Judentum ins Abseits?

Haut ab! Alfred Bodenheimers Rekonstruktion des Erregungsphänomens „Beschneidung“ ist zugleich ein kluges Plädoyer für ein friedliches Zusammenleben in Europa

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass im letztjährigen Diskurs um die religiöse Beschneidung von Jungen einiges durcheinander geriet, hatte ich bereits in einem längeren Beitrag aufzuarbeiten versucht. Dass es zudem gut ist, diesen eigenartigen Diskurs aus der Sicht eines Fachmanns rekonstruieren zu lassen, davon legt ein jüngst im Wallstein Verlag erschienener Essay Zeugnis ab. Auf knapp sechzig Seiten analysiert Alfred Bodenheimer, Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums, die hitzige Debatte aus der Sicht einer der betroffenen Minderheitenreligionen, die in Zeiten eines massiven gesellschaftlichen Wertewandels ins Abseits zu geraten drohen. Entsprechend doppeldeutig betitelt Bodenheimer seinen Versuch, das Kölner Beschneidungsurteil (im Anhang des Buches abgedruckt) und dessen breite öffentliche Rezeption darzustellen: „Haut ab!“

Die jüngste Rechtsprechung würdigend, stellt Bodenheimer fest, dass das entscheidungsleitende Motiv, das Kindeswohl, zunehmend auf die körperliche Unversehrtheit des Kindes reduziert werde, und andere Kriterien des Wohlbefindens (das Gelingen der religiösen Identitätsbildung, ein sozialadäquates Aufwachsen in der eigenen Kultur) dagegen keine Rolle mehr spielten. Zugunsten eines erst zukünftig auszuübenden Selbstbestimmungsrechts des Kindes über seinen Körper werde den Eltern das Erziehungsrecht hier und jetzt entzogen, soweit eben Befugnisse zur Entscheidung in Fragen der religiösen und kulturellen Orientierung (sicherlich ein Teilbereich von „Erziehung“ – für religiöse Menschen zudem ein sehr wichtiger Bereich) aus diesem Recht ausgeklammert werden, mit dem Hinweis darauf, dass sich aus dessen Ausübung ein potentieller Konflikt mit den künftigen Interessen des Kindes ergeben mag, Interessen, die in der jetzigen Entscheidungssituation nicht vom Kind artikuliert werden, ihm aber – so meint man – unterstellt werden können. Der Rechtsstaat gibt dem Kind damit eine Stimme, die eingedenk seiner zukünftigen Interessen gegen die eigentlichen gesetzlichen Vertreter des Kindes, also die Eltern, lautstark interveniert. Das Gericht übernimmt damit schlicht eine weitere Vertretungsrolle (neben der der Eltern), beschränkt sich dabei aber auf den Schutz des Körpers – der Schutz der Seele bzw. die Frage, ob das Kind einst darunter gelitten haben wird, nicht beschnitten (vulgo: „versehrt“) worden zu sein, ist für den Rechtsstaat selbst dann unerheblich, wenn die natürlichen Vertreter des Kindes, sprich: die Eltern, diese Gefahr für ihr Kind erkennen und sie abwehren wollen.

Hier setzt nun der öffentliche Diskurs ein, der im Wesentlichen diese Tendenz in der Rechtsprechung zum Primat des Körpers gegenüber der Seele, zum Vorrang der Unversehrtheit des Menschen gegenüber der Integrität der Person affirmativ fortschreibt, zum Teil in drastischer Diktion (da wird ein Eingriff, der täglich tausendfach vorgenommen wird – zumeist gar nicht aus religiösen Gründen – zum „Akt der Barbarei“), zum Teil unter Verächtlichmachung abweichender Sichtweisen, ohne erkennbares Bemühen, diese in ihrem Sinngehalt auch nur annähernd nachzuvollziehen. Stattdessen bildeten, so Bodenheimer, „Verstaatlichung“, „Kolonisierung“ und „Projektion“ die Eckpfeiler einer Auseinandersetzung, die sich auch als „Ausdruck einer gegen die Religion insgesamt sich wendenden Grundstimmung“ lesen ließe, und die im Kontext der Beschneidung insbesondere gegen das Judentum gerichtet sei.

Bodenheimer spricht in diesem Zusammenhang von „Restrangement“, also einem „Wiederfremdwerden“ der Juden in Deutschland, und bedauert zugleich „die argumentative Unbeholfenheit, eigentlich Fassungslosigkeit, mit der die jüdische Gemeinschaft in Deutschland reagiert“ habe. Neben Äußerungen des Entsetzens und Unverständnisses sowie dem Rückzug auf die Nichtverhandelbarkeit religiöser Grundsätze (und die Beschneidung ist für die Juden ein solches Basis- und Kernelement des Glaubens), sei zum Diskurs wenig beigetragen worden, ein Desiderat, das Bodenheimer nach eigenen Bekunden Anlass bot, den vorgelegten Essay zu schreiben – aus Sicht der Juden und des Judentums, um die „defensive Religion“ aus ihrer neuerlichen Schockstarre zu befreien.

