„Deutsche Kunst“?

Kunsttheoretische Selbstentwürfe und das Wissen über Juden und ‚Zigeuner‘: Richard Wagner und Franz Liszt

Von Andrea GeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Geier und Iulia PatrutRSS-Newsfeed neuer Artikel von Iulia Patrut

Als im Mai vor 80 Jahren öffentlich Bücher verbrannt wurden, war dies Teil einer konzertierten Propaganda gegen einen sogenannten ‚undeutschen Geist‘. Als ‚undeutsch‘ gelten sollten laut den von der Deutschen Studentenschaft verbreiteten „12 Thesen wider den undeutschen Geist“ grundsätzlich alle Deutschen jüdischer Abstammung sowie diejenigen nichtjüdischen Deutschen, die Ansichten vertraten, welche Nationalsozialisten als solche definierten‚ die wider das deutsche Wesen’ gerichtet waren. Deutsche, die ‚undeutsch‘ dächten und handelten, begingen in der nationalsozialistischen Ideologie ‚Verrat‘ an einer ‚deutschen Rasse‘. Die rassistisch begründete Differenzkonstruktion verbindet sich also mit einer moralischen Diskriminierung – „Der Jude kann nur jüdisch denken. Schreibt er deutsch, dann lügt er“ –, welche einerseits die Gefährlichkeit des Kollektivs, dem die Zugehörigkeit zur ‚deutschen Gemeinschaft‘ abgesprochen wird, verdeutlichen soll. Andererseits kann auf diese Weise eine auf den ersten Blick ethnisch definierte Klassifikation, das ‚Deutsch-Sein‘, zu einem kulturell-sozialen Wert umdefiniert werden. Derart auch kulturalistisch bestimmt, erweist sich die Kategorie ‚deutsch‘ als ein fungibel verwendbares Inklusions-/Exklusionsparadigma.

Werden in Diskursen der Mehrheitsgesellschaft bestimmte soziale Gruppen zu innergesellschaftlichen Fremden erklärt, lässt sich in den ihnen zugeschriebenen negativen oder positiv exotisierenden Eigenschaften stets ex negativo ein Werte- und Tugendkatalog erkennen, der das ‚Eigene‘ bestimmen soll. In Beschreibungen von Alterität werden Vorstellungen von Identität notwendig mitverhandelt, und zumeist entwickeln die Autoren dabei eine Gegenüberstellung von ‚Eigen-‘ vs. ‚Fremd‘-Gruppe. Betrachtet man diese konstitutive Funktion des ‚Anderen‘ für das ‚Eigene‘, wird deutlich, dass die Repräsentationen kollektiver ‚eigener‘ und kollektiver ‚fremder‘ Identitäten in einem unauflösbaren Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen.

Seit Jahrhunderten werden als kontrastive Folie für Verhandlungen über die eigene Kultur Bilder von Juden und ‚Zigeunern‘ benutzt. Innerhalb wechselnder Begründungsmuster von Alterität von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, die für Antisemitismus wie auch für ‚Zigeuner‘-Feindschaft religiöse, rassebiologisch und soziografische Argumentationen umfassen, wird deren Differenz zur Mehrheitsgesellschaft jeweils als ‚natürlich‘ behauptet. Die antisemitischen und ‚Zigeuner‘-feindlichen Diskurse der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts knüpften dabei an Argumentationsmuster an, die bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert geprägt wurden. Damals erfolgte eine neue Semantisierung des Begriffs ‚Volk‘, der zu einer Leitsemantik für den deutschen Selbstentwurf als ‚Nation‘ wurde. Damit verbunden modifizierte sich auch die Semantisierung von Juden und ‚Zigeunern‘ – die beiden einzigen Gruppen ‚interner Fremder‘, die nun als ‚Völker ohne Staat‘ galten und teils bemitleidet, weil sie fremden Gesetzen unterlagen, teils für ihre ‚Einheit‘, die sie selbst in der ‚Fremde‘ bewahrten, bewundert wurden. Daneben kristallisierten sich im Zuge des deutschen Selbstentwurfs neue Fragen nach (Staats-)Bürgerlichkeit, nach der eigenen Genealogie, nach dem ‚natürlichen Gewachsen-Sein‘ und vor allem nach dem Stellenwert der Kunst für die deutsche Nation heraus.

Juden und ‚Zigeuner‘ wurden seit der Aufklärung häufig miteinander verglichen – sei es, dass man sie als zwei ‚fremde, asiatische Rassen‘ betrachtete, oder dass man den Gegensatz zwischen jüdischer Schriftkultur und ‚zigeunerischer‘ Oralität hervorheben wollte. Die Entdeckung des Romanes, der Sprache der ‚Zigeuner‘, als einem mit dem Sanskrit aufs engste verwandte Idiom, trug erheblich dazu bei, dass man in den ‚Zigeunern‘ nicht bloß soziale Fremde, sondern ein eigenes Volk sah; viele nicht-jüdischen Gelehrte glaubten in beiden Gruppen ‚interner Fremder‘ ein Irritationspotential für die nach innerer Homogenität strebende ‚deutsche Nation‘ zu finden.

