Besuch bei alten Damen

Silvia Bovenschen erweist sich mit ihrem neuen Roman als die vielleicht letzte postmoderne Schriftstellerin

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um es gleich vorwegzunehmen: Über dieses Buch sollte eigentlich nicht mehr gesagt werden, als dass man es gelesen haben muss. Nun ist es aber aus guten Gründen unter RezensentInnen Usus, ja geradezu eine Pflicht, es bei solch dürren Appellen nicht zu belassen, sondern Überzeugungsarbeit zu leisten. Wohlan denn!

Zweierlei spricht für die Lektüre dieses Textes. Zum einen sein Inhalt, zum anderen die Form. Oder anders gesagt, das Kabinett kurioser Charaktere und die auch für einen Roman alles andere als alltägliche Handlung sowie die Art erstere darzustellen und letztere zu erzählen. Aber allein eine solche Fürsprache würde dem Text noch lange nicht gerecht, ist er doch mit allen postmodernen Wassern gewaschen, wozu auch gehört, dass sich dies erst im Laufe der Lektüre erschließt. Denn der Erzähler – man darf ihn mit Fug und Recht so nennen – belässt es keineswegs bei der sanfte Töne anschlagenden Ironie der ersten Abschnitte, deren Stimmung – kaum unterbrochen durch die wunderbare Rollenprosa von Jung und Alt – gleichwohl den gesamten Text grundiert und dabei dennoch schwer zu fassen ist.

Das recht schmale Büchlein entführt die Lesenden in eine mit diversen weiblichen Charakteren besetzte „Geronten-WG“, deren vier nicht immer ganz feine Bewohnerinnen der upper class des Bildungsbürgertums entstammen und ihr achtzigstes Jahr in Kürze erreichen werden oder unlängst überschritten haben. Drei der alten Damen sind verwitwet, die vierte im Bunde wurde von ihrem Mann „schnöde durch eine jüngere ausgetauscht“. Jede von ihnen verdient es, ein wenig näher vorgestellt zu werden. Da wäre zunächst einmal Charlotte, die ehemalige Professorin für Paläontologie und gegenwärtige Besitzerin der hochherrschaftlichen Villa, die sie im Laufe der Jahre zur „barrierefreien Altenbastion ausgebaut“ hat. Sie ist die Gastgeberin der drei anderen, denen sie offenbar kostenlose Logis und Verpflegung bietet: Johanna, eine „vergessene Autorin der Belletristik“, die frühere Lehrerin Leonie und die ehedem in der Modebranche tätige Kreativ Nadine. Wenige Worte reichen hin sie zu charakterisieren. Johanna schreit tagein, tagaus vom Bett aus ihr „Unerhört“ in die Welt, Leonie murmelt oder summt wie selbstvergessen vor sich hin, Nadine drapiert Blumen und Frisur und Charlotte sorgt dafür, dass der Laden läuft. Zwar spricht es nur eine von ihnen aus, doch sie alle sind offen bar „froh nicht mehr jung zu sein“, finden es „aber auch nicht gut, alt zu sein. Gar nicht gut.“ So steht wiederholt die Frage im Raum, ob es nicht von Vorteil sei, sich aus der Welt zu schaffen.

Den Contrepart bildet mit der 17-jährigen Dörte die Enkelin der Villa-Besitzerin. Das junge Ding war nach einem Liebesgeplänkel mit der Kleinkriminalität von seinen Eltern angesichts des drohenden Jugendknastes vor die Alternative gestellt worden, entweder in ein strenges Internat verfrachtet zu werden oder sich unter Omas Fittiche zu begeben. Dörte zu charakterisieren gelingt dem Erzähler mit einer einzigen, sehr anschaulichen Formulierung: „ein dummes kleines Mädchen, allerdings glücklich ausgestattet mit einem Körper, für den manche Frau – wäre dies der handelsübliche Preis dafür – einen Mord erwogen hätte.“

Da kann es nicht verwundern, dass sie von dem zwei Jahre älteren Gymnasiasten Flocke ungeachtet all seiner Zahnschmerzen angehimmelt wird, bis sie sich mehr und mehr selbst entzaubert. Dass ihn seine überdurchschnittliche Durchschnittlichkeit auszeichnet und er darum keine große Rolle spielen soll, ist zwar von dem Erzähler in eine lustige contradictio in adjecto gefasst, erweist sich aber in einer Hinsicht als doch nicht ganz zutreffend. Diese Unstimmigkeit allerdings als Hinweis zu nehmen, die Konzeption des Romans sei nicht wohl durchdacht, wäre ein großer Irrtum. Vielmehr handelt es sich um einen mit Bedacht gesetzten Stolperstein, an dem nur jene sich nicht stoßen, denen er unbemerkt bleibt.

Eine Bedienstete mittleren Alters sorgt als penible Haushälterin und exquisite Köchin für das Wohlbefinden der Bewohnerinnen, fürchtet allerdings von ihre gestrengen Mutter der nachlässigen Führung des eigenen Haushalts geziehen zu werden, wird doch Charlottes „Finanzguru“ Dr. Theodor von Rungholt erwartet und soll mit Kaffee und Kuchen bewirtet werden, sodass sie womöglich keine Zeit mehr finden wird, das eigene Heim zu richten, bevor ihre Mutter ihr den angekündigten Abendbesuch abstattet. Nun erweist sich diese Befürchtung zwar als leer, doch nicht alles dräuende Unheil löst sich in Wohlgefallen auf. Im Gegenteil, selbst dort, wo niemand es vermutet, tritt es unverhofft ein. Dass der dem Herrn Rechtsanwalt zugedachte Kuchen bereits verzehrt ist, als er eintrifft, ist dabei noch der geringste Unglücksfall, den dieser außergewöhnlichste Tag im Leben der vier alten Damen zu bieten hat. Auch mit dem Herrn selbst nimmt er nicht wirklich ein gutes Ende.

Dabei ist der Roman ganz entsprechend tragender Elemente der Dramen-Theorie konzipiert – ohne sie allerdings so ganz ernst zu nehmen. Die Einheit von Ort, Zeit und Handlung werden gewahrt, auch bleiben weder die aristetolische Peripetie noch das kathartisches Geschehen aus. Alles schön gerahmt natürlich. Solcherart legt Bovenschen einen Genremix hin, der schwerlich Seinesgleichen hat.

Mehr soll hier allerdings nicht mehr verraten werden, denn schließlich stehen die örtlichen Justizbehörde vor der Aufgabe eine kriminelle Handlung aufzuklären. Und wer sich durch das Gesagte noch nicht hat überzeugen lassen, dass es sich bei Bovenschens ein wenig kryptischem und doch sehr erhellendem Roman um wunderbares Buch handelt, nehme es zur Hand, schreite zur Autopsie und lese es bis zu seinem wahrhaft fantastischen Ende.

Titelbild

Silvia Bovenschen: Nur Mut. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
160 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783100035233

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