Wie eine unheilbare Krankheit

In ihrem Roman „Der Himmel anderswo“ folgt Daniela Meisel dem Weg von zwei jungen Menschen

Von Andreas TiefenbacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Tiefenbacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie Menschen „hetzen, plündern, vertreiben und vergewaltigen“, wie sie aus dem „Kampf um Unabhängigkeit, Besitz, Macht und Geld“ doch nur wieder „besitzlos, ohnmächtig und arm“ hervorgehen, muss Amira Sjelo in ihrer von Bürgerkrieg betroffenen bosnischen Heimat hautnah miterleben. Aus dem „sich gleich einer Epidemie ausbreitenden Wahnsinn“ ergreift sie aber erst die Flucht, als ihrem Mann die Kehle durchgeschnitten und sie selbst vergewaltigt wird. Für die Ausreise mit gefälschten Papieren muss sie allerdings dem Transportunternehmen „all ihren im Land verbleibenden Besitz“ vermachen.

Mit Sohn Milo auf dem Rücken und einer Tasche in der Hand erreicht sie schließlich Österreich, wo sie sich in einem „Ort im Süden des Landes“ mit vierzig anderen Flüchtlingen „einen Saal und zwei Toiletten teilen“ muss, „was viele Konflikte nach sich zieht“. Eine Rückkehr kommt für Amira auch dann nicht mehr in Frage, als der „temporäre Flüchtlingsstatus“ endet. Was sie vor allem abhält, sind der Hass, welcher die alte Heimat wohl „noch für Jahrzehnte verseuchen, der vielleicht niemals vergehen wird“, sowie die eigenen inneren „Bilder von zerstörten Wohnhäusern und Gehöften, von abgebrannten Ställen, von totem Vieh, das auf Straßen, Wegen und in den Gärten liegt, dazwischen Menschenkörper“.

Wenigstens gibt es da diesen Priester, der ihr und ihrem kleinen Sohn „geheimes Kirchenasyl“ gewährt. Und weil sie „viel arbeitet, die Sprache jeden Tag besser beherrscht, die Kirche besucht und sich zurückhaltend gibt, schweigen die Gemeindebewohner gegenüber den Behörden und dulden sie als Haushälterin des Pfarrers“.

Dass man „ihre Anwesenheit […] als vorübergehend“ betrachtet, daran ändern auch die Jahre nichts. So verwundert es kaum, dass sich Sohn Milo zwischen den Zeilen seiner Kinderbücher „heimischer [fühlt] als in der Wirklichkeit“. Er „lebt in einer Warteposition“.

In der befindet sich auch Irina, die ihre ersten sieben Lebensjahre in einer Bergarbeitersiedlung in Osteuropa verbringt, wo man „veralteten Fördertechniken und schlechten Sicherheitsvorkehrungen“ begegnet und der „Geruch nach Schweinekot und Urin“ allgegenwärtig ist.

Nach dem Tod des Vaters und des Bruders lebt Irina bei ihrem Onkel, als wäre sie eine Gefangene. Dessen Frau, Töchtern und Söhnen gleich müssen auch Irina und ihre Mutter „zum Betteln auf die Straße“. Gewohnt wird zu neunt in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im „letzten Stock eines Hochhauses […] in einer der vielen heruntergekommenen Plattenbausiedlungen am Stadtrand“. Zu essen gibt es „zwei Mahlzeiten pro Tag“, die „wenig Kohlehydrate und kaum Fette enthalten“. Irina darf ihre „Haare nur einmal im Monat waschen“, muss ihre Kleidung schmutzig halten, sich zeitweilig „die gesunden Arme und Beine verbinden“, mitleidig blicken, hinken oder mit einer Krücke gehen, um nur ja  „bedürftig zu wirken“.

In einem Land allerdings, dass ohnehin voll ist von „Menschen, die unter dem Existenzminimum leben“, ist betteln schwierig. Es bedeutet häufig Erniedrigung, die nicht selten „zu Beschimpfungen, manchmal körperlichen Angriffen wie Tritten und Stößen“ führt. Dazu kommt, dass Irina und ihre Cousinen und Cousins von sogenannten „Läufern“ des Onkels auf Schritt und Tritt verfolgt und kontrolliert werden. Denn wer auch nur versucht, Geld „für sich zu behalten“, muss damit rechnen, dass ihm „alle Finger und Zehen abgeschnitten“ werden. Und doch schafft es Irina, während sie Hustenanfälle vortäuscht und dabei ihre langen Haare und die Enden ihres Schals die Blechbüchse verdecken, Münzen zu entwenden. Sie ist fest entschlossen, die in ihr „keimenden Fluchtpläne“ zu realisieren.

