Neues zum Prager Zionismus

Dimitry Shumskys Studie löst ein (scheinbares) Paradox

Von Hans-Joachim HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Joachim Hahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die zionistische Bewegung war in ihren Anfängen am Ausgang des 19. Jahrhunderts im zarischen Russland und im Habsburger Imperium eine vielstimmige Erscheinung und bildete an den Orten ihrer Entstehung häufig spezifische Formen und Selbstverständnisse aus. In Abhängigkeit unter anderem von den jeweiligen soziokulturellen Bedingungen, die sich in Wilna, Warschau, Wien, Budapest oder Prag stark voneinander unterschieden, waren auch die Vorstellungen von der jüdischen Nation, dem jüdischen Nationalismus und dem künftig zu begründenden „Judenstaat“ alles andere als homogen. Insbesondere die Entstehung und Entwicklung des Prager Zionismus fand dabei während der vergangenen Jahrzehnte großes Interesse in der Geschichts- und Sozialwissenschaft. Nicht zuletzt wegen der überragenden Gestalt Franz Kafkas, dessen Freund und Nachlassverwalter Max Brod (1884-1968) zu den zentralen Protagonisten des Prager Zionismus gehörte, beschäftigt die spezifische Situation der Prager Juden während des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts auch die Germanistik seit Langem. Und dennoch gibt es Neues zu entdecken, wie eine jüngst veröffentlichte Studie zeigt, die einen interessanten Perspektivwechsel vornimmt.

So blieb der Zionismusforschung, wie Dimitry Shumsky in der Einleitung seiner jetzt ins Deutsche übersetzten, bahnbrechenden Untersuchung bemerkt, die auf seiner zwischen 2001 und 2004 an der Universität Haifa entstandenen Dissertation beruht, zwar nicht verborgen, dass führende Mitglieder der um 1899/1900 gegründeten, jüdischen Studentenvereinigung Bar Kochba später zum radikalen Flügel des 1925 von Arthur Ruppin (1876-1943) in Jerusalem ins Leben gerufenen Brit Schalom gehörten. Hier setzten sich die nach Palästina emigrierten früheren Prager Zionisten Hugo Bergmann (1883-1975), geistiger Vater des Bar Kocha und in den Jahren 1903 und 1904 dessen Obmann, Robert Weltsch (1891-1982), dessen mutiger Leitartikel zum nationalsozialistischen Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 in der von ihm mitherausgegebenen „Jüdischen Rundschau“ unter dem Titel „Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck!“ ihm Berühmtheit einbrachte, und der spätere Nationalismusforscher Hans Kohn (1891-1971) in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre für eine binationale Staatenlösung ein. Wie aber passte dieses Engagement für einen Ausgleich zwischen den Arabern und den zionistischen Siedlern Palästinas zum angeblich partikularistischen jüdischen Nationalismus, den die Mitglieder des Bar Kochba in Prag entwickelt hatten? Hatten die Prager Bar Kochba-Mitglieder in der intellektuellen Begründung ihres Zionismus nicht unter dem Einfluss Martin Bubers (1878-1965) gestanden, der in seinen drei zwischen 1908 und 1910 in Prag gehaltenen Reden sogar die Semantik völkisch-nationaler Sprache zur Begründung eines jüdischen Nationalismus implementierte? Das berühmte, 1913 von Hans Kohn für den Bar Kochba herausgegebene Sammelbuch „Vom Judentum“ machte jedenfalls eine auffällige intellektuelle Verbeugung vor Buber; zugleich aber ist auch Bubers nationalistische Rhetorik in diesen frühen Texten nicht so eindeutig ethnonationalistisch, wie es Shumsky nahelegt.