Solche expliziten Vergleiche finden sich unter anderem bei Immanuel Kant, Johann Erich Biester, Johann Christian Christoph Rüdiger, Conrad Wilhelm Dohm oder Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann, während Johann Gottfried Herder Juden und ‚Zigeuner‘ direkt nacheinander im Kapitel „Fremde Völker in Europa“ seiner „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ thematisiert und beide dem asiatischen Kontinent zuordnet. Die Vergleiche zwischen Juden und ‚Zigeunern‘, die meist parallel zu beziehungsweise in Verbindung mit Selbstentwürfen als ‚deutsche Christen‘ generiert wurden, besitzen eine bis in die Frühe Neuzeit zurückliegende Traditionslinie: Exemplarisch zu nennen sind Martin Luther und Johann Christoph Wagenseil.

Die Vergleiche beider Gruppen enthalten meist vor allem exkludierende Semantiken, die sich wechselseitig potenzieren und vor allem die bereits weit fortgeschrittene Akkulturation deutscher Juden infrage stellen. Der ‚asiatische Ursprung‘ dieser Völker macht sie zu Fremden, und auch vermeintlich ähnliche körperlich-physiologische Merkmale werden, so insbesondere bei Theodor Tetzner, als Begründung für deren Ausschluss herangezogen. Strukturell ähnlich ist außerdem, dass die Differenzbildungen zwischen ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘ als Konfliktfeld für einen kulturkritischen Wertediskurs verwendet werden: In dieser Perspektive entwerfen die Texte jeweils in Bezug auf Juden und ‚Zigeuner‘ als ‚Andere‘ zwei Bilder der eigenen Kultur. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts enthalten diese Repräsentationen meist eine kulturkritisch-negative Diagnose des Status quo, also des Zusammenlebens von Deutschen und ‚innergesellschaftlichen Fremden‘; an diesem Negativ-Befund kann sich ein Wunschbild des angeblich wesenhaft positiven ‚Eigenen‘ orientieren. Im Falle der Repräsentation von Juden und ‚Zigeuner‘ erfolgt die Selbstverortung des ‚Deutschen‘ in vielerlei Hinsicht in einer imaginären ‚guten Mitte‘ zwischen beiden Gruppen interner Fremder.

Kunsttheoretische Ausführungen spielten für die Bestimmung des ‚deutschen Wesens‘, das in Abgrenzung zu Juden und ‚Zigeunern‘ begründet wird, eine bedeutende Rolle. Erörtert wurde, wer überhaupt ‚fähig‘ sei, ‚deutsche Kunst‘ zu erschaffen, und diese soziale beziehungsweise kulturelle Frage wurde naturalisiert. Kunst und Nation sind dabei in einer zweiseitig wirksamen Legitimationsfigur miteinander verbunden: Wird das Wesen der ‚wahren‘ Kunst über angeblich spezifische nationale Eigenschaften definiert, werden umgekehrt aus der Beschreibung vergangener oder aktueller ‚wahrer‘ Kunst Charakteristika der nationalen Identität abgeleitet.

Richard Wagners Aufsatz „Das Judentum in der Musik“ (1850/1869) und Franz Liszts umfangreichere Abhandlung „Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn“ (1859) sind herausragende Beispiele für Debatten um das Wesen und den Stellenwert der Kunst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie bilden einen Teildiskurs, an dem die Funktionalisierung innergesellschaftlicher Fremder für die Selbstkonstruktion einer deutschen Nation nach verteilten Rollen besonders deutlich wird. Wie in der Frage rechtlicher Zugehörigkeit wurden Juden und ‚Zigeuner‘ auch im Kunstdiskurs gegeneinander ausgespielt. Die Juden wurden bezichtigt, ihre Religion sei bloßer Intellekt, die ‚Zigeuner‘ dagegen, sie würden weiterhin einer Naturreligion anhängen. In der ‚guten Mitte‘ wird die in die Schranken der Vernunft gewiesene, aber zugleich gelebte deutsch-christliche Religion verortet. Ähnlich wie in den Religionsdiskursen trug die Abgrenzung zu beiden Gruppen auch zur Herausbildung des Ideals einer ‚deutschen Kunst‘ bei.

Im Vergleich der Texte von Wagner und Liszt zeigt sich, wie das Wesen der Kunst als ‚national‘ beschrieben und zu seiner Begründung ein Alteritätsdiskurs über Juden beziehungsweise Juden und ‚Zigeuner‘ entwickelt wird. Am Beispiel der Diskussionen über die Fähigkeit zum künstlerischen Ausdruck lässt sich nachvollziehen, welche symbolischen Orte Juden und ‚Zigeunern‘ darin zugeteilt wurden und welche ‚deutschen‘ Selbstartikulationsprozesse inhaltlicher und (wissenschafts-)struktureller Art durch diese Wissens- und Bildproduktion zustande kamen. Der Fokus auf beide stigmatisierten Gruppen lässt ein vielschichtiges Feld erkennen, auf dem Definitionsprozesse nationaler Kultur als dynamische Prozesse der Selbstkonstruktion im Wechselspiel von Diffamierung und Exotisierung innergesellschaftlicher Fremder in Erscheinung treten. Dabei lösen unterschiedliche, teils widersprüchliche Funktionen beider Gruppen einander ab: Juden und ‚Zigeuner‘ dienten in vergleichbarem Sinne als Gegenfolie der deutsch-europäischen Identitätskonstruktion, jedoch befriedigte ihre Konstruktion als Gegenbilder des ‚Deutschen‘ unterschiedliche Abgrenzungsbedürfnisse beziehungsweise Wunschvorstellungen.

