Reise um die Erde auf 1000 Seiten

Der erste Band der „Geschichte der Welt“ ist ein Hort honoriger Gelehrsamkeit

Von Patrick WichmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Wichmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Idee, die Geschichte der Welt zu schreiben, ist alles andere als neu. Schon bei Johann Gottfried Herder lässt sich dieser Gedanke finden, im 20. Jahrhundert vertraten Oswald Spengler und Arnold Joseph Toynbee das Konzept der Weltgeschichte. Und auch heute noch ist die Weltgeschichte en vogue: So erscheint seit dem vergangenen Jahr die „Neue Fischer Weltgeschichte“, die es sich zum Ziel gemacht hat, in 21 Bänden die Geschichte der Welt in geografisch und zeitlich abgeschnittenen Einzeldarstellungen abzubilden. In den vergangenen Jahren wurde nun ein weiterer Ansatz zunehmend populär: die Globalgeschichte, die insbesondere durch Jürgen Osterhammels Mammutwerk „Die Verwandlung der Welt“ bekannt wurde. Ein weiteres Großprojekt erscheint sukzessive in den nächsten Jahren. Die „Geschichte der Welt“ will in sechs Bänden zum Standardwerk der global history werden. Als erster Band ist nun „Weltmärkte und Weltkriege“ über die Jahre von 1870 bis 1945 erschienen.

Was jedoch ist diese Globalgeschichte überhaupt? Ziel der Globalgeschichte ist die Herausarbeitung von Prozessen und Kontinuitäten über große geografische Räume hinweg. Gelöst von engen Nationalstaatsperspektiven und dem oft beklagten Eurozentrismus sucht sie nach weltweiten Netzwerken und Transferprozessen und weitet in diesem Bestreben den Blick auch auf Asien und Afrika, die in der ‚klassischen‘ europäischen Geschichtsschreibung meist nur am Rande behandelt werden. Statt sich auf einen Staat oder eine geografische Region zu fokussieren – wie dies etwa die „Neue Fischer Weltgeschichte“ tut – will die „Geschichte der Welt“ global wirksame Strukturen und Prozesse aus der thematischen Masse herausdestillieren.

Für die „Weltmärkte und Weltkriege“ bedeutet das konkret: In den fünf Beiträgen fragen die hauptsächlich US-amerikanischen Autoren nach (1.) der Entstehung der modernen Staatlichkeit, (2.) der Imperien-Thematik, (3.) weltweiter Migration, (4.) dem wachsenden Warenverkehr und (5.) transnationalen Strömungen, wie etwa Ausstellungen und Sammlungen, die als „Knotenpunkte“ einer internationalen Sammler-Öffentlichkeit fungierten. So erkunden die Autoren jeweils auf ihre Weise „das Spannungsverhältnis zwischen der zunehmenden globalen Vernetzung und den Versuchen, die Auswirkungen des rasanten Wandels zu stabilisieren, zu kontrollieren oder zu beeinflussen“ und arbeiten Gemeinsamkeiten und Unterschiede in einer stetig kleiner werdenden Welt heraus.

Die Einteilungszeiträume des Projekts scheinen dabei vielmehr dem Leser als Ankerpunkte zu dienen, als dass sie bindend für die Autoren sind. Wo es thematisch erforderlich ist, greifen diese souverän über die zeitlichen Markstellen hinaus; Charles S. Maier beispielsweise setzt in seinem „Leviathan 2.0“ rund einhundert Jahre vor 1870 an, um die Entwicklung des modernen Staates kontextuell einzubetten. So arbeitet der an der Universität Harvard lehrende Maier in seinem Beitrag einen neuen Typus der Staatlichkeit heraus, der sich in den Jahrzehnten um das Jahr 1900 durch eine Intensivierung der staatlichen Macht weltweit herausgebildet und behauptet habe und auf die „institutionelle[…] Kernschmelze“ des Jahrhunderts von 1750 bis 1850 gefolgt sei. Dabei stellt er die Revolutionierungen von Kommunikation und Transportwesen als wesentliche Vorbedingungen dieser Entwicklung heraus: „Protestantisch oder säkular, männlich und militant, rastlos aufs Geschäft bedacht, Eisenbahnen bauend und neue, verbesserte Geschütze, Gewehre und Schiffe kaufend, befand sich der Nationalstaat unaufhaltsam auf dem Vormarsch.“ Und das auch im wahrsten Sinne des Wortes, wie Maier gleichfalls pointiert. Auch kriegerische Aktivität und die „Unverzichtbarkeit von Gewalt“ beschreibt er als zentrale Elemente dieser Neu-Konsolidierung des Staates. Der xenophobe Nationalismus rund um 1900 wird bei ihm ebenso zu einer „grundlegende[n] Entwicklung“ des Leviathan 2.0, wie die rassische Klassifizierungsmanie die Substitution der alten gesellschaftlichen Hierarchien des 19. Jahrhunderts besorgt habe.

Die Fülle der Beispiele, die souveräne Jonglage von Zeit und Raum, eben die honorige Gelehrsamkeit ist es, die den ersten Band der „Geschichte der Welt“ so bemerkenswert macht. Schon die erste Lektüre rädert ob des außerordentlichen Faktenreichtums; dabei würde die komplette Erschließung des Bandes ein vielfaches Wiederlesen erfordern – so ungemein dicht ist die Informationsfülle und so vielfältig sind die Eindrücke und Erkenntnismöglichkeiten. Gewinnbringend ist die Lektüre dabei allemal, verändert sie doch nicht nur den Blick auf die Vergangenheit nachhaltig, sondern lässt uns auch die Prozesse der Gegenwart aus veränderter Perspektive wahrnehmen. Ein tieferes Verständnis der Genese staatlicher Macht verschiebt ebenso unseren Blick auf das Jetzt, wie Einblicke in die Entstehung von internationalisiertem Handel und prototypischer Globalisierung. Falls die kommenden Bände diesen Eindruck bestätigen sollten, ist klar: Die „Geschichte der Welt“ wird nicht nur das Projekt der Globalgeschichte vorantreiben, sondern auch ein Standardwerk der ,allgemeinen’ Geschichtsschreibung werden.

Titelbild

Jürgen Osterhammel / Akira Iriye (Hg.): Geschichte der Welt. Weltmärkte und Weltkriege 1870-1945. Band 5.
Herausgegeben von Emily S. Rosenberg.
Übersetzt aus dem Englischen von Thomas Atzert,Thorsten Schmidt,Andreas Wirthensohn und Annabel Zettel.
Verlag C.H.Beck, München 2012.
1152 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783406641053

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