Überall und nirgends

Werner Jungs Essays zur Relation von Literatur und Raum

Von Natalie MoserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalie Moser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Werner Jungs Essaysammlung „Raumphantasien und Phantasieräume“ erscheint als vierzigster Band der Reihe Aisthesis Essay. In derselben Reihe veröffentlichte Jung 2008 seine erste Essaysammlung „Zeitschichten und Zeitgeschichten“. Der Band „Raumphantasien und Phantasieräume“ enthält neun Essays, wovon zwei in veränderter Form bereits publiziert wurden. Trotz der Kürze der einzelnen Beiträge ist es nicht vermessen, entgegen den Vorbemerkungen des Verfassers von einem Buch zu sprechen. Nicht nur das Vorhandensein eines Mottos und die Essay übergreifende Argumentation unterstreichen diesen Eindruck, sondern auch die neue Poetologie des Raumes als Einleitung in die Thematik des Bandes. Einführend skizziert Jung die Raum-Diskurse des 20. Jahrhunderts und hebt die allgemeine Tendenz, den Raum vom Subjekt her zu denken, hervor. Raum wird als individuell (Heidegger) oder sozial konstituierte (Simmel), nicht mehr als absolute ‚Kategorie‘ verstanden. Die zunehmende Gefährdung des Subjekts greift auch auf seinen Raum über. Die neueren Debatten rund um den spatial turn streift Jung nur, um sich dann auf die modernen transitorischen Räume – Durchgangsorte – und ihre Omnipräsenz in der (deutschen) Gegenwartsliteratur zu konzentrieren. Als Beispiel dient das vielsagende Scheitern, den 11. September 2001 zu narrativieren. Jung nennt unter anderem Rögglas „really ground zero“ (2001) und Peltzers „Bryant Park“ (2002). Mit Verweis auf Genazino, von dem das Motto des Bandes stammt, fokussiert Jung am Ende seiner Raumpoetologie den unbewohnbaren Raum, den Nicht-Ort, und legt mittels Webers „Bahnhofsprosa“ (2002) die Poetizitiät von Nicht- oder Un-Orten offen.

Es folgen acht Essays, die anhand literarischer Beispiele die neue Poetologie des Raumes durchdeklinieren. Im zweiten Essay wird die im Titel des Bandes aufscheinende Idee konkretisiert und das Verhältnis von Raumtext und Textraum diskutiert. Längere Textpassagen aus Perecs Roman „La vie mode d’emploi“ (1978) veranschaulichen die Verschaltung von Raum und Text. Perec versteht Raum als Frage und nicht als Tatsache. Das Befragen beziehungsweise Beschreiben des Raumes – zum Beispiel eines fassadenlosen Mietshauses – geht in Perecs Roman nahtlos in ein Erzählen des Raumes über. Dass vom Raum nicht gesprochen werden kann, ohne auch vom Menschen zu sprechen, macht den Raum als anthropologische Kategorie kenntlich, so Jung.

Anhand der Utopie und Robinsonade, zwei Unterarten des sogenannten Raumromans, wird gezeigt, dass ihre Verankerung in der Entstehungszeit zentraler ist als der jeweilige (Handlungs-)Raum. Letzterer ist unterbestimmt, sodass das, was üblicherweise Raumroman genannt wird, in erster Linie ein Zeit- oder genauer: Zeitkritik-Roman ist. Auch Defoes „Robinson Crusoe“ ist eine (Jetzt-)Zeitreflexion, ebenso verhält es sich mit den deutschen Nachfolge-Robinsonaden wie Schnabels „Insel Felsenburg“. Mit dem Raum der Liebe und des Begehrens nimmt sich Jung eines weiteren exklusiven Raumes an. Erst der Verstoß gegen das bürgerliche Konzept der (Ehe-)Liebe – eine Umcodierung des romantischen Mythos‘ – schaffe die vielen Orte der Liebe. Sehnsucht und Treuelosigkeit konstruieren folglich neue/andere Räume, mit Foucault: Heterotopien.

