Die Kunst des Eintauchens
Die „Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik“ stellt Immersion als neues mediävistisches Erkenntnisinteresse vor
Von Stefan Seeber
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFaszination, so schreibt es Martin Baisch in seinem Beitrag zum hier rezensierten Band, besteht darin, dass „etwas Unbekanntes oder Ungewisses in einer eigentlich bekannten Domäne“ auftritt: nicht so fremd, dass es Angst macht, nicht so vertraut, dass es langweilt. Die Immersion ist ein solches Faszinosum. Der alt anmutende Terminus (abgeleitet aus immergere – eintauchen) fasst bislang sehr neuzeitliche Phänomene: Das Sich-Verlieren in einem Computerspiel, in einer virtuellen Welt, in einem Film, wobei durchaus auch die Konzentration auf den Gegenstand, nicht ein bloßes Versinken im Gebotenen impliziert ist. Bleumer und seine Mitstreiter wollen die Immersion mediävistisch nutzbar machen, den Begriff also mit einer historischen Dimension versehen, das ist das der Ausgangspunkt ihres Ansatzes.
Bleumers Einleitung skizziert die dabei aufkommenden Denkmöglichkeiten pointiert: Wenn man Immersion als „Sonderfall semantischer Illusion“ begreift, macht dies das Phänomen anschlussfähig für mittelalterliche Kunst allgemein und Literatur im Besonderen. Während gewöhnlich gilt, dass Immersion die Teilhabe des Rezipienten gegen seine Reflexion bevorzugt, also das Nachdenken zugunsten des Versenkens ausschaltet, dreht Bleumer dieses Verhältnis um. Für ihn beruht das Eintauchen als „intensive sinnliche Teilnahme“ darauf, dass der Rezipient sich kognitiv und semantisch suchend mit dem ästhetischen Objekt auseinandersetzt: das Reflexionspotential bedingt die Teilhabe. Daraus ergeben sich Anknüpfungspunkte für Analysen, die das Verhältnis von intellektueller und affektiver Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk und die Frage nach der ästhetischen Bedeutung von dargestellten Praktiken der Immersion in den Blick nehmen.
Die sechs Aufsätze des Bandes greifen dieses Spektrum in unterschiedlicher Weise auf und akzentuieren Immersion je unterschiedlich. Sowohl Barbara Schellewald als auch Balász Nemes führen vor Augen, welches rezeptionsästhetische Potential der Immersion innewohnt. Schellewald bindet die Immersions-Idee an die Ekphrasis zurück und erörtert anhand byzantinischer Mosaiken als Medium von Licht das Phänomen der enargeia. Der Abgleich mit byzantinischen ekphraseis unterstreicht den immersiven Anspruch, der bei der Gestaltung der Sakralräume zielführend war und der eine dynamische Rezeption des Raumes im Eintauchen ermöglicht, um Wahrnehmungs- und Imaginationsprozesse des Betrachters zu bündeln. Nemes hat mit dem „Fließenden Licht der Gottheit“ Mechthilds von Magdeburg einen idealen Untersuchungsgegenstand gewählt: Denn erstens verlangt die Mystik das Versenken und ist sie per se immersiv, zweitens sind mit den Briefen Heinrichs von Nördlingen Rezeptionszeugnisse überliefert, die dieses immersive Lesen nachzuzeichnen erlauben. Nemes nutzt die Idee des involvierten Lesers, der sich auf den Text einlässt, gerade weil das Buch seine eigene Medialität überspielt und Unvermitteltheit evoziert und ihm zudem auratischer Status einer Verkündigung des Gottesworts zukommt. So kann er – für den Sonderfall mystischer Literatur – umfassend das Eintauchen in den Text und die Identifikation mit dem Ich im Text plausibel machen, die nicht allein auf imitatio ausgerichtet ist, sondern auch imaginatio, das aktive Einbringen des Lesers in eine distanzlose Lektüre beinhaltet.
