Das Ich und der Totengott

Hans Christoph Buch reist in seinem Roman durch Raum und Zeit

Von David WachterRSS-Newsfeed neuer Artikel von David Wachter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im haitianischen Voodoo-Kult gibt es einen gefräßigen Gott namens Baron Samedi. Unterstützt von seinem Gehilfen Laplace, liebt Monsieur Samstag alias Maître Lacroix ekstatische Tänze, die er am Vorabend von Allerheiligen im Mysterienritual des „manger morts“ zu Trommelwirbel aufführt. Wird er mit gebührender Verehrung angerufen, so erfüllt er Wünsche und heilt Krankheiten. Mit dieser magischen Potenz tritt „Baron Samstag“ auch zu Beginn des gleichnamigen neuen Romans von Hans Christoph Buch auf. In Gestalt einer außerplanmäßig angerufenen Priesterin heilt er nämlich den entzündeten Fuß des Erzählers; zugleich durchzieht der hybride Gott, synkretistische Überschneidungsfigur heterogener kultureller Traditionen und religiös-mythologischer Bildfelder, als Leitfigur einen vielfach verschlungenen Text.

Als „wie ein Flussdelta verzweigte Geschichte“ – so die poetologische Selbstreferenz – führt der Reiseroman durch Raum und Zeit und liefert zugleich Bruchstücke einer literarischen Autobiografie. Diese bewegt sich im Spannungsfeld von Realität und Fiktion, von Vor- und Nachleben im Zeichen des Todes: Der als „Buch“ benannte, perspektivisch zwischen „Ich“ und „Er“ changierende Protagonist begibt sich auf die Spuren seiner Jugend in Südfrankreich, in das Kloster La Sainte Baume, und er reist in das vertraute, doch infolge des großen Erdbebens aus dem Jahr 2010 fremd gewordene Haiti. Auch der reale Autor Hans Christoph Buch besuchte als Sohn eines Diplomaten eine Zeitlang ein Internat bei Marseille; später entwickelte er als Reisereporter und ethnopoetischer Schriftsteller eine langjährige und intensive Zuneigung zu Haiti. Diese Lebensstationen bleiben in „Baron Samstag oder das Leben nach dem Tod“ erkennbar und werden zugleich imaginär ausgestaltet. Dabei verläuft der Weg von der außerliterarischen Wirklichkeit in die Fiktion rein formal betrachtet entlang einer symmetrischen Erzählstruktur – drei Büchern mit jeweils drei Erzählsträngen, die durch eigene Überschriften voneinander abgegrenzt werden.

Im ersten Erzählstrang – „Gott in Frankreich“ – unternimmt Buch, gemeinsam mit seiner Ex-Frau Judith, knapp fünfzig Jahre nach seiner Internatszeit eine Reise nach Südfrankreich. Dort sind die beiden zu Gast im Kloster La Sainte Baume und unternehmen weite Spaziergänge entlang wilder Schluchten, durch Pinienhaine und dichte Wälder. Der Grund für diese Reise bleibt unbestimmt. Während die psychoanalytische gewiefte Judith ihren Ex-Mann in den Fängen des Missbrauchsskandals der katholischen Kirche sieht und ein verdrängtes Kindheitstrauma vermutet, das es aufzuarbeiten gälte, weiß der im „weitmaschige[n] Netz“ seines Gedächtnisses wenig orientierte Buch selbst nur, dass „etwas anderes“ ihn zu dieser Expedition in die eigene Vergangenheit treibt. Die mit halber Energie unternommene Recherche nach einem ehemaligen Französischlehrer bringt zwar ans Licht, dass dieser sich nach Aufdeckung seiner Vergehen an jungen Knaben vor vielen Jahren das Leben nahm; doch treibender für die Erzählung ist die Begegnung mit einer kolumbianischen Nonne mit Moped, die – jedenfalls in Buchs Einbildung – seine Beziehung zu Judith infiltriert und damit eine zunehmende Verrätselung dieses Erzählstranges anleitet.

