Stahlgewitter mit Achterbahneffekt

Über Kriegsfilme und ihre „Pathosszenen“ – interdisziplinäre Thesen und Beobachtungen zum emotionswissenschaftlichen Forschungsstand

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kriegsfilme als emotionalisierende „Welterzeugungsapparatur“

Samantha, eine der Hauptfiguren in Helene Hegemanns zweitem Roman „Jage zwei Tiger“, die wie alle Erzählinstanzen in diesem Buch ihre ganz eigenen Vorstellungen von Grammatik kultiviert, formuliert das Phänomen an einer Stelle so: „Wow, was wollen die alle mit detaillierten literarischen Schilderungen von sich durch Butterbrotpapier nässendem Frischkäse, mich interessieren Weltkriege, verdammte Scheiße.“ Offenbar denkt Samatha an der Stelle an jemanden, den sie liebt: So verworren die Textstelle auf den ersten Blick auch anmuten mag – die reflexhafte Verbindung von Kriegszenarien mit ,großen Gefühlen’ ist uralt, und sie ist nur ein Code von vielen, die in diesem Zusammenhang in unterschiedlichsten Medien immer wieder auftauchen, sei es in der Literatur, in der Kunst, oder im Film.

Wie kommt es zum Beispiel, dass Kriegsfilme seit jeher so erfolgreiche Kinoereignisse sind? Wieso ziehen sie – seit nunmehr gut 100 Jahren – immer noch wahre Massen von ZuschauerInnen an? Inwiefern beerben Kriegsfilme andere Genres oder bestimmen sogar deren Plotstrukturen mit? Dazu seien hier gleich zu Beginn einige nüchterne, womöglich gar trocken anmutende Thesen formuliert, um danach anhand des Kinofilms „Gravity“ von Alfonso Cuarón (USA 2013) ganz praktisch zu zeigen, wie sich der Einfluss des Kriegsfilmgenres im neuen Jahrtausend selbst in dramaturgischen Arrangements bemerkbar macht, in denen er für KinogängerInnen auf den ersten Blick vielleicht gar nicht unbedingt erwartbar erscheint. Gerade der schockhafte Einbruch kriegsgleicher Ereignisse aber hat einen großen Wiedererkennungswert und soll emotionale Reaktionen im Publikum hervorrufen, die auf mehr oder weniger bewusste Konditionierungen der ZuschauerInnen zurückgehen.

Genauso wie andere filmische Genres sind Kriegsfilme zugleich Spiegelbilder wie auch Manipulationsfaktoren diskursiv erzeugter Konstrukte aufwühlender Gefühle und Affekte in einer bestimmten Gesellschaft und zu einer gewissen Zeit. In der Rezeption können diese Emotionen mitunter sehr konkret erfahren werden. Zumindest ist dies das Ziel einer solchen mise en scène, die sich auf den Erfahrungsschatz und die Variabilität früherer Genre-Inszenierungen beziehen muss, um daraus ‚Skripte‘ aufzugreifen und weiterzuentwickeln, die das Publikum bereits kennt und unmittelbar emotional zu erfassen vermag.

Um hier einmal mit einem Ansatz der Beschreibung solcher medialer ,Übersetzungs’-Vorgänge einzusteigen, der nicht aus der Filmwissenschaft stammt, sondern in einem Aufsatz entfaltet wird, der sich vor allem auf Beispiele aus Johann Sebastian Bachs „Goldberg-Variationen“ (1741) bezieht: Mit dem Sprachwissenschaftler Ludwig Jäger könnte man von einer „Logik intra- und intermedialer Bezugnahmen in ästhetischen Diskursen“ sprechen, einer „Logik der Transkriptivität“, ohne welche die Medien ganz allgemein überhaupt gar nicht existieren und wirken könnten: Medien lassen sich demnach „nie unmittelbar, sondern immer nur über jene Medien beobachten“, in denen sie sich „über Differenzmarkierungen entfalten“, so dass „Kommunikationskulturen“ in den Blick gelangen, in denen das „symbolische Spiel interagierender und miteinander verwobener Medien die kulturelle Semantik generiert, stört, konserviert und fortschreibt“.

