Eine Republik aus dem Geiste des Utilitarismus

John Stuart Mills „Considerations on Representative Government“ in einer neuen deutschen Ausgabe

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als einer der bedeutendsten Vordenker des Liberalismus und des Utilitarismus steht die philosophiegeschichtliche Bedeutung John Stuart Mills außer Frage, nicht zuletzt auch, was – etwa mit seinem berühmten Traktat „The Subjection of Women“ (1869) – seine Rolle als Verfechter der Frauenrechte angeht. Und obwohl seine deutschsprachige Rezeption mit seinem Einfluss in der angloamerikanischen Philosophie nicht zu vergleichen ist, gab es auch hierzulande stets und gibt es in den letzten Jahren zunehmend eine rege Mill-Forschung. Dazu zu rechnen sind auch verschiedene editorische Projekte, die dafür gesorgt haben, dass inzwischen nicht mehr allein die Klassiker „On Liberty“ (Über die Freiheit, 1859) und „Utilitarianism“ (Utilitarismus, 1861), sondern auch andere Schriften Mills in deutschsprachigen Ausgaben greifbar sind. Mit der bereits im Jahr 1971 erstmals publizierten Übersetzung von Hannelore Irle-Dietrich haben die Politikwissenschaftler Hubertus Buchstein und Sandra Seubert nun bei Suhrkamp eine neue Ausgabe von Mills „Considerations on representative government“ (1861) unternommen.

In der Vergangenheit, so die Herausgeber in ihrem Nachwort, habe man die „Considerations“ gerne als eine sehr ihren zeithistorischen und nationalen, britischen Umständen verhaftete Schrift gesehen, in der es Mill in erster Linie darum gegangen sei, Vorschläge zu einer Reform des britischen Wahl- und Regierungssystems zu unterbreiten. Und tatsächlich verfasste Mill dieses Werk in einer Zeit intensiver politischer und publizistischer Aktivität in den Jahren nach dem Tod seiner Ehefrau Harriet Taylor und seines Ausscheidens aus der East India Company, für die er über 35 Jahre seines Lebens gearbeitet hatte. Sein reformpolitisches Anliegen, das britische Regierungssystem den Bedingungen der modernen Gesellschaft, nicht zuletzt hinsichtlich einer Repräsentation der wachsenden Arbeiterschaft und der Frauen, anzupassen, spielte dabei eine zentrale Rolle. Dennoch griffe es zu kurz, Mills Anliegen allein darauf zu reduzieren –, und die neu vorgelegte Edition tritt somit auch in dem Anspruch an, die systematische Bedeutung von Mills „Betrachtungen über die Repräsentativregierung“ neu hervorzuheben.

Mill zufolge zeige sich der Wert einer Regierungsform zuallererst darin, inwiefern sie „Tugend und Intelligenz des Volkes“ zu heben und insgesamt „zur Mehrung der Summe der guten Eigenschaften der Regierten“ beizutragen imstande sei. Und obwohl er es durchaus als vom zivilisatorischen Stand einer Gesellschaft und vom Charakter ihrer Mitglieder abhängig ansieht, auf welche Regierungsform dies konkret hinausläuft, so hat er doch keinen Zweifel, dass für eine Gesellschaft wie die britische seiner Zeit nur die repräsentative Demokratie als ideale Regierungsform in Betracht komme. Kennzeichnend für das repräsentative System sei es, dass Souveränität und Kontrolle der Regierung bei der Öffentlichkeit als Ganzer lägen; Partizipation und Teilhabe möglichst aller Bürgerinnen und Bürger sind insofern Gehalt und Ziel dieser Regierungsform. Kaum überraschen kann es daher, wenn Mill die Einführung des allgemeinen Wahlrechts fordert – in einer Zeit, da nicht allein Frauen, sondern auch ein Großteil der männlichen Bevölkerung vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Im Parlament sollten die verschiedenen, einander widerstreitenden Positionen der Bevölkerung, was das Gemeinwohl betrifft, vertreten sein und in Debatten aufeinandertreffen. Hauptaufgabe des Parlaments ist es also, Ort der öffentlichen Debatte und der öffentlichen Kontrolle des Regierungshandelns zu sein, wo Gesetze im Übrigen zwar verabschiedet, aber nicht ausgearbeitet werden (dafür sollte eine gesonderte „Legislativkommission“ zuständig sein). Das Vorurteil, ein Parlament wäre nichts als eine „Schwatzbude“, wird bei Mill geradezu zum Prädikat: „Ich wüsste nicht, wodurch sich eine Versammlung nützlicher machen könnte als durch Reden, wenn Gegenstand des Redens die großen nationalen Interessen sind und jeder Satz, der gesprochen wird, die Meinung wichtiger Gruppen oder eines Einzelnen repräsentiert, dem eine dieser Gruppen ihr Vertrauen geschenkt hat.“