Indem sich Jung Abenteuer- und Krimiräumen widmet, bleibt er bei kon- oder destruktiven Sehnsuchtsräumen. Auf Wellberys und Gumbrechts Überlegungen zurückgreifend betont Jung die zentrale Funktion der Stimmung für die Thematisierung von Raum. Es gibt nicht ,den’ Raum, sondern (gestimmte) Räume. In Abenteuer- und Kriminalromanen halten sich Faszination und Abneigung hinsichtlich der (unbekannten) Orte die Waage, was die Spannung im Text gewährleistet. Die Opposition widerspiegelt wiederum das Zugleich von Fort- und Rückschritt aufgrund der Industrialisierung. Karl Mays Abenteuerromane, deren Schemata in den Regionalkrimis neueren Datums wiederkehren, verleihen diesem Dilemma indirekt Ausdruck.

Am Beispiel von Heine führt Jung vor, dass die ‚Kategorie‘ Raum für das Verständnis von Person und Werk von zentraler Bedeutung ist. Die Frage nach dem Ort von Heine umfasst Fragen nach der Bedeutung von Heines Werk hinsichtlich seiner Zeit sowie Fragen nach seinem Selbstverständnis. Jung sieht in Heine einen Schwellenkundigen, ein Diktum Benjamins aufgreifend, und charakterisiert den Schriftsteller und seine literarischen Figuren als Vorformen des Flaneurs. Heine wird somit nahe am (Un-)Ort Moderne verortet. Mit Blick auf Romantik und Realismus, spezifischer auf Eichendorffs und Stifters Räume, wird anschließend wiederholt betont, dass literarische Räume unabhängig ihrer Referenzfunktion Konstrukte sind. Während Eichendorff via Wandererfiguren die Natur zur andächtigen Landschaft stilisiert, sind Stifters Figuren damit beschäftigt, bestehende Innenräume abzuschreiten und sich ihrer zu versichern. Der romantische Wanderer wird zum im Innenraum verharrenden Naturbeobachter, wobei die Schwelle als Ort der Transformation in Erscheinung tritt.

Anhand von Simmels Überlegungen zum Geld(-Fluss) und zur Figur des Fremden werden spezifische Momente des Stadtraumes – sein Veränderungspotenzial sowie die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen – thematisiert. Der Zerfall ist nicht mehr nur eine Gefahr (wie im Realismus), sondern Teil der (beschriebenen) Wirklichkeit: Räume zerfallen in weitere Räume, eine Verortung muss misslingen. Jung nennt einschlägige Stadt-Autoren (etwa Dickens oder Döblin) und Textpassagen zur Stadt (zum Beispiel Rilkes Beschreibung einer Hausmauer) und zeichnet chronologisch nach, dass der konkrete Blick innerhalb der Stadt (bei Balzac auf die Dächer der Stadt) durch die Entfremdungserfahrung aufgrund unendlich vieler Orte abgelöst wird. Von der Großstadt geht es im letzten Essay dann wieder zurück in die Provinz beziehungsweise Heimat. Die Heimat wird in erster Linie als gestimmter Raum verstanden, was die Vertreibungserzählungen des 20. Jahrhunderts und die Thematik der Heimatlosigkeit auf den Plan ruft. Die Überlegungen zu den Kriminalromanen, in denen das Böse den Alltag heimsucht, sowie die subjektiv gefärbten Ausführungen zur (niederrheinischen) Landschaft schließen hier an. Der letzte Essay übernimmt folglich die Funktion einer Rück- und Zusammenschau.

Jungs illustrative Ausführungen zu Raum und Literatur regen zum Weiterdenken an. Das Angebot, den Band als Ergänzung zur ersten Essaysammlung zu verstehen, sollte ernst genommen und die Kopplung von Zeit und Raum in Relation zur Literatur – das Stichwort Chronotopos fällt einmal – weitergedacht werden. Da Themenfelder (wie der Konstruktcharakter von Raum und Literatur) und Theoretiker (zum Beispiel Simmel, Bloch) aus dem einleitenden Essay mehrfach aufgegriffen werden, handelt es sich um einen äußerst leserfreundlichen Band. Kunstvoll wechseln sich theoretische Passagen mit Textanalysen ab, was zusätzlich zur essayistischen Form der Texte die Anschaulichkeit der Ausführungen erhöht.

Titelbild

Werner Jung: Raumphantasien und Phantasieräume. Essays über Literatur und Raum.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2013.
210 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783895289903

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