Kurz: Auch der Kriegsfilm, seine vorgängigen Genres und neueren Sub-Genres wären, mit Jäger gesprochen, Transkriptionen präskripturaler Paratexte, die visuell reinszeniert und auf diese Weise in jeweils ganz neue Skripte verwandelt werden. Verstanden und emotional wirksam werden können solche medialen Manöver ineinander verschränkter Prozessierungsformen von ästhetischen Darstellungsweisen allerdings nur bei einer entsprechenden „transkriptiven Intelligenz“ des Publikums, das die aufgegriffenen Präskripte kennen und ihre Neuinszenierung nachempfinden können muss. Genau wie andere Transkripte in der bildenden Kunst, der Musik oder auch in der Literatur avancieren Kriegsfilme durch solche intermediale Kopplungen geradezu zu einem „symbolischen Welterzeugungsapparat“ (Jäger) – und zwar in der ästhetischen ‚Reformulierung‘ von Ereignissen, deren ‚authentische‘ Kommunikation unmöglich ist, weil es in diesem spezifischen Fall immer um ein Grauen geht, das nur symbolisch vermittelbar ist: „Transkriptive Verfahren kommen immer dann ins Spiel, wenn ‚Informationen‘ mit Adressierungsdefekten vorliegen, wenn die eingeschriebenen Adressierungen auf Adressenordnungen stoßen, die erodiert sind“, so Jäger.

Genau dies aber gilt insbesondere für die Frage der Darstellbarkeit moderner Kriege – zumal seit demjenigen, der von 1914-1918 in Europa stattfand: Nur durch die ästhetische Substitution solcher ‚Kommunikationslücken‘, wie sie die sogenannte Urkatastrophe des vergangenen Jahrhunderts entstehen ließ, vermögen es Kulturen, „unlesbares Wissen lesbar zu machen beziehungsweise lesbares Wissen zu arkanisieren“. (Siehe Ludwig Jäger: Transkriptive Verhältnisse. Zur Logik intra- und intermedialer Bezugnahmen in ästhetischen Diskursen. In: Gabriele Buschmeier/Ulrich Konrad/Albrecht Riethmüller (Hg.): Transkription und Fassung in der Musik des 20. Jahrhunderts. Beiträge des Kolloquiums in der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, vom 5. bis 6. März 2004. Stuttgart: Franz Steiner 2008, S. 103-134.)

Die Frage, die sich jede(r) Regisseur/in stellen muss, der oder die das Publikum beeindrucken will, lautet: Wie sind mörderische, katastrophale und tödliche Ereignisse im Krieg oder in kriegsähnlichen Vorgängen so darstellbar, dass sie die ZuschauerInnen überhaupt ergreifen, erschüttern oder ihnen das Gefühl geben können, für Momente in Situationen wie einem Schlachtgeschehen selbst und geradezu körperlich mit dabei zu sein – oder es sich zumindest in einer Weise vorstellen zu können, die im Kino zu manifesten eigenen emotionalen Reaktionen (wie dem Weinen, der Wut, dem Zorn oder der Angst) führt?

So artifiziell und konstruiert solche Inszenierungen, mit denen sich das Publikum im Kino so gerne und durchaus lustvoll konfrontieren lässt, auch seit jeher gewesen sein mögen, so konkret können deren Effekte auf die ZuschauerInnen tatsächlich sein: Affekte werden in Genres wie dem des Kriegsfilms nicht nur repräsentiert, sondern auch im Publikum geweckt und nachempfunden beziehungsweise ganz individuell erlebt. Untersucht werden also inzwischen in der Filmwissenschaft weniger dargestellte Emotionen von Figuren, sondern konkrete Stimmungen, Gefühle und Affekte, die in ihren audiovisuellen Ausdrucksvariationen auf das Echo eines leiblichen Empfindens der ZuschauerIinnen zielen.

Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg kehrt zurück

Derzeit erleben wir – nicht nur aus Anlass des 100. Gedenkjahrs des Beginns des Ersten Weltkriegs, sondern aufgrund einer seit vielen Jahren andauernden und massiv gesteigerten kultur- und medienwissenschaftlichen Forschungsaktivität im Blick auf die Formen und Effekte von Kriegsdarstellungen – einen abermaligen Schub von Neuerscheinungen zum Thema. Die Vergegenwärtigung von Todesarten in den Kriegen, der Traumatisierungen der Opfer und derjenigen ihrer Angehörigen wird in der Gefühlsapparatur des Kinos immer wieder neu eingeübt. Diese ,Emotionen des Kriegs’ werden dort gleichsam rituell erinnert, wiederbelebt und nacherlebt – und zwar bereits seit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, wo zum Beispiel das Genre des Zombie-Films erfunden wurde, ohne dass man es damals schon so genannt hätte: Der Experte für diese Frühphase des Kinos Philipp Stiasny erinnert in der von Jennifer M. Kapczynski und Michael D. Richardson herausgegebenen „New Story of German Cinema“ an frühe Filme, die in diesem Sinne auf den Kontext des Ersten Weltrkriegs rekurrierten und von der Unheimlichkeit der unerwarteten, konkreten Wiederkehr totgelaubter Vermisster nach 1918 handelten: So etwa in dem Film „Das Floß der Toten“ von Carl Boese (Deutschland 1921), oder, mit Sigmund Freud gelesen, auch in Filmen wie „Nosferatu, eine Symphonie des Grauens“ von Friedrich Wilhelm Murnau (Deutschland 1922), in dem das Verdrängte als ,Untotes’ Angst und Schrecken verbreitet – übrigens in diesem Fall noch dazu in Kopplung mit dem antisemitischen Code des Fantasmas des „Ewigen Juden“. Anton Kaes rubrizierte solche Filme bereits 2009 in einer in Princeton erschienenen Studie als „Shell Shock Cinema“. Dass dieser Bezug des frühen Vampirfilms „Nosferatu“ zu den Traumatisierungen an den Fronten des Ersten Weltkriegs im Publikum der Zwischenkriegszeit der 1920er-Jahre einmal  hergestellt werden konnte, wäre also etwa eine weitgehend in Vergessenheit geratene „Transkription“ im Sinne Jägers, deren Code für das heutige Publikum „arkanisiert“ erscheint und erst wieder historisch hergeleitet oder dechiffriert werden muss, um abermals verstanden werden zu können.

Auch Lewis Milestones Klassiker „All Quiet on the Western Front“ (USA 1930) wäre hier zu nennen, dessen deutsche Skandalisierung zur Zeit des Aufstiegs der NSDAP zur Massenpartei Dayton Henderson in der zitierten Filmgeschichte skizziert: Die Hollywood-Verfilmung des Romans „Im Westen nichts Neues“ des deutschen Romanciers Erich Maria Remarque (1929) setzte bereits ganz neue Maßstäbe in der cineastischen Schlachtendarstellung und vor allem auch in der Inszenierung der Folgen dieser von Kaes angesprochenen Shell Shocks, also der soldatischen Traumatisierung durch das Trommelfeuer und das nahe Einschlagen beziehungsweise Detonieren von Projektilen, Granaten und Bomben.

Das seinerzeit noch massiv tabuisierte ‚Durchdrehen‘ deutscher Soldaten im Unterstand in Nahaufnahme und in quälender Ausführlichkeit zu zeigen, war eine Konfrontation mit entgleisenden Gefühlen von Männern, die die Nationalsozialisten mit massiven Boykottaufrufen und Störungen quittierten: Der Kriegsfilm war endgültig zu einer spezifischen Form des ‚männlichen‘ Melodrams ‚transkribiert‘ worden, das die ‚Härte‘, die man von Soldaten im Kampf selbstverständlich verlangte, gleichsam in Tränen zerfließen ließen – und zwar vor allem auch im Kino-Publikum selbst. Diese ‚verbotenen‘ Gefühle mussten insbesondere unentwegte soldatische Männer, Faschisten und Nationalsozialisten ängstigen, weil solche Emotionen für sie einer Selbstauflösung ihres ‚Körperpanzers‘ gleichkam, wie wir seit Klaus Theweleits klassischer Studie „Männerphantasien“ (1977/78) wissen.

Der Forschungsboom ist längst selbst zum Phänomen geworden

Die psychoanalytische oder auch auf neuro- beziehungsweise kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse rekurrierende Untersuchung solcher oder ähnlicher ‚Trauma‘-Filme, Theaterstücke oder Gefühlsdarstellungen allgemein und ihrer emotionalen Rezeption bringt nunmehr seit vielen Jahren quasi permanent neue Publikationen hervor, die selbst in einem so breit arbeitenden Forum mit einem so großen Textaufkommen wie literaturkritik.de schon lange nicht mehr alle rezensiert werden können. Längst ist das Forschungsparadigma selbst ein möglicher Forschungsgegenstand geworden, der auf zentrale Ängste, ideologische Verunsicherungen und eine seltsame ‚Sinnsuche‘ in einer vom Terror und den sogenannten asymmetrischen Kriegen geprägten, angeblich ‚postheroischen‘, ‚posthistorischen‘ und ‚postideologischen‘ Ära schließen lässt, in welcher der Massenmord entgegen euphorischer Annahmen zur Zeit des Zusammenbruchs des ‚Ostblocks‘ in den Jahren 1989/1990 nach wie vor alltäglich geschieht oder droht – nicht ‚nur‘ in Syrien.