Eine überzeugende Antwort auf diese Frage konnten die einschlägigen Studien von unter anderem Ruth Kestenberg-Gladstein, Hillel Kieval, Scott Spector und Stuart Bormann nicht liefern, mit deren Analysen sich Shumsky detailliert auseinandersetzt. Einige Arbeiten zum Prager Zionismus gehen dabei gar nicht erst auf die später in Palästina entworfenen Vorstellungen zur binationalen Idee der früheren Bar Kochba-Aktivisten ein; ebenso wenig beziehen sich alle Arbeiten zum Brit Schalom auch auf die Prager Vergangenheit seiner zentralen Protagonisten. Wieder andere bestreiten regelrecht eine Verbindung zwischen dem Engagement in der Prager zionistischen Bewegung und dem Brit Schalom; im Hinblick auf Hugo Bergmann behauptet etwa Scott Spector eine radikale Trennung zwischen dessen Prager Zionismus und seinem späteren Eintreten für eine binationale Lösung in Palästina: „Bergmann’s thinking before 1918 is of a different mark from his post-Prague work.“ Stuart Bormann immerhin wies auf die Leistungen von Bergmann, Weltsch und Kohn im Hinblick auf die Propagierung einer binationalen Lösung für Palästina hin und erwähnt sogar, dass sie auf diese Weise die Vorkriegsideale des Bar Kochba verwirklicht hätten. Damit ist bei ihm bereits der erhellende Zusammenhang zwischen der Situation in Prag, der aus ihr heraus entwickelten zionistischen Entwürfe sowie die binationale Idee als späterer Lösungsvorschlag für die Staatsgründung in Palästina angesprochen, den Shumsky in seiner Arbeit aufgreift und überzeugend rekonstruiert. An Bormann kritisiert letzter allerdings, dass er diese Ideale nicht heraus gearbeitet habe, obwohl er auf deren wichtige Funktion für Brit Schalom zumindest aufmerksam macht.

Vor allem erstaunt Shumsky, dass die Frage nach dem Verhältnis von jüdischer Zweisprachigkeit und jüdischem Nationalismus in Prag um 1900 die Forschung zur Geschichte der Juden in Böhmen bisher nicht beschäftigt habe. Tatsächlich gehörte die Vorstellung einer ausschließlichen Fixierung der Prager Juden auf die deutsche Sprache wohl auch in literaturwissenschaftlichen Untersuchungen lange zum common sense, wie ein Blick in Gilles Deleuzes und Félix Guattaris berühmte Studie „Kafka. Für eine kleine Literatur“ aus den 1970er-Jahren (frz. EA 1975) nahelegt, wo es heißt: „Anders als deutsch zu schreiben war für die Prager Juden unmöglich, weil sie zu ihrer ursprünglichen tschechischen Territorialität eine unüberwindliche Distanz empfanden.“ Eine auch historisch informierte Forschung kommt hier zu einer deutlich differenzierteren Einschätzung.

Shumsky setzt zunächst verständlicherweise am Nationalitätenkonflikt zwischen den beiden großen ethnischen Gruppen in Böhmen, den Tschechen und den Deutschen, an, der sich während der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zunehmends verschärfte. In der Geschichtsschreibung zu den Juden in Böhmen unterscheidet er eine „germanozentrische“ von einer „tschechozentrischen“ Richtung. Während die „germanozentrische“ Forschung eine Zuneigung der böhmischen Juden zum gehobenen deutsch-österreichischen Bürgertum sowie eine Identifizierung mit dem Liberalismus hervorhebe, rücke die „tschechozentrische“ Forschung, die er vor allem mit den Arbeiten Hillel Kievals identifiziert, umgekehrt die Beziehungen zur tschechischen Umwelt sowie die Öffnung zu einer im Entstehen begriffenen tschechischen Nationalkultur ins Zentrum ihrer Betrachtung. Beim Bemühen, den böhmischen Sprachraum in zwei getrennte nationale, ethnokulturelle Sphären aufzuteilen, stießen allerdings beide Forschungsrichtungen auf das Problem der jüdischen Zweisprachigkeit, die eine Zuordnung zu einer der beiden Nationen erheblich erschwert. Shumsky zeigt auch, dass dieses „ethnozentrische“ Paradigma in der Forschung „eine verblüffende strukturelle und analytische Ähnlichkeit mit dem deutsch-tschechischen Diskurs über die Zugehörigkeit der Prager Juden im frühen 20. Jahrhundert aufweist.“

Auch wenn die ethnozentrische Argumentationsweise nicht zwingend aus der national-ethnischen Rhetorik des frühen 20. Jahrhunderts hervorgegangen sein muss, so sei dennoch die Übernahme der Zuordnung „deutsche“ vs. „tschechische“ Juden aus dem damaligen Diskurs in das Modell von „Zentrum“ und „Peripherie“ keineswegs zufällig. Forschungsarbeiten zu Fragen der Zugehörigkeit übernehmen oftmals bereits bestehende Bezeichnungen partikularer Gruppen, wie die Soziologen Rogers Brubacker und Frederic Cooper kritisieren, wodurch Identitätsbegriffe unterschiedlicher politischer Diskurse (national, ethnisch, rassisch etc.) mit Bezeichnungen konkreter soziokultureller Erscheinungen vermengt werden. Shumsky führt daher zur besonderen Markierung der Zweisprachigkeit eines Teils der Prager Juden den Terminus „tschecho-deutsch“ ein.