Auch Milo sieht im „Verschwinden die Lösung eines Problems“: Der Krebstod seiner Mutter, die „Zuneigungsbekundungen des Priesters“ sowie der Umstand, illegal im Land zu sein, lassen den inzwischen jugendlichen Helden damit spekulieren, sich der „Anonymität einer Großstadt“ anzuvertrauen. Doch als er Wien schließlich erreicht, hat er das Gefühl, in „ein Labyrinth aus Mauern, Straßen und Gassen“ geraten zu sein, „in dem hinter jeder Ecke Gefahr lauert“.

Gefahren lauern auch auf Irina, die (mittlerweile fünfzehn) immer noch „eines von vielen Bettelkindern in einer heruntergekommenen Stadt in einem verarmten Land“ ist. Allerdings soll ihr auf einmal „eine Karriere als Fotomodell“ bevorstehen. Als sie das Ganze durchschaut, ist der Weg in die Zwangsprostitution längst irreversibel. Man schafft sie nach Wien, hält sie gefangen, drückt „brennende Zigaretten auf ihrer Haut“ aus, prügelt und vergewaltigt sie, bis sie das „Geschäft auf der Straße“ über sich ergehen lässt, das „wie eine unheilbare Krankheit […] ihren Körper langsam zu zerfressen“ beginnt.

Über sich ergehen lassen müssen die beiden Hauptfiguren Irina und Milo auf ihrem knapp zwei Jahrzehnte langen Weg, der sie von ihren östlichen Heimatländern aus über Wien bis ins „Städtchen im hohen Norden“ Europas zu einer kleinen Sternwarte bringt, so einiges. Es sind viele unangenehme Erfahrungen dabei. Aber die beiden verfügen über eine ungewöhnliche Widerstandskraft. Und sie sind Kämpfernaturen, was im Sternbild des Orion zum Tragen kommt, das in diesem spannenden, sachkundigen und gefühlvoll erzählten Roman eine Leitfunktion einnimmt.

Im Grunde haben die beiden (sie ist Opfer von Menschenhandel, er Kriegsflüchtling) auch gar keine andere Chance, als zu kämpfen. Von Geburt an ist nämlich nichts da, von dem sie zehren könnten. Es gibt keine Perspektive, entstammen sie doch  defizitären Verhältnissen; sind also nichts als Verletzte auf der Suche nach Hoffnung und Möglichkeit, ja nach Glück: einem „Himmel anderswo“, der nicht so düster und Angst machend ist wie der, unter dem sie sind, was sie sind: „zwei Menschen ohne Zugehörigkeit, um deren Wohlergehen sich weder Staat noch Familie sorgen“. Und dieser Himmel offenbart sich ihnen am Ende gerade dort, wo man ihn am wenigsten vermutet hätte, weil dort (wie nirgendwo sonst) eine ziemlich „dunkle Stille“ herrscht: Irina, die schon als Siebenjährige davon träumt, „sich in die Luft zu erheben“, doch ständig erfahren muss, dass „der Himmel unerreichbar“ weit weg ist, steht unter der geöffneten Kuppel der Sternwarte und fühlt sich plötzlich „dem Himmel so nah wie noch nie“. Nah fühlt sie sich sonst nur Milo, dem „Baumschläfer“, der bei Alpträumen in die Krone eines Ahorns steigt und in einer Astgabel schläft.

Nah scheint auch die Autorin ihren Figuren zu sein, welche sie mit großer Empathie durch diese flüssig zu lesende, präzise formulierte, authentisch wirkende Geschichte bringt, die in achtzehn von achtundzwanzig Kapiteln (Milo gehören die geraden, Irina die ungeraden) aus wechselnder Perspektive sehr viel Aufrüttelndes offenbart. Themen wie Asylsuche, Zwangsprostitution und erwerbsmäßiges Betteln von Kindern werden mit ziemlicher Wucht vorgeführt. Gut nachvollziehbar gelingt es der Autorin auch zu vermitteln, dass jemand, der weder über ein familiäres Umfeld noch über eine materielle Basis verfügt und dem in seinem kurzen Leben schon so viel Erschreckendes widerfahren ist, es auf Dauer „nur gemeinsam schaffen“ kann.

Darüber hinaus zeigt Daniela Meisel (für eine Biologin nicht untypisch), wie das mit der heilenden Kraft der Natur funktioniert: Dass ein Ahornbaum Alpträume vertreibt, ist ein schöner Hinweis. Dass „Milliarden Liter Wasser“ Erleichterung verschaffen und „Verletzungen in Abgeschiedenheit heilen können“, genauso. Das wird höchstens davon überstrahlt, dass Milo in dieser dünn besiedelten Gegend am Polarkreis Irinas Stimme plötzlich vorkommt „wie eine Feuerstelle mitten im Eis“.

Titelbild

Daniela Meisel: Der Himmel anderswo. Roman.
Picus Verlag, Wien 2013.
223 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783854526940

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