Die angebliche (Un-)Fähigkeit der ‚Zigeuner‘ und Juden zur Kunst

Während in der Frage der Bürgerrechte beziehungsweise des Rechtes auf Bürgerlichkeit Juden und ‚Zigeuner‘ gleichermaßen Objekte einer überwiegend exkludierenden Argumentation waren (wenn auch beide einzelne Fürsprecher in der Mehrheitsgesellschaft fanden), wurden die beiden Gruppen hinsichtlich ihrer Religiosität und ihrer Nähe zur Natur als zwei Extreme gesehen. In Bezug auf beide Aspekte ergaben sich klare diskursive Konstellationen, in denen die eigene (‚deutsche‘) Nation in der ‚Mitte‘ zwischen den beiden Polen (Juden und ‚Zigeunern‘) verortet wurde.

‚Zigeuner‘ standen meist für jene vorzivilisatorische Wildheit, die das eigene Volk angeblich lange schon überwunden habe. Auf der anderen Seite scheint in den ‚Zigeunern‘ der eigene (deutsche) Ursprung auf, wenn ‚Zigeuner’ im Sinne Herders als auf der ‚Kindheitsstufe‘ der Menschheit befindlich betrachtet werden. Alle Errungenschaften der Aufklärung wurden ihnen abgesprochen, vom freien Gebrauch des Verstandes, von der Fähigkeit zur Reflexion über gesellschaftliche Organisationsformen bis hin zur Sittlichkeit und Moral. Selbst das Vermögen zu religiösem Denken fehlte ihnen angeblich. Sie seien als rohe ‚Naturkinder’ zu betrachten, deren Entwicklungsfähigkeit zwar nicht ganz auszuschließen, aber auch nicht unbedingt anzunehmen sei.

Ganz anders die gängigen Repräsentationen der Juden: Diese verfügten angeblich über eine überstarke religiöse Bindung. Ihr Dogmatismus verunmögliche die Teilhabe an einer aufgeklärten Mehrheitsgesellschaft, aber auch eigentliches eigenes Erleben, da sie Moralregeln nicht aus dem individuellen Gefühl, sondern nur aus den Heiligen Schriften ableiteten und nur auf die eigene Gruppe bezögen. Als Beispiel sei hier Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann genannt, der in seinem „Historischen Versuch über die Zigeuner“ (1787) die fehlende Religiosität der ‚Zigeuner’ mit der „eigenthümliche[n] angestammte[n] Religion“ der Juden verglich. Das ‚jüdische Muster‘ in der mosaischen Religion wird bei Grellmann zum Gängelband eines (eben unmöglichen) Fortschritts der Juden, und es wird vor allem zur Gegenfolie der ‚aufgeklärten Religion‘ der Mehrheitsgesellschaft.

Die eigene Nation wird mittels der Kritik an beiden Gruppen aufgewertet: Während Juden in ihrem angeblichen religiösen Eifer gebremst und dem mäßigenden Einfluss der Aufklärung unterzogen werden müssten, bedürften die ‚Zigeuner‘ einer schonenden Unterweisung in den Grundbegriffen der Religion und der Moral. Grellmann bringt dabei die im Kontext deutscher Identitätskonstruktion polarisierte Markierung von Religiosität/Irreligiosität der Juden beziehungsweise ‚Zigeuner‘ noch einmal auf einen gemeinsamen Nenner und setzt sie in ein strukturelles Oppositionsverhältnis zur Mehrheitsgesellschaft: Angeblich würde sowohl das Beharren der Juden auf ihrem strengen, in die Isolation führenden Glauben, als auch jenes der ‚Zigeuner‘ auf ihrem Heidentum, aus ein und derselben Wurzel stammen: aus ihrer „orientalische[n] Abstammung“. Den ‚Orientalen‘ als „rohen Menschen“ sei es, so Grellmann, „eigen, fest an dem zu hängen, wozu sie gewöhnt sind“. Damit wird die These von dem Konservatismus und der mangelnden Wandelbarkeit der angeblich extremen, für eine moderne, zivilisiert-aufgeklärte Nation untragbaren Lebensweisen begründet. Für die so konstituierte und in ihrem Status quo bestätigte Mehrheitsgesellschaft – in Wahrheit unwillig, sich mit alternativen kulturellen, sozialen und religiösen Organisationsformen und Ordnungssystemen auseinanderzusetzen – wird somit die Position eines vernünftigen, lernfähigen, fortschrittsfähigen Europäertums aufgebaut.

Mitte des 19. Jahrhunderts erhalten Herkunftsdiskurse neue Konnotationen: Im Zuge einer fortschreitenden Assimilierung der Juden verbindet sich ihre angebliche Heimatlosigkeit (die auf den ersten Blick jener der ‚Zigeuner‘ vergleichbar scheint) mit einer Kritik an der modernen Zivilisation, als deren prototypische Vertreter sie nun in antisemitischen Texten gelten. Während ‚Zigeuner‘ weiterhin ein Übermaß an ungezügelter, ursprünglicher Natur verkörpern, stehen Juden zunehmend für ein Übermaß an Zivilisation – für eine Zivilisation, die angeblich nicht aus einer eigenen (‚jüdischen‘) Synthese aus Natur und Kultur entstand, sondern durch mechanische, ‚unechte‘ Nachahmung der Errungenschaften des deutschen ‚Kulturvolks‘. Auch in dieser Hinsicht befindet sich der imaginäre Standort des eigenen (deutschen) Volkes in der ‚gesunden Mitte‘ zwischen den beiden Gruppen innergesellschaftlicher Fremder. Das eigene Volk besitzt ein Heimatland und kann somit seine kreativen Kultur-Kräfte ‚aus der Natur schöpfen‘. Auch die ‚Zigeuner‘ verfügen angeblich über die (an sich positiv konnotierte) Naturnähe. Allerdings ist diese im Übermaß vorhanden und wird nicht in eine eigene Kultur überführt. Die ‚deutsche Mehrheitsgesellschaft‘ gebraucht dagegen die regulierenden Kräfte des Verstandes und der Moral. Die Aufklärung wird als alleiniger Erbteil dieser ‚guten Mitte‘ sowie als Garant des richtigen Maßes gesehen und beiden Gruppen innergesellschaftlicher Fremder abgesprochen.

