Tolkiens geistige Vorfahren: Von großen Schlachten, Frauenraub und edlen Helden

Uta Störmer-Caysas Übertragung des mittelhochdeutschen Versepos „Kudrun“

Von Ulrike DemuthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Demuth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist die Literatur der großen Schlachten, der schönen und edlen Damen, der tapferen Recken, der wilden, oft magischen und undurchdringlichen Lande, des Kampfes für das Gute und für Gerechtigkeit und des Siegs über das Böse, die der letzte große Epiker, J. R. R. Tolkien, im vergangenen Jahrhundert noch einmal aufleben ließ und die uns erst jüngstens wieder durch die Verfilmung des „Kleinen Hobbits“, der Vorgeschichte zum „Herrn der Ringe“, in den Kinosälen eindrücklich dargestellt wurde. Alt sind diese Quellen, aus denen der Erfinder des Mittelerde-Kosmos schöpfte, uralt, und in ihrer Sprache und Handlung dem zeitgenössischen Leser oft fremd, grausam und unlogisch. Es ist, als würden wir in eine andere Welt blicken, unser Geschichts-Mittelerde, wenn wir das Nibelungenlied oder die Edda lesen, verfasst von unseren Vorfahren und doch voller Fremdartigkeit und Magie. Denn Magie enthalten sie alle, eine reale Magie, die so selbstverständlich in die Handlung integriert ist, als hätte es wirklich Magnetenberge und Drachenschätze gegeben.

In den Kreis dieser alten Geschichten gehört die „Kudrun“, eine 800 Jahre alte Familiensaga, die uns von dem Schicksal des aus dem Norden stammenden Geschlechts der Hegelinger berichtet, im Hauptteil besonders von dessen jüngster Tochter Kudrun. Die Geschichte beginnt mit ihrem Großvater Hagen und dessen sagenhafter Jugend als Gefangener eines Greifen, berichtet, wie ihre Eltern Hilde und Hetel zusammen fanden und stellt schließlich ihre eigens Schicksal dar: entführt von König Hartmut, dem sie sich verweigert, muss sie die Dienste einer Magd verrichten, bis ihr Verlobter sie mit einer riesigen Armada befreien kommt. Der großen Endschlacht folgen die glückliche Heimkehr und die Hochzeit mit ihrem Befreier.

Vielleicht sind es die inhaltlichen Parallelen zum Nibelungenlied, gewiss aber auch die unikale Überlieferung in nur einer Handschrift, die das Interesse an der Kudrun-Saga bis dato in Grenzen hielten: Der Edition von Karl Stackmann (1965) folgte erst 1995 eine Übersetzung ins Neuhochdeutsche von Bernhard Sowinski und erschloss die Kudrun so dem mediävistisch fachfremden Publikum. Diese Ausgabe hat allerdings den Nachteil, dass sie den mittelhochdeutschen Text nicht abdruckt und auch den von Stackmann sorgfältig erarbeiteten Stellenkommentar nicht übernimmt. Vieles in der Kudrun aber ist unschlüssig, angefangen bei den variierenden Ortsnamen bis hin zu inhaltlichen Ungereimtheiten.

Die nun vorliegende Ausgabe von Uta Caysa-Störmer, die nach der Edition von Stackmann den mittelhochdeutschen Text synoptisch mit ihrer Neuübersetzung bietet, füllt somit eine lang vorhandene Lücke für jeden Freund der Heldenepik. Sympathisch macht diese Ausgabe besonders, dass dem Text der absolute Vorrang gegeben wird – nicht einmal ein Vorwort steuert die Gedankengänge, der Leser, ob nun Heldenepik-bewandert oder nicht, kann uneingenommen das Geschehen verfolgen, wenn gewünscht auch ohne den Stellenkommentar, der sich im Anhang befindet und nicht, wie in Stackmanns Ausgabe, durch Fußnoten in den Leseprozess integriert ist. Diesen zu Rate zu ziehen ist aber oft hilfreich, denn er bietet Einblick in die Übertragungsmethoden und besonders eine kritische Auseinandersetzung mit Stackmanns Ausgabe. Die Übersetzung nur im Zusammenhang mit dem mittelhochdeutschen Original zu lesen ist vorteilhaft, denn obwohl diese als Metaphrase eng am Original anknüpft, ist es kaum möglich, alle alten Bilder der Handschrift in unser modernes Deutsch zu übertragen: Bezeichnungen wie die „wazzerküelen selde“, wenig später die „bluotvarwen selde“ für das Meer als Grab, das es manchem Krieger während der Schlacht wurde, lassen sich nur schwach in unser gegenwärtiges Deutsch überführen, denn in „selde“ schwingt neben der „Ruhestätte“ die „Heimstatt“ mit, der Heimgang als Euphemismus des Todes, der wiederum auf den christlichen Gedanken des Geborgenseins in Gott nach dem Tod referiert und nur für uns Irdische „wasserkühl“ oder „blutfarben“ ist – einem Gedanken, der für die pragmatische Moderne in viele Worte gekleidet werden muss, um verständlich zu werden. Eine genauere Abbildung solcher und ähnlicher Bilder in der Übersetzung wäre – gerade an dieser und auch an manch anderer Stelle – wünschenswert gewesen.

Der Stellenkommentar gibt zum Teil verschiedene Lesarten an, übergeht aber auch einiges Zweideutige, was jedoch sicher der Verhinderung einer zu umfangreichen und detaillierten Ausgabe zuzuschlagen ist. Und wenn auch die kritische Auseinandersetzung mit Stackmann zu begrüßen ist, so ergibt sich gerade deshalb die Frage, warum statt des Rückgriffs auf dessen Edition nicht die Chance ergriffen wurde, den originalen Wortlaut der einzig überlieferten Quelle zu übernehmen, da Stackmann zum Teil doch „verschönernd“ in den Text eingreift. Auf die Notwendigkeit einer Neuedition verweist die Herausgeberin selbst im Anhang, so dass dies als Aufgabe für Nachfolger konstatiert werden kann.

Titelbild

Uta Störmer-Caysa (Hg.): Kudrun. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch.
Reclam Verlag, Ditzingen 2010.
665 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783150186398

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