Zunächst tauchen in der Erinnerung mehrere Episoden aus dem Leben des fiktiv-realen Buch auf – seine Forschungen als Karnevalskundiger, eine unangenehme Begegnung mit dem Stasiapparat der DDR und die „Rückblende“ zur politischen Agitationstätigkeit des präpotenten Jugendlichen in einem Sommercamp 1961. Im Nachgang dieser Erinnerungen unternehmen die beiden Ex-Eheleute dann eine Wanderung zur Heiligengrotte der Maria Magdalena, bei welcher die Nonne eine undurchsichtige Rolle spielt: Buch sieht seine Ex-Ehefrau und die Nonne Magaly beim Zungenkuss – oder hat sich, so ganz deutlich wird das nicht, diese erotische Annäherung möglicherweise auch nur vorgestellt. Auf dem Rückweg entlang eines steilen Pfades verlieren sich Buch und Judith aus den Augen; während letztere sich per Flucht in die Arme Magalys der Gefahr entzieht, kommt der Protagonist beim Sturz in eine tiefe Schlucht zu Tode. So jedenfalls das Geschehen aus Erzählersicht: Buch selbst dagegen schildert (oder erträumt auch nur) seine eigene Rettung durch einen Radfahrer, deren innerfiktionaler Realitätsgehalt aber fragwürdig bleibt. So geht die zunächst realistisch begonnene Erzählung nahtlos über in ein Verwirrspiel mit den unsicheren Grenzen zwischen Realität und Einbildung, was durch zahlreiche Sprünge zwischen unterschiedlichen Zeitebenen der Handlung noch verstärkt wird.

Parallel zu dieser Reise in die eigene Jugend und dem Tod des Protagonisten erzählt „Baron Samstag“ von Buchs Wiederbegegnung mit dem mehrfach bereisten Haiti – auch dies eine Fiktion auf Basis realer Erlebnisse des Autors. So begibt sich der Protagonist Buch, der in diesem Erzählstrang in der „Ich“-Form auftritt, nur kurze Zeit nach dem verheerenden Erdbeben von 2010 in das weitgehend zerstörte Land. Vordergründig ist er auf der Suche nach dem Ort, wo einst die Apotheke seines Großvaters stand – auch dies eine Reminiszenz an Hans Christoph Buchs Vita. Doch obgleich auch diese Reise als realistische Erzählung beginnt, folgt sie keinem eindeutigen Ziel. Scheint der Erzähler zunächst der Absicht zu folgen, auf dem Weg zur „Pharmacie Buch“ als Reporter aus einer Krisenregion zu berichten, so verwirren sich auch hier sehr schnell die Grenzen des innerfiktional Realen ebenso wie die Zeitebenen von erlebter Gegenwart und erinnerter Vergangenheit. Auf dem Weg durch die Region zwischen Port-au-Prince und Jacmel, das Epizentrum des Bebens, schildert er seine Eindrücke von einem traumatisierten Land, vom Leben der Bewohner, den Verheerungen der Landschaft und dem fragwürdigen Benehmen der Entwicklungshelfer. Zwischen diese Beobachtungen schieben sich die „Filmsequenzen“ eines Traums von Untoten und von Buchs fragwürdig gewordenem Ich, das sich „in einen Zombie verwandelt“ hat – hierin ruft der Text auf unheimliche Weise die ehemaligen Schergen „Papa Docs“ in Erinnerung, jene „Tontons Macoutes“, für welche diese Bezeichnung gängig verwendet wurde.

Auf dem Flug nach Haiti hatte Buch unwillkürlich ein „verschachteltes Labyrinth“ gezeichnet, dem „Vévé“ eines Voodoo-Ornaments ähnlich, das ihm einen unverstanden gebliebenen Sinn andeutet; diesen Sinn will er nun erkunden. So wird ihm je länger, je mehr die Reise durch Haiti zum Parcours einer versuchten Entschlüsselung: Buch sucht mehrere Voodoo-Priester auf, die ihm von früheren Reisen bekannt sind und von denen er sich eine Deutung der seltsamen Muster erhofft. In einer traumhaften Logik begegnet ihm außerdem der mysteriöse Adlige George de Mohrenschildt, seinerseits mit Blick auf eine historisch reale Person entworfen. Vermeintlich Mitglied einer luxemburgischen Reisegruppe, präsentiert sich diese dubiose Figur gleichermaßen als gewiefter Geschäftsmann, der einst den haitianischen Diktator „Papa Doc“ hinter Licht führte, wie als Reichstags-Brandstifter von 1934, als Komplize des Kennedy-Mörders Lee Harvey Oswald und als Wiedergänger nach einer irreführenden Todesanzeige, der zugleich bereits 1977 durch Selbstmord verstorben war. Hier vermischt der Roman außerfiktional-reale Beziehungen und Ereignisse mit fiktiven Erweiterungen, deren Realitätsgrad im Roman selbst offen bleibt. So bewirkt die Begegnung mit Mohrenschildt eine narrative Irritation, ein Verwirrspiel unsicherer Realitäten, die der Erzähler selbst als drohenden „Identitätsverlust“ beschreibt. Zwar erreicht er am Ende der Erzählung, gemeinsam mit seinem alten Freund und Entwicklungshelfer Klaus, die gesuchte „Casa Buch“; doch gelangt er hier nicht im eigentlichen Sinn an ein Ziel, muss stattdessen – erneut im Grenzbereich des Traums – im geplünderten Warenlager der Apotheke einen Sterbenden auffinden, der aus unklaren Gründen niedergestochen wurde.