Gleichzeitig frappiert der allgemeine Drang, Emotionen zu erforschen, also einen Aspekt, der für Jahrzehnte in den Geisteswissenschaften kaum ein Thema war. Selbst die Psychoanalyse, die lange out gewesen zu sein scheint, ist in diesem Zuge offenbar zu neuem Leben erwacht und behauptet erneut ihren Platz. Der Gerechtigkeit halber sei hier nur einmal kursorisch auf einige wenige einschlägige Titel hingewiesen, wie sie beinahe täglich in unserer Redaktion eingehen und in den letzten Jahren leider nicht rezensiert werden konnten: „Trauma im Film. Psychoanalytische Erkundungen“, herausgegeben von Sabine Wollnik und Brigitte Ziob (2010), Hanns-Christian Mennengas „Präödipale Helden. Neuere Männlichkeitsentwürfe im Hollywoodfilm. Die Figuren von Michael Douglas und Tom Cruise“ (2011), „Kultur der Gefühle. Wissen und Geschlecht in Musik, Theater, Film“, herausgegeben von Andrea Ellmeier, Doris Ingrisch und Claudia Walkensteiner-Preschl (2012) oder auch der von Julia Barbara Köhne herausgegebene Band „Trauma und Film“, der unter anderem Kriegsfilm-oder Trauma-Film-Analysen von Claudia Liebrand, Lars Koch, Ann Kaplan und Thomas Ballhausen versammelt.

In and Out: Der Kriegsfilm als ‚Body-Genre‘

In einer der wichtigsten und neuesten Erscheinungen, auf die in diesem Forschungsfeld hinzuweisen ist und die den Titel „Mobilisierung der Sinne“ trägt, haben die HerausgeberInnen Hermann Kappelhoff, David Gaertner und Cilli Pogodda Beiträge zum „Hollywood-Kriegsfilm zwischen Genrekino und Historie“ publiziert. Die Aufsätze sind durchweg von ausgewiesenen SpezialistInnen verfasst, die in vielen Fällen aus dem Umkreis des Exzellenzclusters „Languages of Emotion“ an der Freien Universität Berlin stammen. Dabei handelt es sich um eines der wichtigsten Zentren des genannten wissenschaftlichen Trends. Dass der neue Sammelband noch dazu so etwas wie eine lang erwartete Bilanz bisheriger Forschungsergebnisse versucht, die außerhalb des Clusters bis dato kaum bekannt waren, dürfte in der Forschungscomunity bald für einiges Aufsehen sorgen.

Immer deutlicher wird die Neuorientierung der Filmwissenschaft, durch die der Kriegsfilm mit der Definition der Filmwissenschaftlerin Linda Williams als Body-Genre verstanden wird, also als eine Form cineastischer Inszenierungen, die auf somatische Gefühle der ZuschauerIinnen zielen und somit anstreben, das Publikum in seiner Wahrnehmung in einer extremen Weise in die Bilderwelt des Kinos hineinzuziehen, die zu manifesten emotionalen und körperlichen Reaktionen führt. Gleichzeitig ist als ein Ergebnis all dieser Untersuchungen festzuhalten, dass die bisherige strikte filmhistorische Unterscheidung von Genres wie dem Melodram, dem Western, dem Horror-, Science-Fiction, Folter- und Pornofilm im Blick auf diese Erzeugung von Effekten im Kino hinterfragt werden muss. Sind doch diese Genres Teil einer großen ‚Evolution‘ filmischer Erzeugungsweisen von Gefühlen, die durch all diese Inszenierungsformen hindurchgingen, sie weiter umformten und selbst durch sie gewandelt wurden.

Im Body-Genre, wie es unter anderem Michael Wedel im Band von Kappelhoff et al. thematisiert, geht es immer wieder um intimste körperliche Vorgänge, die hautnah gezeigt werden, um die ZuschauerInnen zu erregen, zu entsetzen und zu schockieren, um konkret wirkende Visualisierungen des Körperinneren, aber auch um die ekelerregende Zerstörung von Körpern, ihre Spasmen, ihr Zittern und ihre Gefühle im Zustand des Schmerzes, der Ekstase und des Sterbens. Dauernd dringt nicht nur im Porno-, sondern eben auch im neueren Kriegsfilm irgendetwas in die Körper ein oder spritzt heraus. Was zumal in Hollywood im 20. Jahrhundert jahrzehntelang tabuisiert und verboten worden war, ist im Zeitalter der sogenannten asymmetrischen Kriege bemerkenswerterweise zu einem Standard selbst solcher Inszenierungen geworden, die offensichtliche propagandistische Ziele verfolgen.

