Büchner – ein intellektueller Revolutionär?

Das von Roland Borgards und Harald Neumeyer herausgegebene Büchner-Handbuch lädt zum Nachdenken über Werk und Wirkung des visionären Autors in neuen Kontexten ein

Von Monika RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Georg Büchner ist modern, Georg Büchner ist gegenwärtig.  Seit der ersten Begegnung mit ihm in der Schule weiß man es und glaubt daran, denn wer sonst hätte während eines so kurzen Lebens so viel Widersprüchliches zu einem Denksystem eigener Prägung vereinen können, das noch im 21. Jahrhundert Leser, Wissenschaftler und Kunstschaffende fasziniert und zu immer neueren (Selbst-)Begegnungen herausfordert.  Man hört nicht auf, nach der Identität des hessischen Jünglings zu fragen, der zwar mit 23 Jahren starb, sich aber zu diesem Zeitpunkt schon einen mündigen Bürger, ernst zu nehmenden Naturwissenschaftler und die Sprache und das erstickte Leben früherkennend obduzierenden Schriftsteller nennen durfte. Folgerichtig drückt sich dieser „Schwärmer mit Seziermesser“ (Burghard Dedner) in seinen wissenschaftlichen Abhandlungen poetischer aus, als in seinen Dramen, in denen er sich – etwa in „Dantons Tod“ – ostentativ der Sprache der damaligen Zeit, sei sie noch so obszön, bediente. Sein Siegeszug begann erst im 20. Jahrhundert und sein Einfluss auf die nachfolgenden Schriftsteller-Generationen ist ungebrochen. Gerade diese prägen unser Büchner-Bild nachhaltig, nicht zuletzt durch die Dankesreden des nach Büchner benannten gröβten deutschen Literaturpreises. Es sind allesamt stilistische Glanzleistungen einer die eigene schriftstellerische Position in Anlehnung an oder Abgrenzung von Büchner veranschaulichenden intertextuellen Referenzkunst.

Mit diesen heterogenen und oft widersprüchlichen Vorstellungen, an Hand von Leben, Werk und Wirkung, befassen sich die Autorinnen und Autoren des von Roland Borgards und Harald Neumeyer herausgegebenen Handbuchs. Man nähert sich dem Phänomen Büchner in fünf Großkapiteln. Neben seinem schmalen, aber vielschichtigen Œuvre  werden kulturwissenschaftliche Problemkomplexe und Themenfelder,  Büchners poetische und ästhetische Verfahrensweisen  und die Rezeptionsgeschichte seines Lebens und seiner Werke  in aller Ausführlichkeit besprochen. Der Anhang  enthält zudem Notizen zum Leben, eine Auswahlbibliografie, ein Personenregister und eine Liste der mitwirkenden Büchner-Forscher.

Am  Anfang der Auseinandersetzung steht Büchners einzigartig umfangreicher Jugendnachlass.  Wichtigstes Merkmal der drei Hauptschriften – „Helden-Tod der vierhundert Pforzheimer“, „Ueber den Traum eines Arcadiers“ und der Cato-Rede – ist, dass sie als rhetorische Stilübungsaufgaben verschiedene historiografische und literarische Musterstellen verwerten; eine Vorgehensweise, so Susanne Lehmann, die auch Büchners späteren Dichtungen und Schriften eigen bleibt. Im Zusammenhang mit Büchners Einmischung in das Zeitgeschehen, dem „Hessischen Landboten“, der ihn zum politischen Schriftsteller und damit zur einmaligen Gestalt der deutschen Literaturgeschichte macht, kritisiert Michael Hofmann die Rezeptionstendenz der „nach-1968er“ Jahre. Büchner sei nicht nur als politischer Autor zu sehen, zumal in der Flugschrift neben gattungsspezifischer, taktisch-strategisch bedingter  Formulierungen eindeutige Spuren von Büchners „Sprachgewalt und Bildlichkeit“ zu erkennen sind.  Im Rahmen der Werkanalysen werden also Inhalte, zentrale Themen und Interpretationsansätze samt korrigierend-präzisierendem Feinschliff ebenso bedacht wie Quellen, Einflüsse, Entstehungsgeschichte und Textüberlieferung.