Diese beiden komplexen Erzählstränge werden ergänzt durch einen dritten, als „Das andere Ufer des Flusses“ betitelt. Bereits inhaltlich erscheint dieser Teil wenig zusammenhängend, knüpft vielmehr an einzelne Stellen der beiden anderen Stränge an. Im ersten Buch findet sich hier eine Episode aus dem Leben exilierter Schriftsteller um Thomas Mann, die in den frühen 1930er-Jahren im südfranzösischen Sanary-sur-Mer lebten; das zweite Buch verfolgt die erwähnte Zombie-Metapher anhand des Grafen Dracula, der nun – bezeichnenderweise im Gebäude der haitianischen Botschaft in Paris – des Nachts als fantastischer UNESCO-Vertreter logiert; und im dritten Buch macht sich Judith nach dem Tod ihres Ex-Ehemannes auf die Suche nach der verschwunden Nonne Magaly, was sie auf eine Reise zum berühmten Karneval der Künste in Barranquilla (Kolumbien) führt, wo sie bei einem Tanz mit dem italienischen Erotik-Regisseur Tinto Brass „grell geschminkte Vampire und Zombies […] auf und nieder wog[]en“ sieht und zuletzt, nach mehreren Umwegen, ganz unerwartet ihr eigenes Notizbuch mit Versen Buchs wiederfindet – dessen Text allerdings vom strömenden Regen „unleserlich gemacht“ worden ist. Und so verschwindet am Ende auch der Text von „Baron Samstag“, statt zu einem klaren Abschluss zu kommen, und entspricht darin seiner erklärten Poetik einer „spiralförmigen“ Bewegung, die auf kein teleologisches Ziel zusteuert, sondern zuletzt mitten in der Bewegung abbricht.

Gerade in dieser komplexen Poetik besteht der Reiz des neuen Romans von Hans Christoph Buch. Er entfaltet seine faszinierende Wirkung nicht zuletzt durch eine Textdynamik, die als vermeintlich realistische Erzählung einsetzt, aber Erzählstrang für Erzählstrang komplexer wird und mit ihrer beweglichen Traumlogik zu narrativen Sequenzen und Bildern führt, deren Realitätsgehalt in der Erzählung mehrdeutig bleibt. Auch an jenen Stellen, wo der Text sein eigenes Verfahren poetologisch ausformuliert, wirkt Buchs kurzer Roman erfrischend unprätentiös. Raffiniert spielt Buch mit kulturellen Assoziationen, intertextuellen Anspielungen („Der Fall des Hauses Buch“) und Eigenreferenzen („Blut im Schuh“ heißt H. C. Buchs Essaysammlung aus dem Jahr 2001, „Blut im Schuh“ hat der irrende Wanderer in „Baron Samstag“); doch dieses Spiel wirkt selten aufdringlich und gewollt, meist gleitend und leicht.

Nur an wenigen Stellen, besonders zu Anfang des Romans, kippt der Text in eine irritierende Floskelhaftigkeit. So kommt der Erzähler auf Buchs „stille Liebe zur katholischen Kirche“ zu sprechen und setzt dessen Interesse an Priestern, „die christliche Werte nicht bloß gepredigt, sondern gelebt hatten“, gegen protestantische „Gutmenschen“; so kritisiert er von der Warte des karnevalinteressierten Jungakademikers den „verordnete[n] Frohsinn“ der Massenumzüge. Kann man hier mit gutem Willen insofern eine ironische Brechung vermuten, als ja nicht zuletzt die Mentalität eines linksalternativen Protagonisten vorgeführt wird, so setzen sich derlei Phrasen mitunter auch in der Erzählerrede fort, etwa wenn dem Protagonisten ein „körperliches Wohlbefinden“ attestiert wird, das „mehr war als bloße Wellness“, oder wenn der Ich-Erzähler der Haiti-Handlung den (natürlich plumpen) Entwicklungshelfern besserwisserisch-dozierend „erklärte, dass Haiti eine faszinierende Kunst und Kultur besaß“. Erfreulicherweise bleiben diese etwas plumpen Wendungen aber seltene Ausnahmefälle in einer ansonsten präzisen Prosa, die ihre von vielfachen Zeit- und Raumsprüngen bestimmte Erinnerungspoetik leichtfüßig – aber keineswegs leichtfertig – zur Sprache bringt.

Titelbild

Hans Christoph Buch: Baron Samstag. oder Das Leben nach dem Tod.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2013.
253 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783627001896

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