Wagners und Liszts Beschreibungen ‚jüdischer Kunst‘ beziehungsweise der ‚Zigeunerkunst‘ stehen im Kontext einer kulturkritischen Perspektive, in der die Juden das Zerrbild des eigenen gesellschaftlichen Verfalls verkörpern. Dies gilt insbesondere für die zunehmende Ökonomisierung – gerade auch von Kunst und Bildung – sowie für die allgemeine Tendenz zu Dekadenz und Luxus. Eng mit der kulturkritischen Perspektive der Texte Wagners wie Liszts ist die Naturalisierung von Identitäts- und Alteritätskonstruktionen verbunden: Dieses Argumentationsmuster bildet die Voraussetzung dafür, dass der Kunst der eigenen Zeit verheerende Diagnosen gestellt werden können, ohne dass das positive nationale Selbstbild verletzt würde. Auf diese Weise erhalten die durchaus kritischen Selbstverständigungen über die eigene Kultur ihren grundsätzlich identitätsstabilisierenden Charakter.

Wagners Schrift wurde 1850 zunächst unter dem Pseudonym K. Freigedank in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ in Leipzig veröffentlicht. Die zweite erweiterte Fassung erschien 1869 als eigenständige Broschüre, eingebunden in ein Schreiben an die Fürstin Marie von Mouchanoff, die als adlige Gönnerin über die angeblich in der Kunstkritik verbreitete jüdische Kritik an Richard Wagner, ihrem Protegé, informiert werden sollte. Bereits hier wird die Umkehrung und Entschuldung des eigenen Antisemitismus erkennbar. Wagner und Liszt gehen von einem organischen Modell des Volks- und Staatskörpers aus, in dem das Verhalten von Individuen als Ausfluss eines kollektiven Habitus verstanden wird: „[…] es ist das Eigenthümliche nationaler Gesinnungen daß sie selbst die Bethätigung derjenigen bedingen, die sich in ihren Motiven keine Totalanschauungen zu bilden wissen, indem sie von zarter Kindheit an sich im Menschen so festsetzen daß sie zum Instinkt werden.“

Die Berufung auf die ‚Instinkte‘ hat bei beiden Autoren eine doppelte Funktion: Erstens werden damit ‚natürliche‘ Unterschiede zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den beiden Gruppen erklärt, die zweitens – und das gilt sowohl für die Fremd- als auch für die Eigengruppe – unleugbar seien. Wird für Juden und ‚Zigeuner‘ eine individuell nicht zu überwindende Prägung behauptet, aus der eben ihre Fähigkeit bzw. Unfähigkeit zur Kunst resultiert, dient das Argument im Hinblick auf die Eigengruppe vor allem zur Plausibilisierung der antisemitischen Einstellung. ‚Instinkte‘ blockieren im Falle der innergesellschaftlichen Fremden den Fortschritt, während sie bei der Gruppe der ‚Eigenen‘ für Selbsterhaltung und ‚Reinhaltung‘ sorgen, aber auch der Perpetuierung tragfähiger Selbstentwürfe dienen. So will etwa Wagner seinen Leserinnen und Lesern den Eindruck vermitteln, er objektiviere und erkläre lediglich eine Abneigung gegen die Juden, die sich die Deutschen aufgrund ihrer ‚Humanitätsduselei‘ nicht eingestehen wollten. Dabei sei die „instinktmäßige Abneigung“ der Deutschen nicht nur richtig, sondern auch legitim: Sie fühlten sich nun einmal ‚unwillkürlich abgestoßen‘ und empfänden einen „natürlichen“, „unwillkürliche[n]“ und „unüberwindlichen Widerwillen“.

Dies ist in Wagners Augen in Anbetracht der angeblichen Bedrohung, die von den Juden für die eigene (deutsche) Nation ausgehe – und die auch Liszt seinen Lesern drastisch vor Augen führt – ein ‚notwendiges‘ Gefühl. Wagner, der sich als enttäuschter ehemaliger Verfechter des Liberalismus darstellt, stilisiert sich zum Aufklärer seiner Rezipientinnen und Rezipienten. Diese hingen einem grundlegenden Irrtum an: Die Juden seien in Wahrheit nicht nur emanzipiert, sondern ‚herrschten‘ bereits: „Der Jude ist, nach dem gegenwärtigen Stande der Weltdinge, wirklich bereits mehr als emanzipiert: er herrscht und wird so lange herrschen als das Geld die Macht bleibt, vor der all unser Tun und Treiben seine Kraft verliert.“