In vier Exkursen wird zudem die Position des jeweiligen Büchner’schen Textes innerhalb der Geschichte der Gattungen Geschichtsdrama, Novelle, Komödie und soziales Drama verdeutlicht. So stellt Ingo Breuer etwa für das Drama „Dantons Tod“, das einen „Stoff der neueren Geschichte“ behandelt,  fest, dass ihm mit der traditionellen Theorie des Geschichtsdramas nicht beizukommen ist. Die neuere Forschung erprobt Lesarten, die „die Reflexion über die Bedingungen der Literarität und Medialität, Theatralität und Performativität der eigenen Darstellung“, im Falle von „Dantons Tod“ auch die Metahistorizität, zu berücksichtigen sucht. Das Drama präsentiert dementsprechend „nicht nur wahrscheinliche oder tatsächlich geschehene ‚Historie‘, sondern stellt auch eine kritische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Historiographie zur Französischen Revolution […] dar.“ Im Kapitel „Ästhetik und Poetik“ wirft Nicolas Pethes noch einmal einen Blick auf dieses Stoff- und Sprachrepertoire und diskutiert dort Büchners Methode der Verarbeitung der Vorlagen.

Besonders spannend werden die Ausführungen dort, wo die Autoren Büchners Werk mit den zeitgenössischen Wissenschaften vernetzen und die Wechselwirkungen zwischen dem Autor und den gesamtkulturellen Fragestellungen seiner Zeit untersuchen.  Clemens Pornschlegel fokussiert die Darstellungsweise des Volkes, eine weitere einzigartige Position Büchners in der Literaturgeschichte,  nämlich die Infragestellung des Repräsentationsanspruchs der literarischen Autoren. Büchners „Konzeption des Volkes als einer heterogenen, der Repräsentation entzogenen Vielheit“ gewinnt ihre Konturen zunächst in der Auseinandersetzung mit den Volksvorstellungen des deutschen Realismus, die im Widerspruch zu den historischen Wirklichkeiten stehen und dadurch die Entstehung seines sozial-revolutionären Volksbegriffs befördern.

Roland Borgards denkt über die Tiere bei Büchner nach, darüber „inwiefern […] die Tiere einen Schlüssel zum Verständnis von Büchners Texten“ bieten und  „inwiefern […] umgekehrt Büchners Texte Auskunft über die Kulturgeschichte und die Problematik des Tieres“ geben. Er räumt mit dem gängigen Büchner-Bild eines Dichter-Arztes auf, auf das bis heute rekurriert wird, so auch in der Rede der Büchner-Preis-Trägerin 2012 Felicitas Hoppe („der melancholische Arzt“), und widmet sich dem bisher wenig untersuchten Feld der Tier-Repräsentationen in den literarischen Texten des Zoologen Büchner.  Weitere relevante schöpferische Kontexte sind unter anderem Religion, Psychologie, Ökonomie und Recht, aber auch Themenkomplexe wie Geschlechterdifferenz und Sexualität oder Schmerz, Melancholie und Wahnsinn.

Welche Zugänge sich die Nachwelt zum Werk Büchners im Laufe der Zeit erarbeitet hat, dokumentiert das Kapitel „Rezeption und Wirkung“. Man geht ausführlich auf die Problematik der Büchner-Editionen, die Rezeption vom Vormärz bis heute (mit Extrakapitel zu den Büchner-Preis-Reden) ein, eher kursorisch wird die Bedeutung Büchners für Bühne, Musik, Film und den schulischen Bereich abgehandelt.  Dieses inspirierende Handbuch bündelt auf diese Weise sowohl kompetentes Wissen über einen der Vorläufer der Moderne als es auch neue Impulse für eine weiterführende Beschäftigung mit ihm gibt.

Titelbild

Roland Borgards / Harald Neumeyer (Hg.): Büchner Handbuch. Leben - Werk - Wirkung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2009.
405 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783476022295

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