Ein Intellektueller, ein Märtyrer, ein Held

„Das Tagebuch des Adam Czerniaków“ ist ein trauriges Dokument der Verzweifelung im Getto, über dessen „Alltag und Widerstand im Angesicht der Vernichtung“ Markus Roth und Andrea Löw in ihrem Buch „Das Warschauer Getto“ informieren

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die ‚Judenpolitik‘ der deutschen Besatzer in Polen beruhte vom ersten Augenblick an auf Unrecht und Gewalt. Noch bevor es zu den geplanten systematischen Morden kam, wurde sofort nach dem Einmarsch der Deutschen in Polen ein System der gewaltsamen Unterdrückung und brutalen Ausbeutung der Menschen in Gang gesetzt. Dazu gehörte auch die Einrichtung von Gettos, die Konzentration der jüdischen Bevölkerung in abgeschlossenen Bezirken. Die ersten Gettos wurden noch im Winter 1939 eingerichtet. Im April 1940 wurde das Getto in Lodz eingerichtet, es folgten Gettos in Warschau (Oktober), Krakau (März 1941) und Lublin (April 1941).

Die jüdische Gemeinde in Warschau war vor dem Krieg die größte in Europa. Nur in New York lebten mehr Juden in einer Stadt. 352.650 jüdische Einwohner wurden in einer 1931 durchgeführten Volkszählung erhoben, das waren 30,1 Prozent der Gesamtbevölkerung Warschaus. Mit der Einrichtung des Gettos wurden alle Juden von außerhalb zur „Umsiedlung“ gezwungen. Zusammen mit den tausenden jüdischer Flüchtlinge aus anderen Teilen Polens waren Ende 1940 nahezu 400.000 Menschen gezwungen, im Getto zu leben – auf einer Fläche, die gerade 2,4 Prozent der Gesamtfläche Warschaus ausmachte. Zeitweise lebten 128.000 Menschen auf einem Quadratkilometer. Nach deutschen Planungen sah die Wohnraumbelegung im Getto sechs bis sieben Menschen pro Raum vor. Heute weiß man, dass die Zahl zumeist doppelt so hoch war.

Aber Zahlen dieser Art können nur ein unzureichendes Bild vom tatsächlichen Überleben im Getto vermitteln. Zur erdrückenden Enge kam die ständige Bedrohung gewaltsamer Übergriffe, die Angst vor willkürlichen Zwangsmaßnahmen – kurzum die Erfahrung des Ausgeliefertseins und vollkommener Rechtslosigkeit. Zudem zermürbte der ständige Hunger die Menschen. Insbesondere die Kinder im Getto, viele von ihnen Waisen, litten. Sie verhungerten auf der Straße vor den Augen der hilflosen Menschen.

Zu den Methoden der deutschen Unterdrückung gehörte die zwangsweise Gründung sogenannter „Judenräte“. In diese Zwangskörperschaften beriefen die Deutschen zumeist Vertreter der ehemaligen jüdischen Gemeinden. Ihre Aufgabe war tragisch: sie hatten dafür zu sorgen, dass die menschenverachtenden und tödlichen Anweisungen und Befehle der Deutschen umgesetzt wurden, gleichzeitig sollten sie aber das Funktionieren des Gettos, ein vorläufiges Weiterleben ermöglichen, indem sie eine Form der Verwaltung ausführten.

In Warschau ernannten die Deutschen den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Warschau, den Ingenieur Adam Czerniaków zum Vorsitzenden des Judenrats. Er blieb es bis zum 23. Juli 1942. An diesem Tag, dem zweiten Tag der Massendeportationen aus dem Getto in das Vernichtungslager Treblinka, beging er Selbstmord. Er vergiftete sich mit Zyankali. In einem kurzen Brief an seine Frau schrieb er: „Sie verlangen von mir, mit eigenen Händen die Kinder meines Volkes umzubringen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als zu sterben.“

Czerniaków führte ein Tagebuch, das nach seinem Tod im Besitz seiner Frau war, die das Getto überlebte. Über Umwege gelangte das aus acht Notizbüchern bestehende Tagebuch 1964 nach Yad Vashem. 1983 erschien eine kommentierte Buchfassung des Tagebuchs, die auch Grundlage der deutschen Übersetzung wurde. Diese Fassung liegt nun als Taschenbuch in der Beck’schen Reihe vor. Als Nachwort wurde eine leicht veränderte Passage aus Marcel Reich-Ranickis Erinnerungsbuch „Mein Leben“ über Czerniaków, in dessen Verwaltung er als Sekretär und Übersetzer arbeitete, beigefügt: „Ein Intellektueller, ein Märtyrer, ein Held“.

Czerniaków notierte täglich. So dokumentiert das Tagebuch zunächst die immense Arbeitsbelastung Czerniakóws. Er nahm sein Amt sehr ernst. Er empfand es als Verpflichtung und war deshalb immer wieder bemüht, es zugunsten der Menschen zu nutzen. Deshalb ertrug er die dauernden Demütigungen der Deutschen. Aber ihn kränkten die Anfeindungen, denen er ausgesetzt war. Viele Menschen im Getto gaben ihm die ‚Schuld‘ für das, was ihnen geschah. Man unterstellte ihm eine Zusammenarbeit mit den Deutschen. Grund dafür war auch das Auftreten des Jüdischen Ordnungsdienstes, der als eine Art Gettopolizei die Anordnungen der Deutschen, die die Menschen als Anordnung des Rates wahrnahmen, nötigenfalls auch mit Zwangsmaßnahmen durchsetzte. Liest man die kurzen Notate des Tagebuchs, so muss man die Kraft und Konsequenz, mit der Czerniaków sein Amt ausfüllte, bewundern. Zudem beeindruckt die Disziplin, mit der es schaffte, zu jedem Tag ein Notat zu verfassen.