Diese Täter-Opfer-Umkehr ist seit Martin Luthers berühmt-berüchtigter Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) ein topisches Argumentationsmuster des antisemitischen Diskurses, das die Dringlichkeit des ‚Kampfes‘, zu dem Wagner aufruft, deutlich machen soll: Nun gelte es „um Emanzipation von den Juden zu kämpfen“. Diese Täter-Opfer-Umkehr lässt sich auch in der Semantisierung der ‚Zigeuner‘ beobachten und wird bereits in der Wortwahl greifbar, wenn etwa von dem ‚Zigeunerunwesen‘ die Rede ist; die Verfolgten werden als Schädlinge gebrandmarkt, die an der Arbeit der ‚guten Staatsbürger‘ schmarotzen. Auch hinsichtlich dieses Aspekts decken sich exkludierende Argumentationen also weitgehend für beide Gruppen, wobei allerdings Phantasien von einer Herrschaft der ‚Zigeuner‘ fehlen. Letzteres hängt damit zusammen, dass offenbar die Angst vor einer eventuellen Überlegenheit der ‚Zigeuner‘ vergleichsweise geringer war, was wiederum auf die bipolare Konstruktion des ‚Eigenen‘ zwischen ‚Natur‘ und ‚Überzivilisation‘ zurückgeführt werden kann.

Das Paradigma der ‚Volkscharaktere‘ ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die Einschätzung der Kunstfähigkeit von hoher Relevanz. Daher beschäftigen sich beide Autoren ausführlich mit dem ‚natürlichen’ Wesen der Fremdgruppen. Im Mittelpunkt steht die behauptete grundsätzliche Fremdheit beider gegenüber der Mehrheitsgesellschaft, die auf unterschiedliche Weise über ihren Zugang zur Natur und ihre Heimatlosigkeit sowie – insbesondere bei Liszt – über die Religiosität konstruiert wird.

Die Juden sind bei Wagner wie bei Liszt, der in der Semantisierung der Juden an Wagner anknüpft, unfähig zu einer wahrhaften Kunst, da sie es als überzivilisiertes, stets nur nachahmendes Volk verlernt hätten, sich selbst und anderen ihre eigenen Gefühle zu offenbaren. Hinsichtlich der Zigeuner schreibt Liszt dagegen, sie besäßen nicht genügend Intelligenz und Zivilisation für eine in Sprache gefasste, begrifflich reflektierte Nationalkunst. Laut Wagner und Liszt sind die Juden zur ewigen Maskerade der National-Kunst und des National-Ausdrucks anderer Völker verdammt; ein gewisses ‚Wie‘ verrate stets die fehlende Authentizität ihrer Kunst. Diese resultiert für Wagner direkt aus einer Unfähigkeit zum sprachlichen Ausdruck insgesamt: „Der Jude spricht die Sprache der Nation, unter welcher er von Geschlecht zu Geschlecht lebt, aber er spricht sie immer als Ausländer“.

Juden werden als ‚Nicht-(Staats-)Bürger‘ zu ausdrucks- und kunstlosen Menschen, und mit dieser Ausgrenzung korrespondiert eine Ableitung guter deutscher Kunst aus einem ungetrübten Verhältnis zur eigenen Sprache und zur Heimat-Natur. Das Paradigma der ‚Authentizität‘ ist entscheidend dafür, dass Franz Liszt den ‚Zigeunern‘ Kunstfähigkeit zuerkennt, obwohl diese ebenfalls heimatlose Fremde sind, die wie die Juden auf die ‚Blutreinheit‘ ihrer Volksgruppe achten, und obwohl sie viele weitere negative Merkmale mit den Juden teilen, darunter insbesondere ‚unmoralische‘ Verhaltensweisen. Die ‚Zigeuner‘ seien jedoch, so Liszt, auf Grund ihres Festhaltens an der eigenen Kulturtradition kunstbegabt und lediglich gegenüber den europäischen Nationalkulturen noch minderwertig. Liszt begründet ausführlich, dass die ‚Fremdheit‘ der Juden und ‚Zigeuner‘ in Bezug auf die Deutschen noch lange keine Ähnlichkeit unter diesen beiden Gruppen implizieren müsse: „Beide Völker sind gleichmäßig von demselben nationalen Sinn beherrscht; nur wird durch ihn das eine zu gänzlichem Vergessen, das andere zu ausschließlicher Liebe der Natur getrieben, das eine zu systematischer Böswilligkeit gegen die übrigen Menschen, das andre zu dem unüberwindlichen Verlangen fern von ihnen zu bleiben; beide aber zu gleichem Schweigen über die Mysterien ihrer Nationalitäten; das eine zum Ausbieten der Kunst der Heiden ohne Erguß des eignen Seelenausstroms in dieselbe, das andre zum Schaffen einer eignen Kunst zum Ausdruck des Inneren […].“

In dieser Weise werden gleichartige Eigenschaften bei Liszt durchgängig zum Argument für die Gegensätzlichkeit der beiden Gruppen. Die unreflektierte Naturnähe der ‚Zigeuner‘ prädestiniere sie zu einer begriffslosen, aber doch erhaben-beeindruckenden Tonkunst, die zwar ‚primitiv‘ sei, aber doch berühre.

