Unheilbare Lebensmelancholie

Karlheinz Deschner hat den letzten Band seiner „Kriminalgeschichte des Christentums“ publiziert

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die bloße Tatsache des Erscheinens dieses 10. Bandes von Karlheinz Deschners „Kriminalgeschichte des Christentums“ scheint mir erwähnenswerter zu sein als der wenig aufregende kriminalhistorische Inhalt. Wer nach Band 9 („Mitte des 16. bis Anfang des 18. Jahrhunderts. Vom Völkermord in der Neuen Welt bis zum Beginn der Aufklärung“, 2008) noch nicht überzeugt davon war, dass die Geschichte des Christentums alles andere als pure Christlichkeit zeitigte, wird sich auch vom vorliegenden Band kaum belehren lassen: Die Frühgeschichte Skandinaviens brachte „Mord und Totschlag“; im Großen Nordischen Krieg (1700-1721) wurden wie in allen Kriegen Meere von Blut vergossen; in Russland wütete Ivan der Schreckliche schrecklich; Prinz Eugen war durchaus nicht der „edle Ritter“, sondern rachsüchtig, arglistig und heimtückisch, und als dem Feldherrn im Türkenkrieg und im Spanischen Erbfolgekrieg gingen ungezählte Leben auf sein Konto. Der Siebenjährige Krieg forderte auch das Seine, und wie immer vollzog sich das ewige Hauen, Stechen, Metzeln und Schlachten unter der Berufung auf den lieben Gott im Himmel.

Wir registrieren schließlich, dass das Papsttum im 17./18. Jahrhundert einen „Niedergang“ erlebte, erfahren Verstreutes über die europäische Jesuitenverfolgung und auch über die liberale Reformpolitik des österreichischen Kaisers Joseph II. Kaum ein Leser, der sich durch diese zweihundert Seiten hindurchgearbeitet hat, wird wohl hochroten Kopfes zum Atheismus konvertieren. Eher schon wird er sich fragen, ob seine unheilbare Lebensmelancholie nicht in Wahrheit im schulischen Geschichtsunterricht gründet: Von Hellas bis Hitler – wie viele unbeweinte Schlachtopfer, wieviel ungesühntes Leiden, wie viele Helden, Menschenmetzger, Großstrategen und Kriegskrüppel, wie viele Kriegerwitwen und -waisen, wie viele geschändete Frauen, gefolterte Leiber, Kreuzzüge, Scheiterhaufen, verhungerte Bauern, prassende Fürsten und Prälaten, verfolgte Unschuld und triumphierend grinsende Schuld hatte er nicht fein ordentlich auswendig lernen müssen, damit man ihm das Zeugnis der Reife erteilte?

Das neunte und letzte Kapitel beschreibt und beklagt „Armut als Massenphänomen im absolutistischen Zeitalter“. Eingeleitet wird es von der folgenden Erläuterung des Autors: „Ich beschließe die Kriminalgeschichte des Christentums mit einer Thematik aus der Frühzeit meiner Geschichtskritik. Aus dem ursprünglichen Plan einer ‚Geschichte des menschlichen Elends‘ erwuchs das vorliegende zehnbändige Werk, wie alles, was ich schrieb, dem einen Hauptantrieb verpflichtet – mit den Worten des von mir hochgeschätzten österreichischen Priesters, Lebensreformers, Vegetariers, Atomkraftgegners und Pazifisten Johannes Ude (1874-1965): ‚Ich kann das Unrecht nicht leiden.‘“ Und gemäß dem Schlusswort des Rowohlt-Lektors Hermann Gieselbusch („Eine unwiderstehliche Mischung: Karlheinz Deschner und Rowohlt“) hatte Deschner 1970 dem Verlag ein Exposé zugesandt, in welchem es hieß: „Ich möchte das Werk zu einer der größten Anklagen machen, die je ein Mensch gegen die Geschichte des Menschen erhoben hat.“

Wie jedoch kam es dann schließlich dazu, dass aus einer Anklage gegen die Menschheitsgeschichte, gegen die conditio humana, eine „Kriminalgeschichte des Christentums“ wurde? Am Ende gibt Deschner eine programmatische Erklärung ab, die hier, weil nicht ohne Verluste paraphrasierbar, in längeren Auszügen wiedergegeben sei. Der Autor schreibt mit offenem Visier, was Achtung abnötigt, aber dem Leser auch ein Urteil abverlangt: „Ja, es muß ein eigentümliches Vergnügen sein – und auch dies ein alter Text schon, der mir nahsteht und den Bogen über all die Bände spannt, die da nun Jahr um Jahr, die vierzig Jahre meines Lebens jetzt verschlungen haben – ja, es muß ein eigentümliches Vergnügen für die Menschen sein, sich fort und fort verdummen, verkaufen, vernichten zu lassen: für das Vaterland, den Lebensraum, die Freiheit, für den Osten, den Westen, für diesen und für jenen Herrn, am meisten aber für die, die Gott stets so sicher mit ihrem Vorteil verwechseln und ihren Vorteil mit Gott, die so zielstrebig dem Tag dienen, doch die Ewigkeit nie aus dem Auge verlieren, die im Frieden Frieden propagieren und im Krieg den Krieg, und beides mit gleicher Überzeugungskraft und gleicher Perfektion: da das Christkind, dort Kanonen; da die Bibel, dort Pulver; da ‚Liebet einander‘, dort ‚Bringt sie um, Gott will es‘. […] Wo sonst noch gibt es diese atemverschlagende Mischung von Wolfsgeheul und Friedensschalmei, Weihnachtsbotschaft und Scheiterhaufen, von Heiligenlegende und Henkersgeschichte! Wo sonst dies allumfassende Liebespalaver und den praktisch allesverschlingenden Haß! Wo sonst eine Religion, die aus Liebe tötet, aus Liebe foltert, aus Liebe raubt, erpreßt, entehrt, verteufelt und verdammt! Es wurde die große, die weltbeglückende Praxis des Christentums, die grassierende Pest der Jahrtausende. Mit einem Wort: Das Christentum wurde der Antichrist. Jener Teufel, den es an die Wand malte: er war es selber! Jenes Böse, das es zu bekämpfen vorgab: es war es selber! Jene Hölle, mit der es drohte: sie war es selbst! […] Seit Konstantin wurden Heuchelei und Gewalt die Kennzeichen der Kirchengeschichte, wurde Massenmord zur Praxis einer Religion. Einen zu töten war strikt verboten, Tausende umzubringen ein gottgefälliges Werk. Das Ganze heißt nicht Geisteskrankheit, das Ganze heißt Christentum.“

Der im Untertitel des Buches angekündigte „Ausblick auf die Folgezeit“ fällt überaus knapp aus und bescheidet sich so gut wie ausschließlich mit dem Verweis auf das Buch „Die Politik der Päpste“, auf dessen kommendes Erscheinen im September an dieser Stelle nur schon einmal kurz hingewiesen sei.

Titelbild

Karlheinz Deschner: Die Politik der Päpste. Vom Niedergang kurialer Macht im 19. Jahrhundert bis zu ihrem Wiedererstarken im Zeitalter der Weltkriege.
Alibri Verlag, Aschaffenburg 2013.
1228 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783865691163

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Titelbild

Karlheinz Deschner: Kriminalgeschichte des Christentums. Band 10. 18. Jahrhundert und Ausblick auf die Folgezeit.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2013.
319 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783498013318

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