz bekommen dem Kriegshelden schlecht. „Seine neue Kameraden hatten ihn mit einem Gemisch von Hochachtung, Misstrauen und Neid empfangen, und er selbst, verschlossen und einsilbig, gehörte nicht zu denen, die sich die Herzen rasch zu erobern wussten.“ Für die meisten blieb er „ein unbeschriebenes Blatt oder ein Rätsel.“

Vor allem das vermeintlich Geheime, Undurchsichtige seines Charakters ist es, das ihn dort wirken lässt, wo er es am wenigstens beabsichtigt: bei den Frauen. Nicht jedoch die klassische Ménage à trois (und damit der historische Skandal), auf die der Roman merklich hinausläuft, steht im Zentrum des Interesses, sondern die Fallgeschichte einer epochentypischen Figur. Aus dieser formt der Autor zugleich einen Grenzgänger zwischen zwei Welten – repräsentiert durch die beiden Frauen, die um den Hauptmann werben und die unterschiedlicher kaum sein könnten. Da ist zum einen die Familie von Evert, kunstsinnig, liebenswürdig, doch gleichsam nüchtern, protestantisch-pragmatisch – so auch die Schwägerin Else Lutheroth, die ihren Lebensunterhalt als Lehrerin selbst bestreitet. Zum andern die Familie des Majors von Burgess, in der die Hausfrau Sohn und Gatten drangsaliert. Enttäuschung, Demütigung und gegenseitige Anfeindungen bestimmen den Alltag, eine Atmosphäre offen ausgetragener Zersetzung. Obschon der Regimentskamerad Evert, als alter ego des Autors wohl nicht zufällig die eindrücklichste Nebenfigur, in seiner bedächtigen und rationalen Art immer wieder als Ruhepol für den aufbrausenden Verden fungiert, entgleitet jener zunehmend dessen Einfluss.

Nutznießer dieser Wankelmütigkeit ist die Majorsgattin Frau von Burgess, die jedes noch so kondensierte Klischee der femme fatale übertrifft: eine rotblonde Nixe von schlankem Wuchs, extravaganter Toilette und dem Gebahren einer Xantippe, gleichwohl gepaart mit schauspielerischem Geschick im gesellschaftlichen Umgang. Eine Frau, die das ritualisierte Spiel camouflierter Begierde perfekt beherrscht und ihr (dezidiert männliches) Umfeld mit elysischer Wirkung bezirzt. Auch Verden ist nicht blind für die Apartheit ihrer Erscheinung („wie ein graziöses Spielzeug“), doch für die üblichen Verführungskünste des anderen Geschlechts kaum empfänglich. Nicht der erotische Reiz oder die Aussicht, eine fremde Frau zu besitzen, geschweige denn Liebe motivieren Verden. Allein sein Stolz, die demonstrative Herabsetzung des Ego, entpuppt sich als Schlüssel zu dem „naiven Kinderherzen“ des „störrischen, eckigen Willensmenschen“: Erst die Enttäuschung der Majorin, ihn als zweiten Zarathustra verkannt zu haben („Und ich hielt sie für einen höheren Menschen, turmhoch über dem elenden Durchschnitt. Ich sah sie rücksichtslos alles niederwerfen, was Ihnen in den Weg trat. Oh, was war ich für eine Gans, Sie für mehr zu halten, als andere.“), lockt Verden aus der Reserve. Sie gibt ihm Nietzsche zur Lektüre: Rasch ist die Verlobung aufgelöst, die verheiratete Gattin verführt. Der Mustersoldat mutiert zum Ehebrecher, doch nicht ohne gegenseitige Durchdringung beider Existenzen: Nach quälender Stagnation im Friedensdienst findet Verden in der Liebe Ersatz für das berufliche Debakel, das Ausbleiben jeglicher militärischer Offerten. „Genießen, was der Tag gab, die Galgenfrist nutzen! Es war ein steter Kriegszustand, der seine Nerven in Spannung hielt, und zum ersten Male entbehrte er die Sensationen des Krieges nicht.“ Blind vor Hedonismus und Eitelkeit steigert er sich in grenzenlose Menschenverachtung („Pflicht, Ehre, Rücksicht auf Nebenmenschen, alles lag unter ihm wie ein Nebel im Tal, während er selbst auf der Höhe stand.“) und übersieht dabei, dass er selbst längst zum Werkzeug verkommen ist.

Bronikowskis opulenter Roman (die Neuausgabe umfasst knapp 500 Seiten) liefert die eindringliche Innenschau eines skandalösen Beziehungsgeflechts, der im Kern, obschon er mit einigen Stereotypen hinsichtlich Motivik und Handlungsführung operiert, ein seltenes Charakterbild entwirft: Als epochentypische Gestalt ist Bronikowskis Hauptmann mit Schnitzlers „Lieutenant Gustl“ oder Joseph von Trotta aus Roths „Radetzkymarsch“ vergleichbar. Und dennoch sucht diese Figur in ihrer Mischung aus Don Juan und eigenbrödlerischem Hagestolz in der deutschen Literatur Ihresgleichen. Damit unterscheidet sich der Roman nicht zuletzt von den konventionellen Ehebruchsgeschichten einer „Clarissa“, „Emma Bovary“ oder „Effi Briest“, die den weiblichen ,Fall‘ zum Gegenstand haben. Gemein ist ihm allerdings der kühle gegenwartsdiagnostische Blick auf eine im Umbruch begriffene Gesellschaft, die, geblendet von vergangener Größe, den Abgrund vor sich nicht sieht. Während für den jungen Offizier Zosima in Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“ das Duell noch zum Wendepunkt des Lebens wird (er verzichtet darauf zu schießen und wird zum frommen Einsiedler), bleibt Bronikowskis Hauptmann die Umkehr versagt: Die Lektüre bekam ihm schlecht!

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Friedrich von Oppeln-Bronikowski: Der Exot. Roman in drei Teilen.
Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Oppeln-Bronikowski.
Schneesturm Verlag, Itzehoe 2012.
506 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783940502032

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