Der letzte Eintrag datiert vom Tag seines Todes. Einen Tag zuvor – die Szene schildert auch Marcel Reich-Ranicki, der dabei war – waren die Mitglieder des „Judenrates“ von Hermann Höfle, dem Koordinator der „Aktion Reinhardt“ zur Ermordung der polnischen Juden, darüber informiert worden, dass nun die „Aussiedlung“ der Juden aus dem Getto beginne. „Bis heute n.m. [nachmittag, HGL] um 4 Uhr,“ notierte Czerniaków, „müssen 6000 Menschen bereitgestellt werden. Und so (mindestens) wird es jeden Tag sein.“ Weiter schreibt er: Höfle „erklärte, meine Frau sei vorläufig noch in Freiheit, doch wenn die Aussiedlung nicht wunschgemäß verlaufe, werde sie als erste Geisel erschossen.“ Einen Tag später lautet der letzte Eintrag im Tagebuch: „3 Uhr. Bis jetzt sind 4000 abfahrbereit. Bis 4 Uhr haben es laut Befehl 9000 zu sein. […]“ Marcel Reich-Ranicki beschreibt, was dann geschah: Nachdem die SS-Männer gegangen waren, „rief Czerniaków eine Bürodienerin: Er bat sie, ihm ein Glas Wasser zu bringen. Wenig später hörte der Kassierer des „Judenrates“ […] daß dort [in Czerniakóws Arbeitszimmer] wiederholt das Telefon läutete und niemand den Hörer abnahm. Er öffnete die Tür und sah die Leiche des Obmanns des ‚Judenrates‘ in Warschau. Auf seinem Schreibtisch standen ein leeres Zyankali-Fläschchen und ein halbvolles Glas Wasser.“

Das „Warschauer Getto“ steht heute nicht nur für die Verfolgung und Ermordung der polnischen Juden. Der Aufstand im Warschauer Getto verweist auch auf einen Ort des Widerstands. Darauf weisen Markus Roth und Andrea Löw in der Einleitung ihres ebenfalls in der Beck’schen Reihe erschienen Taschenbuchs „Das Warschauer Getto. Alltag und Widerstand im Angesicht der Vernichtung“ hin. Der „tragische bewaffnete Kampf gegen die militärische Übermacht ist weltweit zu einem Symbol geworden.“ Er setzte „ein Gegenbild zum Stereotyp des passiven Juden, der sich widerstandslos in seine Vernichtung fügte“ und ist das „positive Gegenbild zu sämtlichen pauschal als Kollaboration diffamierten Handlungsweisen, allen voran denen der von den Nationalsozialisten eingesetzten Judenräten.“

Das Buch der beiden Autoren, die bereits in ähnlicher Weise eine Darstellung über die „Juden in Krakau unter deutscher Besatzung 1939-1945“ vorlegten , gibt einen informativen Überblick über das Getto. Es erläutert die Bedingungen der Verwaltung des Gettos im Rahmen der deutschen Besatzungsherrschaft und ist nicht nur in diesem Punkt eine geeignete Ergänzung des Tagebuchs von Czerniaków. Es stellt die Lebens- und Überlebensbedingungen der Menschen dar und schildert anschaulich, welche erstaunlichen sozialen und kulturellen Leistungen von den Menschen trotz aller Umstände vollbracht wurden. Herausragend das Untergrundarchiv, das unter kaum vorstellbaren Bedingungen unter ständiger Lebensgefahr der Beteiligten aufgebaut werden konnte und von dem große Teile nach der vollständigen Vernichtung des Gettos wieder aufgefunden werden konnten; die Fürsorge- und Selbsthilfeeinrichtungen, mit denen man versuchte, ein menschenwürdiges Überleben möglich zu machen; die Kulturleistungen, in denen Selbstbehauptung zum Ausdruck kam – und schließlich auch der bewaffnete Widerstand. Die meisten der Menschen, die an diesem Kampf um Selbstbehauptung beteiligt waren, überlebten nicht. Aber ihre Zeugnisse. Diese, und zu ihnen gehört auch das Tagebuch des Adam Czerniaków, sind Dokumente einer Menschlichkeit, die sich gegen die Unmenschlichkeit behaupten konnten. Durch sie erfahren wir, was die Mörder verschweigen wollten. Ein später Sieg der Menschlichkeit.

Titelbild

Andrea Löw / Markus Roth: Das Warschauer Getto. Alltag und Widerstand im Angesicht der Vernichtung.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
240 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783406645334

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Titelbild

Adam Czerniakow: Im Warschauer Getto. Das Tagebuch des Adam Czerniakow 1939-1942.
Mit einem Vorwort von Israel Gutmann und einem Nachwort von Marcel Reich-Ranicki.
Übersetzt aus dem Polnischen von Silke Lent.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
320 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783406629495

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