In Anknüpfung an den österreichischen Historiker Michael John übernimmt Shumsky die Begriffe „Schmelztiegel“ und „Mosaik“, um den Unterschied zwischen einem angeblich klar umrissenen nationalen Bewusstsein und den tatsächlichen soziokulturellen Verhältnissen im österreichischen Vielvölkerstaat um 1900 zu beschreiben. Nach Auffassung von John sei die soziokulturelle Atmosphäre speziell im österreichischen Teil der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie zu dieser Zeit von der andauernden Spannung zwischen einer „assimilatorisch-nationalen“ und einer „multikulturellen“ Grundtendenz bestimmt gewesen. Für die zentralen Protagonisten des Prager Zionismus kann Shumsky plausibel nachweisen, dass deren Einstellung überwiegend einer Verortung auf Seiten der multikulturellen Tendenz entsprach.

Dafür zieht Shumsky eine Reihe von unterschiedlichen Quellen heran, auf die er seine Argumentation stützt. So wertet er etwa die ab 1880 alle zehn Jahre durchgeführten Volkszählungen aus, in denen die nationale Zugehörigkeit der Bewohner Böhmens nach der jeweils angegebenen Umgangssprache ermittelt wurde. Ebenso interessieren ihn, welcher ethnischen Zugehörigkeit die Bewohner_innen der Häuser angehörten, in denen die Familien seiner Protagonisten lebten; anhand dieser Akten lässt sich zum Beispiel zeigen, dass die zum Teil auch in Erinnerungstexten von früheren Prager Zionisten behauptete Trennung von Tschechen, Juden und Deutschen im Stadtraum keineswegs so eindeutig war, wie oft behauptet wird. Interessant ist auch die Auswertung der Schulakten, die zeigt, dass Bergmann, Brod und Kafka in Prag zwar auf das deutsche Gymnasium gingen, dort aber acht Jahre lang auch Tschechisch lernten.

Zum Teil waren die Eltern der Bar Kochba-Aktivisten erst im Zuge der großen böhmischen Binnenmigration in den 1880er Jahren vom Land mit einer überwiegend tschechischsprachigen Umwelt in die Großstadt Prag gekommen. Soziokulturell waren Shumskys Akteure also sowohl mit der tschechischen als auch der deutschen Umgebung vertraut. Vor dem Hintergrund des von den jeweiligen Nationalbewegungen politisch verstärkten Antagonismus’, entwickelten sie einen Zionismus, der auf dem Verständnis eines „dialogischen“ Nationalismus gründete. Zwar sollte die national-kulturelle Eigenständigkeit des Judentums betont werden, was bei Bergmann auch zeitweilig mit der Vorstellung einer höheren Wertigkeit einherging; zugleich aber verstanden sich die hier porträtierten Zionisten als Vermittler zwischen den Deutschen und den Tschechen. Und so kann Shumsky das scheinbare Paradox von früherem Nationalismus (in Prag) und späterer Binationalität (in Palästina) vor dem Hintergrund einer akribischen Rekonstruktion der soziokulturellen Verhältnisse ebenso wie der ideengeschichtlichen Grundlagen des Prager Zionismus elegant auflösen.

Methodisch überzeugt die Studie dabei mit einem prosopografischen Ansatz, also der systematischen Erforschung eines herausgehobenen Personenkreises. Entstanden ist eine kollektive Biografie der wohl wichtigsten sieben Akteure des Prager Zionismus. Zu den oben Genannten kommen noch Leo Herrmann (1888-1951), der 1908/09 Obmann des Bar Kochba war, sich in der zionistischen Bewegung auch als Mitbegründer des jüdischen Nationalfonds Keren Hajessod hervortat und zum Freundeskreis des Brit Schalom gehörte, sowie dessen Vetter Hugo Herrmann (1887-1940), der ihm 1909/10 als Obmann des Bar Kochba nachfolgte und ebenfalls zu den Freunden des Brit Schalom zu rechnen ist. Das sich wandelnde Selbstverständnis dieser sieben Akteure und ihre soziokulturelle Verortung hat Shumsky umfassend rekonstruiert und dabei ein eindrucksvolles Epochenporträt des Prager Zionismus erstellt, das auch eine Reihe von Fehleinschätzungen bisheriger Forschung zum Prager Zionismus berichtigt.

Titelbild

Dimitry Shumsky: Zweisprachigkeit und binationale Idee. Der Prager Zionismus 1900-1930.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Dafna Mach.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011.
336 Seiten, 59,99 EUR.
ISBN-13: 9783525369555

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