Juden und ‚Zigeuner‘ sind hinsichtlich ihrer Religiosität gegensätzlich semantisiert. Wagner und Liszt knüpfen beide an den Antijudaismus an und machen die Verwurzelung der Juden in ihrer Religion für deren angebliche Unfähigkeit zur Kunst mit verantwortlich. ‚Zigeuner‘ sind bei Liszt dagegen trotz ihrer Religionslosigkeit zur musikalischen Kunst durchaus fähig. Als ‚Natur-Kinder‘ – so die Argumentation, die an den aufklärerischen Diskurs über die ‚edlen Wilden‘ erinnert – könnten sie der Religion gar nicht fern sein, sie besäßen bloß noch keine Begriffe davon. In dieser gegensätzlichen Semantisierung werden Juden und ‚Zigeuner‘ wieder einmal zu konträren Polen einer mittig verorteten deutsch-europäischen Gesellschaft, in der Kunst und Religion in einem ausgewogenen oder zumindest unproblematischen Verhältnis zueinander stehen.

Sie befänden sich noch auf einer Vorstufe zur Nationalkunst und ihr ‚Nationalepos’ sei noch nicht entstanden. Dies könne aber in entfernter Zukunft, nachdem sie möglicherweise ‚zivilisiert‘ und der Mehrheitsgesellschaft zugeführt würden, durchaus geschehen. ‚Gute deutsche Kunst‘, so wie sie Liszt in Bach und Beethoven und deren Konzept der Polyphonie umgesetzt sieht, schöpfe aus der Natur (was auch für die Kunst der ‚Zigeuner‘ zutrifft), sei aber zusätzlich durch individuelle Genialität großer Künstler reflektiert und veredelt. Die ‚Zigeuner’-Kunst gilt Liszt daher als eine Vorstufe deutscher Kunst. Deren Komplexität, die sich aus dem gelungenen (polyphonen) Miteinander von Natur, Kultur, Nation, Zivilisation und individueller Genialität ergibt, zeichnet sich positiv ab auf dem Hintergrund der ‚Zigeuner‘-Kunst, die laut Liszt lediglich Ausdruck einer einfachen Natur-Empfindung ist. Für Liszt kennen die ‚Zigeuner‘ noch keine Individuierung. Ihre Kunst sei noch kollektiv-austauschbar, denn alle empfänden das Gleiche. Dies unterscheide sie von der deutschen auf Individualität beruhenden Künstler-Genialität. Umgekehrt stilisiert Liszt die ‚primitive‘ Kunst zum Vorbild einer ihrer eigentlichen schöpferischen Kraft heute nicht mehr gerecht werdenden Nationalkunst. Die Musik der ‚Zigeuner‘ sei von einer leidenschaftlichen Ausdruckskraft, „von welcher unsere in Übersättigung verwelkten, durch oberflächliche Leidenschaften und erkünstelte Begierden entkräftete Herzen […] keine Ahnung haben können“.

Diese Kritik am Zustand der eigenen Kultur soll als eine Art ‚Weckruf‘ wirken und eine Besinnung auf die eigenen Werte herbeiführen. Dieses Ziel verfolgt auch Wagner. Bei beiden Autoren entsteht daher in der Abgrenzung von Fremd- und Eigengruppe das für kulturkritische Texte typische doppelte Zerrspiegel-Bild der eigenen Kultur: Ein aus der Tradition begründetes Ideal, das in der gegenwärtigen Kunst nicht mehr erreicht werde, verheißen die Texte für die Zukunft – unter der Bedingung, dass die Ratschläge der Autoren befolgt werden.

Die Juden wiederum stellen für Wagner und Liszt nicht nur eine Ursache des kulturellen Verfalls als vielmehr prototypische Vertreter der Gesellschaft dar, an denen sich die Verfehlungen der eigenen Kultur am deutlichsten zeigen. Die angeblich verwerflichen, monetären Motiven entspringende Assimilation der Juden mache sie zu einem Typus, an dem sich stellvertretend eine Warnung vor Kommerzialisierung und Konventionalisierung aussprechen lasse. Wagner und Liszt setzen jüdische Kunst mit Orientierung am Profit und am Publikumsgeschmack gleich – Tendenzen, vor denen sie die deutsche Musik möglichst bewahren möchten. Dass „das Judentum das Gewissen unserer modernen Zivilisation“ ist, wie Wagner schreibt, benennt die Spiegelfunktion der Juden ebenso offen wie die folgende Warnung der deutschen Mitbürger, über die desolaten Verhältnisse und Möglichkeiten der Verbesserung nachzudenken:

„Dies sind die wichtigsten Punkte, die jetzt die Aufmerksamkeit eines jeden, der es redlich mit der Kunst meint, ausschließlich auf sich zu ziehen haben. […] Wer diese Mühe scheut, wer sich von dieser Erforschung abwendet, […] den eben begreifen wir jetzt mit unter der Kategorie der Judenfeindschaft in der Kunst, der die wirklichen Juden nur die kenntlichste Physiognomie, durchaus nicht aber die eigentliche Bedeutung gegeben haben.“

