Kein Land im Rücken

Zsuzsanna Gahses „Südsudelbuch“ bildet Erzählinseln, sprachmächtig und federleicht

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel von Zsuzsanna Gahses jüngster Prosa führt etwas in die Irre. Ein „Sudelbuch“ im Sinne Lichtenbergs ist ihr „Südsudelbuch“ auch, aber nicht nur: Notizen und Notate dominieren zwar, aber es gibt auch eine lose zusammenhängende Geschichte. Die Autorin charakterisiert den ersten Teil ihres Textes als „Reisetagebuch, bei dem es nicht auf die einzelnen Tage ankommt“. Es geht um den Alltag und die meist in den Süden Europas führenden Streifzüge einer namenlosen Ich-Erzählerin mit offenbar ungarischem Hintergrund, die allerdings „alles andere als eine Ausländerin““ ist, „da man mir erst sagen müsste, wo mein Ausland und wo mein Inland liegen“. In Tokoll, einem Fotografen, hat sie einen verlässlichen Begleiter und Freund. Ein Künstler, den sie bei einer Tagung in Bozen kennenlernt und dem es ebenso wie ihr nicht um etwas Großes, Ganzes oder Angeschlossenes geht, sondern eher um Fragmentarisches – nicht um Kontinente, eher um Inseln. „Erzählinseln“ hatte die Chamisso-Preisträgerin des Jahres 2006 – die in diesem Buch ihre Abneigung gegen „Migrationsromane“ mehrfach betont – ihre 2009 erschienenen Dresdner Vorlesungen genannt. Die dort skizzierten poetologischen Überlegungen werden im neuen Buch in sprachmächtiger und wortverliebter, federleichter und wunderbar poetischer Prosa zum literarischen Glänzen gebracht.

Andalusien spielt eine wichtige Rolle, speziell die Stadt Granada, wo Großvater Endre, dem wir dann aber auch am Lago Maggiore begegnen, vor 90 Jahren als Hotelpianist arbeitete. Granada als Schnittpunkt der Sprachen und Kulturen – „Tausend Geschichten und eine Nacht“. Dazu gehört die spanische Sprache, die im Grunde „gut in einen ungarischen Mund“ passt, und überhaupt werden die europäischen Sprachen und ihr Verhältnis zueinander öfters zum Thema dieser sprachleidenschaftlichen Autorin. „Es ist ein himmelhoher Unterschied, wer in welchem Alter welche Sprache lernt“. Hymnen auf die Mehrsprachigkeit tauchen öfter auf, manchmal auch Sprachphilosophisches und, kein Wunder bei dieser Literatin: Bücher. An allererster Stelle: „Don Quijote“. La Mancha, Toledo, Madrid – alles kommt vor, und die Detailbeobachtungen gerinnen zu zauberhaft flirrenden Sprachatollen.

Einen ganz anderen Südsudelraum markieren die Alpen, von deren Gipfeln aus man in den „Kastaniengürtel“ schauen kann, wie Tokoll das nennt, und oft sogar viel weiter in den Süden. Von den östlichsten sogar bis nach Ungarn. Wohl erstmals bei Gahse kommt die Flucht aus diesem Land nach der Niederschlagung des Aufstands von 1956 zur Sprache, die die Autorin als Zehnjährige erleben musste und die Großvater Endre dazu brachte, seinem Leben ein Ende zu setzen.

Die Budapester Margareteninsel und der Wiener Augarten tauchen kurz auf, St. Moritz und Vals, und ganz selten erzählt das „Südsudelbuch“ auch kleine Geschichten von der Nordseite des Alpenhauptkamms, aus Frankfurt am Main oder Hausach im Kinzigtal. Zur interkulturellen Grundierung dieser Prosa gehören immer auch Geschichten vom Essen und Trinken, zum Beispiel vom Hernalser Kartoffelsalat, dessen Geruch der Dichter Gert Jonke angeblich „von anderen Kartoffelsalatgerüchen unterscheiden konnte“.

Die Welt, von der uns Zsuzsanna Gahse hier erzählt, ist groß und vielgestaltig, voller Düfte und Musik, und so lesen sich auch die sprachverspielten Sätze ihres bezaubernden Buchs. Es enthält liebenswerte Geschichten, auch traurige, und man liest begeistert weiter, weil man von der melodischen Sprache dieser Poesieprosa mitgenommen und klug unterhalten wird. Und irgendwann, viel zu früh, ist der Text dann zu Ende: „Nie werde ich tausend Seiten schreiben, um etwas zu begründen. Über nichts möchte ich tausend Seiten schreiben“. Schön und gut. Was aber haben wir gerade gelesen? „Was ich damit sagen will? Damit? Ich will nur sagen, was ich sage, man braucht das nicht zu deuten“.

Titelbild

Zsuzsanna Gahse: Südsudelbuch.
Edition Korrespondenzen, Wien 2012.
174 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783902113931

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