Fluch und Segen des Vergessens

Alastair Bruce durchbricht in seinem Debüt „Die Wand der Zeit“

Von Peter MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Welt, wie wir sie kennen, existiert nicht mehr. Ein Großteil des Festlands ist im Meer versunken und die beiden verbliebenen Regierungen von Bran und Axum führen Krieg um die kargen Gebiete und Ressourcen. Nur der ,Große Plan‘ verspricht Rettung, der die Gesellschaft in drei Kategorien einteilt: Arbeitsfähige, zeitweise Arbeitsunfähige und vollständig Arbeitsunfähige. Menschen der letzten Kategorie sind nutzloser Ballast und werden zum Wohle der Allgemeinheit erhängt. Dem nach der Siedlung benannten ersten Marshall Bran gelingt damit sogar eine Einigung mit den Feinden aus Axum, die dem Vorbild Brans folgen. In der anschließenden Friedenszeit stellt sich jedoch die Frage, ob diese den gezahlten Preis wert war. Marshall Bran wird vor Gericht verurteilt, von der eigenen Gesellschaft verbannt und auf einem Floß ausgesetzt.

Die Erzählung setzt zehn Jahre nach dieser Verbannung ein: Bran ist auf einer abgelegenen Insel gelandet, der er tagtäglich sein Leben abtrotzt. Geschult durch seine Zeit als Staatsoberhaupt katalogisiert er die Ressourcen der Insel und erstellt einen strikten Haushalts- und Arbeitsplan, der ihn für die Dauer seines Lebens versorgen soll. Um sich seiner Existenz bewusst zu bleiben, markiert er zudem jeden Tag mit einem Strich an einer Höhlenwand und hinterlässt tagtäglich einen kleinen Stein auf einem Feld. Dennoch: Mit der durch Erosion stetig abgetragenen Insel versinken auch immer mehr von Brans Erinnerungen.

Die Situation ändert sich dramatisch, als er eines Tages einen gestrandeten Mann entdeckt. Wie sich herausstellt, ist es Andalus, das ehemalige Staatsoberhaupt von Axum. Dieser scheint ihn allerdings nicht zu erkennen und weigert sich stur, mit ihm zu sprechen. Doch eines ist klar: Die Situation muss sich grundlegend geändert haben. Da von Andalus aber keine Antworten zu erwarten sind, bricht Bran in seine Heimat auf und macht sich auf die Suche nach der Wahrheit und nach seiner Vergangenheit.

Was anfänglich nach dem Szenario eines Hollywood-Blockbusters klingt, entwickelt sich immer deutlicher zu einer cleveren Parabel über den Fluch, aber auch den Segen des Vergessens, denn wie sich herausstellt, scheint ihn auch in Bran niemand wiederzuerkennen, und schon bald stellt sich die Frage, wem er denn nun eigentlich seine Identität bestätigen will oder muss. Und auch wenn der Leser spätestens nach dem Auftauchen von Andalus das Gefühl hat, Bran immer einen Schritt voraus zu sein, lässt Alastair Bruce die Grenze zwischen Wahn, Paranoia und Realität derart geschickt verschwimmen, dass es auch dem Leser nicht gelingt, die „Wand der Zeit“ völlig einzureißen. Vielmehr bleibt es bei flüchtigen Blicken durch staubige Fenster, die das Urteil des Lesers stets hinterfragen und um neue Facetten erweitern. Da es dem Autor zudem gelingt, ganz nebenbei auch noch gesellschaftspolitische Interessen ins Spiel zu bringen, kann der Leser selbst am Ende nicht sicher sein, ob das wahrscheinlichste Szenario auch das einzig wahre ist. Es bleibt aber die Erinnerung an einen in allen Belangen ungewöhnlichen, doppelbödigen, tiefsinnigen und merk-würdigen Erstling.

Titelbild

Alastair Bruce: Die Wand der Zeit. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Malte Krutzsch.
Verlag Antje Kunstmann, München 2012.
256 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783888977749

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