Die Stellvertreterfunktion der Juden lässt die Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft begründungsbedürftig werden. Diese Verfehlungen werden daher – und dies ist ganz entscheidend – anders als bei der Eigengruppe nicht einfach als ‚Dekadenzerscheinungen‘ betrachtet, die schlicht wieder behoben werden könnten. Vielmehr werden sie als Teil der ‚Natur‘ der ‚Fremden‘ vorgestellt. Gerade weil die Autoren im Rahmen ihrer kulturkritischen Argumentation eine bedrohliche ‚Ähnlichkeit‘ zwischen den Juden und der eigenen Kultur herausstellen wollen, erfordert es die Logik ihrer Argumentation, dass sie die Fremdheit der Juden für unüberwindlich erklären. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass die vorgeschlagene Exklusion der Juden als erfolgversprechender Schritt auf dem Weg zu deren Gesundung der ‚deutschen Kultur‘ angepriesen werden kann. Der in der Spiegelungsfunktion angelegten Gleichsetzungs-Tendenz wirken in Wagners und Liszts Texten daher die Ausführungen über das ‚Wesen‘ der Juden entgegen. Sie dienen dazu, die in Hinsicht auf die Konsumorientierung und den „Kunstwarenwechsel“ den zeitgenössischen (nicht-jüdischen) Deutschen so ähnlichen Juden der Mehrheitsgesellschaft möglichst fremd erscheinen zu lassen. Dies plausibilisiert insbesondere Wagner mittels ausführlicher diffamierender Beschreibungen der Körper von Juden. Der Ähnlichkeit im Habitus wird eine basale, ‚instinktive’ und unbezweifelbare körperliche Differenz gegenübergestellt, die das Aussehen, das Sprechen sowie die Stimmqualität betreffen und zur Behauptung einer generellen Ausdrucksunfähigkeit in bildender wie darstellender Kunst, in Literatur und Musik führen. Die Differenz der ‚natürlichen‘ Veranlagung wird zum Beweis dafür, dass die Juden mit diesen Voraussetzungen in der deutschen Kultur nur Erfolg erlangen konnten, weil diese mittlerweile selbst von ihrem Ideal entfernt sei.

Die ‚Zigeuner‘, fähig, Musik zum Ausdruck ihres Inneren zu machen, sind für Liszt Gegenstand von Empathie. Ihre ‚Authentizität‘ ermöglicht ein gegenseitiges Verstehen und Anerkennung – nicht nur, aber gerade auch ihrer Kunst. Die Fremdheit, die die ‚Zigeuner‘ genauso auszeichnet, wird für überwindbar erklärt, da deren Traditionsverbundenheit eine gewisse Ähnlichkeit zu den Selbstentwürfen (deutschsprachiger) Nationalkulturen bedeute. Dies heißt dennoch nicht, dass ‚Zigeuner‘ als reale Subjekte Einlass in die ‚Nation‘ erhalten. Die kriminalpolizeilichen Ordnungsdiskurse, lokale Behörden und das Fortbestehen von Vorurteilen verhindern dies, so dass ‚Zigeuner‘ eine ambivalente Position innehaben: Zum einen sind sie ähnlich (insbesondere als Statthalter des ursprünglichen, unverfälschten Umgangs mit der Natur), zum anderen sind sie das auszuschließende Gegenteil der bürgerlichen Nation (angeblich unfähig, an deren Ordnung und Moral zu partizipieren).

Die Juden erhalten dagegen bei Wagner wie bei Liszt eine klare Gegenposition zu den Selbstentwürfen europäischer Nationalkulturen. Durch die Berufung auf ‚Natur‘ werden sie zum Inbegriff einer unüberbrückbaren Fremdheit. Als ‚Lösung‘ steht am Ende von Wagners Schrift eine antisemitische ‚Hoffnungsvision‘ vom Untergang des jüdischen Volkes. Diese Passage war und ist immer wieder Gegenstand kontroverser Interpretationen. Emphatisch beschwört Wagner eine Selbstvernichtung der Juden: „Gemeinschaftlich mit uns Mensch werden, heißt für die Juden aber zu allernächst so viel, als – aufhören, Jude zu sein“. Dass die ‚Erlösung‘ der Juden ihren nicht näher definierten Untergang meint, ist dabei unübersehbar: „Aber gerade Börne lehrt Euch [die Juden], wie diese Erlösung nicht in Behagen und gleichgültig kalter Bequemlichkeit erreicht werden kann, sondern daß sie, wie uns [!] nur durch Schweiß, Not und Fülle des Leidens und der Schmerzen zu erkämpfen ist.“

Der Schlussappell bedeutet nicht einfach den Wechsel des Adressaten, von einer Rede über die Juden zu einer Rede an sie, denn an diese war als Leser keineswegs gedacht. Vielmehr bietet Wagner den nicht-jüdischen deutschen Adressaten eine Lösung für das vorgestellte Problem an, die als für Juden selbst vorteilhaft vorgestellt wird und damit das Gewissen der Deutschen entlastet.

Liszt dagegen plädiert für eine – gegebenenfalls gewaltsame – Vertreibung der Juden nach Palästina: Da für sie inmitten anderer Nationen keine Entwicklungsmöglichkeit mehr bestünde, könnten sie höchstens in einem national-monokulturellen Wirkungskreis eine Verbesserung erlangen.