Dabei sieht Mill jedoch auch die Gefahr, dass eine bestimmte Gruppe – und dabei hat er zunächst einmal die Massen der Arbeiterschaft im Auge – das Parlament im eigenen Interesse majorisieren und zum Nachteil des Gemeinwohls missbrauchen könnte. Um den Einfluss solcher „sinistrer“ Interessen abzuwehren, schlägt er daher einige Modifikationen des Wahlrechts vor, die die demokratischen Intuitionen des heutigen Lesers eher herausfordern dürften, so etwa ein Pluralwahlrecht für Bürger mit höherem Steueraufkommen oder Bildungsstand und, bemerkenswerterweise, die Öffentlichkeit der Wahl: Damit die Wähler gar nicht erst in die Versuchung kämen, bei ihrer Stimmabgabe vorauszusetzen, es ginge darum, im Sinne eigener Interessen anstelle des Gemeinwohls zu stimmen, sollten sie verpflichtet sein, ihre Stimme öffentlich (mündlich) abzugeben und zu vertreten.

Interessanterweise verliert Mill angesichts der Gefahr einer „Diktatur der Mehrheit“ im Sinne Tocquevilles jedoch kein Wort über Individualrechte oder Minderheitenschutz, abgesehen davon, dass jede Überzeugung, die von hinreichend vielen Wählern geteilt werde, im Parlament vertreten sein sollte. Dass etwa bestimmte Sachverhalte gar nicht zum Gegenstand einer Gesetzgebung werden sollten, weil sie durch bürgerliche Freiheitsrechte der Verfügung der politischem Gemeinschaft entzogen wären, diesen klassisch liberalen Gedanken äußert Mill nicht. Die Herausgeber legen daher auch großen Wert darauf, ihn als Vertreter eines „liberalen Republikanismus“ einzuordnen. Mill gehe es weniger um die individuelle Freiheit der einzelnen Bürger als um den Wert eines partizipatorisch organisierten Gemeinwesens, um eine gemeinschaftliche Verantwortung aller Bürgerinnen und Bürger für das Gemeinwohl. Nicht nur dass alle Bürger sich durch das Wahlrecht, aber auch als Amtsträger höchstpersönlich an den öffentlichen Angelegenheiten beteiligen sollten – und entsprechend dazu berechtigt sein sollten. Mill ist umgekehrt auch davon überzeugt, dass das Regierungssystem so eingerichtet werden sollte, den bürgerlichen Sinn für das Gemeinwohl möglichst zu stärken. Partizipation und Repräsentativregierung sind also nicht Selbstzweck, sondern selbst Mittel zur Hebung der bürgerlichen Moral. Dass sich auch ein aufgeklärter und gar politisch aktiver Bürger möglicherweise selbst eher in Distanz zum Gemeinwesen sehen, kein Interesse am öffentlichen Interesse haben und seine höchstpersönliche Freiheit im Abstand zu den öffentlichen Angelegenheiten entfalten wollen könnte, dieser Gedanke scheint Mill nicht zu kommen.

Dort, wo Mill schließlich den britischen Imperialismus und Kolonialismus vertritt, kommt die Kritik der Herausgeber nicht zu kurz. Mill betrachtet zwar auch den Kolonialismus als Mittel zum Zweck – nicht etwa der eigenen britischen Interessen, sondern einer zivilisatorischen Entwicklung der kolonisierten Regionen, wobei er allerdings die Interessen der jeweils einheimischen Bevölkerung nicht für berücksichtigungswürdig hält. Der Gedanke jedoch, dass es darum gehe, den qualitativen Entwicklungsstand eines Volkes oder einer Gesellschaft zu heben, steht nicht nur im Hintergrund seiner Überlegungen zum Kolonialismus, sondern seiner Theorie des Regierungssystems überhaupt. Dass diese erzieherisch-paternalistische und utilitaristisch aufgeladene Vision einer Republik partizipierender Bürger nicht nur kolonisierte Völker missachtet, sondern tendenziell auch im Konflikt zu den Freiheitsrechten eigensinniger Bürger steht, kommt in der kritischen Würdigung der Herausgeber leider etwas zu kurz. Unabhängig davon jedoch liegt mit dieser Edition nun eine weitere der Hauptschriften Mills in einer gründlichen deutschen Übersetzung vor, die auch für heutige Leser mancherlei anregende Gedanken über die institutionellen Bedingungen des Regierungssystems und einer umfassenden Partizipation der gesamten Bevölkerung daran bereithält.

Titelbild

John Stuart Mill: Betrachtungen über die Repräsentativregierung.
Übersetzt aus dem Englischen von Hannelore Irle-Dietrich.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
336 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518296677

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