Dazu stellt Bodenheimer zunächst die vorgebrachten Argumente für und wider ein Beschneidungsverbot dar, um das strittige Thema sodann in den religions- und kulturhistorischen Kontext einzubetten (ein Schritt, der für gewöhnlich unterbleibt, wenn in den Medien über das Kölner Beschneidungsurteil diskutiert wird) und mit der Darstellung des innerjüdischen Diskurs im 19. Jahrhundert (Holdheim, Zunz, Geiger) aufzuweisen, dass es bei der Beschneidung aus Sicht des Judentums stets auch darum geht, „das jüdische Kollektiv nicht zu verlieren“ und sich in der Diaspora ein „Recht auf Differenz“ zu bewahren. Die Beschneidung bedeutet für die Juden also mehr als nur ein religiöses Ritual, das sich auf das Glaubensleben des Einzelnen auswirkt; ihr Verbot wirft sie kollektiv zurück, indem es Erinnerungen an Lebensumstände weckt, die „man zumindest in Westeuropa in der Rumpelkammer der Geschichte entsorgen zu können hoffte“. Das sollte man wissen, wenn man über das Beschneidungsurteil urteilt.

Sodann führe ein Beschneidungverbot zu einer substanziellen Aushöhlung der Religionsfreiheit. Es sei nämlich nicht etwa so, dass die Beschneidung zu einer „Beeinträchtigung der religiösen Freiheit des selbstbestimmenden Menschen, der das Kind einmal sein wird“ führe, sondern im Gegenteil: die „Unzuweisbarkeit“ des Kindes (zum Judentum) ziehe die Unmöglichkeit für das Kind nach sich, überhaupt zur Entscheidungsfähigkeit in religiösen Belangen heranzureifen. Die vom Kölner Beschneidungsurteil vorgenommene Aufknüpfung von individueller und kollektiver Religionsfreiheit sorge im Fall jüdischer Jungen, bei denen der „religionsbestätigende Akt der Beschneidung“ unterbleibt, nicht nur für das Unvermögen, als Jude aufzuwachsen und sich im Jüdisch-Sein eine religiöse Identität zu erringen, sondern zugleich auch für die Unfähigkeit, sich bewusst gegen die jüdische Religion zu entscheiden; die Beschneidung hindert ja nicht am möglichen Abfall vom jüdischen Glauben. Darin liegt für Bodenheimer der eigentliche Angriff auf die Religionsfreiheit, die auch bedeuten können muss, „sich gegen etwas zu entscheiden“ (Hervorhebung im Original) – und zwar nicht nur wohlinformiert, sondern aus tiefer innerer Überzeugung, in bewusster Abgrenzung zu dem, was man wirklich kennengelernt hat beziehungsweise kennenlernen konnte. Bodenheimer mahnt daher, dass „Religionsfreiheit unter Hintanstellung der Freiheiten religionsdeterminierender Kollektive zu einem Begriff wird, den man aus dem Grundgesetz auch streichen kann“, weil er so verstanden einen großen Teil seiner Bedeutung eingebüßt hat.

Eines der ganz großen Missverständnisse identifiziert Bodenheimer schließlich im Diskurs um die Männlichkeit. Oft werde im Zuge des „westlichen Phallogozentrismus“ behauptet, mit der Beschneidung (vulgo: „Verstümmelung“) raube man dem Mann seine Männlichkeit. Für Bodenheimer absurd, da „das Beschnittensein vom achten Tag an einen schon vorgesehenen Teil jüdischen Mannseins darstellt“. „Unversehrtheit“ sei dagegen „das spezifische Proprium der jüdischen Frau“. Im Ergebnis bedeutet das für das Argument der Beschneidungsgegner: „Jüdische Männlichkeit wird entweder als jüdische oder als Männlichkeit nicht gewürdigt“. Wer jüdischen Eltern verbietet, ihren Jungen beschneiden zu lassen, attackiert damit also die besondere, religiös bestimmte Geschlechtsidentität des Kindes – ein doppeltes Vergehen, einerseits gegen das Elternrecht auf Entscheidungsbefugnis in Fragen der (religiösen) Erziehung und andererseits gegen das Selbstbestimmungsrecht des männlichen Juden. Die Folge: Das Kind würde fremdbestimmt – als Jude und als Mann.

Ergo: Mit einem Beschneidungsverbot stellte man den jüdischen Jungen, den man zu schützen vorgibt, in seiner Religionsgemeinschaft ins Abseits und nimmt ihm zudem seine geschlechtliche Identität. Zugleich stellt man diese Gemeinschaft als Kollektiv an den Rand der Gesellschaft, indem man eines ihrer Wesensvollzüge kriminalisiert. Alfred Bodenheimer ist dafür zu danken, diese Zusammenhänge kompetent und knapp einsehbar gemacht zu haben.

Titelbild

Alfred Bodenheimer: Haut ab! Die Juden in der Beschneidungsdebatte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
64 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783835312449

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