Ebenfalls programmatisch verbindet Martin Baisch Immersion und Faszination in einer knappen, aber weit reichenden Skizze miteinander. Er hebt die Bedeutung der Emotion für die immersive Rezeptionspraxis hervor und versucht zugleich, via Faszination einen „kognitiven Anteil“ in die Konstruktion einzubringen, mithin das paradoxe Verhältnis von Reflexion und Teilhabe aufzugreifen, das auch Bleumers einleitende Worte zum Band aufrufen. Kritisch weiterzudenken ist Baischs These, dass in Texten wie dem „Herzog Ernst“ dargestellte Immersion leseraffizierende Wirkung auszuüben vermag, da im Sinne der komplexen Rezeptionsbedingungen, die Immersion ermöglichen und auf die der Beitrag auch verweist (im Rückgriff auf Robin Curtis) die Darstellung von Immersion nicht ihrer Aufnahme durch die Rezipienten gleichzustellen ist. Auch Christiane Ackermann nimmt in ihrer Analyse des „Alsfelder Passionsspiels“ einen zielgerichteten Einsatz von Immersionspraktiken zur Rezipientenlenkung an, wobei der Figur des Johannes des Täufers als „Schwellenfigur“ die Rolle des „Immersionsappells“ (so Bleumer) zukommen soll. Dies wirft jedoch die Frage auf, ob ostentativ ausgestellte Rezeptionsbedingungen und deiktische Hinweise, also der überdeutliche Hinweis auf den Kunstcharakter des Werkes und seine Anschlussmöglichkeiten nicht das genaue Gegenteil zum Ausdruck bringen, nämlich das Bemühen um eine Distanz zwischen Publikum und Bühnengeschehen, die offenkundig immer wieder eingefordert werden muss. Unter diesem Blickwinkel wäre der betonte Immersionsappell eine contradictio in adiecto, da das Medium und die Grenzen seiner Geltung hervorgehoben werden und damit ein distanzloses Eintauchen erschwert erscheint.
Christine Lechtermann und Christiane Witthöft wenden sich in den beiden abschließenden Beiträgen des Bandes der rein textimmanenten Immersion zu. Lechtermann zeigt anhand der „Crône“ Heinrichs von dem Türlin mögliche Ansatzpunkte für eine Verbindung von Immersionsparadigma und historischer Narratologie auf. Sie setzt Selbstvergessenheit mit Versunkenheit (und damit mit Immersion) gleich. Zudem postuliert sie eine „Logik der Erwartung“, die der Immersion inhärent sei und die für Zukunftsspannung und die Anbindung an die nächste Aventiure, mithin für die narrative Bewegung sorge. Zu fragen ist hier, ebenso wie für Witthöfts Beitrag, der die Spiegelmetapher als Versunkenheitsbild liest, ob das Immersionskonzept nicht zu weit ausgedehnt wird: Witthöft beschreibt, wie die Selbstvergessenheit der in Spiegelbilder versunkenen Fabelfiguren in der „Reinhart Fuchs“-Tradition sie der Lächerlichkeit preisgibt und Immersion Komik produziert. Beide Ansätze zeigen ein literarisches Spiel mit Immersion auf, das in der Zeit „vor der Poetik“ (Robert) so dezidiert nicht einfach vorausgesetzt werden kann, sondern erst umfänglich erschlossen werden müsste: Denn um mit den Regeln zu spielen, müssen diese Regeln zuerst etabliert und anerkannt sein. Hier wäre weitere Arbeit zu leisten.
Insgesamt gilt jedoch: Der vorliegende Band trifft ins Zentrum aktueller Forschungsfragen zur Rezeption, zur Emotionalität, zur Narratologie und Poetik der mittelhochdeutschen Dichtung. Gerade der Werkstattcharakter der Sammlung, die unterschiedlichste Blickpunkte vereinigt, macht den Wert des Buches aus, da hier undogmatisch eine Fülle von Ansatzpunkten für weitere Studien aufgezeigt wird. Vorsicht ist dennoch geboten, da die Versuchung groß ist, alt bekannte Sachverhalte unter neuem Deckmantel zu präsentieren – wenn die Immersion im Mittelalter ein bleibender Frageansatz sein will, muss sie auch an etablierte Debatten, gerade im Bereich persuasiver Rhetorik und der Ekphrasis, anknüpfen und die spezifischen Rezeptionsbedingungen mittelalterlicher Literatur herausarbeiten, die ein Eintauchen in die Text- und Bildwelt möglich machen. So kann die Immersion zu einem großen Gewinn für die Mediävistik werden.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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