Zur Produktivität des Vergleichs für deutsche Selbstentwürfe

Vorstellungsbilder von Juden und ‚Zigeunern‘ werden, dies zeigten die Beispiele Wagners und Liszts, gleichermaßen für Prozesse einer Identitätskonstruktion instrumentalisiert. Im Rahmen eines als homogen gedachten Ideals der Nation werden Juden und ‚Zigeuner‘ durch die Merkmale der ‚Heimatlosigkeit‘ und Nicht-Zugehörigkeit zu einer Nation in eine Position des Dritten gerückt. Gleichermaßen zu ‚natürlichen Fremden‘ erklärt, werden ihnen jedoch unterschiedliche Rollen zugewiesen: Juden werden bei beiden Autoren zu einem Typus, an dem sich eine (ausschließlich negative) korrupt-käufliche und bis zur Dekadenz über-zivilisierte Gesellschaft kritisieren lässt. Die zunehmende Assimilation ist dabei paradoxerweise Voraussetzung und zugleich Movens der antisemitischen Kritik an der Modernisierung, an Liberalismus und Emanzipationsbewegungen: Nur auf der Basis einer ‚Ähnlichkeit‘ können Juden zur Mahnung für die Fehlentwicklungen der eigenen Gesellschaft werden, die diese zu zerstören drohen. Umgekehrt ermahnen ‚Zigeuner‘ als Idealbild des eigenen (deutschen) Ursprungs, der Einheit als ‚Volk‘ zu gedenken, sich nicht zu entzweien und auf das Gefühl zu achten. Hierin liegt eine Analogie zwischen Deutschen und ‚Zigeunern‘, die durch den zeitlichen Abstand zwischen der Gegenwart des 19. Jahrhunderts und dem imaginierten ‚Kindheitsstadium‘ des eigenen Volks zwar wieder in eine Differenz überführt wurde; insgesamt galt es aber hinsichtlich der Juden wie der ‚Zigeuner‘ die gefährdete Abgrenzung zwischen ‚Eigenem‘ und ‚Anderem‘ durch die Berufung auf die ‚natürlichen Wesensunterschiede’ wieder herzustellen. Diese Bemühungen um Abgrenzung nahmen um 1900 zu und kulminierten schließlich in eugenischen Argumentationen, laut denen zur ‚Genesung‘ der Gesellschaft im Sinne der Wiederherstellung ihrer ‚Reinheit‘ die Juden und ‚Zigeuner‘ exkludiert werden sollten. Im Unterschied zu den Juden, denen eine ausschließlich negative Rolle zugewiesen wird, stilisiert Liszt die ‚Zigeuner‘ zu einem Ur-Bild gelungener Verwurzelung, das seiner Ansicht nach konstitutiv für das eigene (deutsche) Selbstverständnis sein sollte. Im Rahmen der kulturkritischen Argumentation stellt die den ‚Zigeunern‘ zugeschriebene Traditionsgebundenheit und ihr Kunst-Gefühl das Ideal einer Gemeinschaft dar, wie sie auch die deutsche Wir-Gruppe charakterisieren soll. Allerdings werden auch die ‚Zigeuner‘ durch ihre angebliche ‚Primitivität‘ und kindliche Entwicklungsstufe aus der komplexen gegenwärtigen deutschen Gesellschaft ausgeschlossen, wodurch sich die Höherwertigkeit der Eigengruppe bestätigt.

Die Verhandlungen über das ‚Wesen‘ der Volkscharaktere dienen zur Konstruktion von Ähnlichkeiten und Differenzen der Fremden, in denen Potentiale zum Vorbild und Gegenbild für das nationale Kollektiv liegen. Diese kristallisieren sich in den Polen ‚Gemeinschaft‘ vs. ‚Gesellschaft‘. Die gegensätzlichen Semantisierungen von Juden und ‚Zigeunern‘ hinsichtlich ihrer (Un-)Fähigkeit zur Kunst in der Mitte des 19. Jahrhunderts erklären sich also aus unterschiedlichen Vergleichs- beziehungsweise Abgrenzungsbedürfnissen in ein- und demselben Prozess deutscher Selbstverständigung.

Zitierte Texte:

Dohm, Christian Wilhelm: Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden. Berlin und Stettin 1781.

Grellmann, Heinrich Moritz Gottlieb: Historischer Versuch über die Zigeuner betreffend die Lebensart und Verfassung, Sitten und Schicksale dieses Volks seit seiner Erscheinung in Europa und dessen Ursprung. Zweite, viel veränderte und vermehrte Auflage. Göttingen 1787.

Rüdiger, Johann Christian Christoph: Von der Sprache und Herkunft der Zigeuner aus Indien. Hg. von Harald Haarmann. Hamburg 1990 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1782].

Liebich, Richard: Die Zigeuner in ihrem Wesen und ihrer Sprache. Nach eigenen Beobachtungen dargestellt. Leipzig 1863.

Liszt, Franz: Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn. Deutsch bearbeitet von Peter Cornelius. Pesth 1861 (Erstausgabe: Liszt, Franz: Des bohèmiens et de leur musique en Hongrie. Paris 1859).

Luther, Martin: Von den Juden und ihren Lügen, in: Ders.: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, 53. Band, Nachdruck der Weimarer Ausgabe. Graz 1968, S. 412–552.

Wagner, Richard. Das Judentum in der Musik. In: Kneif, Tibor (Hg.): Richard Wagner. Die Kunst und die Revolution. Die Juden in der Musik. Was ist deutsch? München 1975, S. 51-77.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Fassung des gemeinsamen Aufsatzes der Autorinnen: „‚Deutsche Kunst‘? Wissensproduktion über ‚Zigeuner‘ und Juden in Kunstdiskursen des 19. Jahrhunderts“. In: ‚Zigeuner‘ und Nation. Repräsentation-Inklusion-Exklusion. Hrsg. von Herbert Uerlings und Iulia-Karin Patrut. Frankfurt a.M. 2009, S. 151-168.