In seiner materialreichen Marburger Dissertation über die „Neuen Kriege im Film. Jugoslawien, Zentralafrika, Irak, Afghanistan“ (2012) zeigt Rasmus Greiner etwa anhand des US-Filmes „Black Hawk Down“ von 2001 (und entsprechend drastisch illustrierenden Filmstills), wie ‚explizit‘ solche Szenen schwerster Verletzungen von SoldatInnen mittlerweile seit vielen Jahren inszeniert werden: In „Black Hawk Down“, einem der plumpesten und verlogensten Kriegs-Propgandafilme des letzten Jahrzehnts, wird etwa ein Soldat gezeigt, dem sein gesamter Unterkörper weggesprengt wurde und der dennoch für einige Sekunden bei Bewusstsein bleibt. Besonders bemerkenswert ist in diesem Film aber auch eine gewissermaßen medizinische Nahaufnahme einer Notoperation zerfetzter Blutgefäße: Dieser schockhaften Konkretion vermag sich niemand zu entziehen, weil sie Erfahrungen wahrnehmbar zu machen versucht, welche die meisten RezipientInnen in ihrer Härte und schmerzhaften Direktheit nie zuvor erfahren oder auch nur gesehen haben werden. Greiner spricht hier von einer „morbide[n] Faszination“: Das „gefahrlose Ausloten von persönlichen Grenzwerten des Erträglichen“ möge eine „Rolle für die Konsummotivation expliziter Inhalte spielen“, mutmaßt der Autor. In „Black Hawk Down“, übrigens einem veritablen Blockbuster-Movie, der mit diesem extremen emotionalisierungsstrategischen Kalkül tatsächlich ein Massenpublikum erreichte, werde dabei allerdings nur um Mitgefühl für das Leiden amerikanischer Soldaten geworben, während der Todeskampf der somalischen Gegner dieser Rekruten ausgespart bleibe.

Nicht zuletzt ist an dieser Stelle zumindest kurz an eine der umfangreichsten Studien der letzten Jahre zu verweisen, welche die Instrumentalisierungen der Darstellung von Sexualität in pornografischen „Sadiconazista“-, „Naziploitation“- beziehungsweise „Exploitation“-Holocaust-Streifen der 1970er-Jahre und selektiver Opfer-Inszenierungen bis hin zu neueren deutschen Kriegsfilmen der 2000er-Jahre in einer geradezu monumentalen Breite aufarbeitet und in ihrem Umfang die ebenfalls bereits umfassend angelegte Abhandlung von Greiner in ihrem spezifischen Untersuchungsfeld noch übertrifft: Sonja M. Schultz’ Doktorarbeit „Der Nationalsozialismus im Film. Von Triumph des Willens bis Inglorious Basterds“ (2012).

Diese gleich mehrspaltig gedruckte und mit vielen Abbildungen versehene Studie vollbringt das Kunststück, eine weitgehend lückenlose Darstellung der NS-, Kriegs- und Holocaust-Kino-Geschichte seit den 1930er- und 1940er-Jahren zu liefern und noch dazu stets auf der Höhe der Forschung zu bleiben: Stichproben in dem stupenden Handbuch führten den Rezensenten jedenfalls zu durchweg gut informierten und niemals unkritischen Einzelartikeln, etwa zu problematischen geschichtspolitischen Phänomenen wie der „Knoppisierung“ der deutschsprachigen Medialisierung der NS-Geschichte sowie den neuen deutschen „Retro-Melodramen“ oder Täter-Opfer-Umkehr-Machwerken wie Bernd Eichingers Hitler-Kriegsfilm „Der Untergang“ (Deutschland / Italien / Russland / Österreich 2004).

Empirische Forschungen zeitigen erste greifbare Ergebnisse

Hermann Kappelhoff und seine MitarbeiterInnen präsentieren in ihrem Band zur „Mobilisierung der Sinne“ ein von dem Projektleiter entwickeltes 8-Punkte-Schema emotionalisierender Standardszenen, das unter anderem durch empirisch und softwaregestütze Empirie-Diagramme zur Affektdramaturgie typischer und klassischer Kriegsfilme flankiert wird: Weitere Aufsätze, Filmausschnitte und nicht zuletzt die erwähnten schematischen Schaubilder kann man auf einer Website des Clusters einsehen, auf die im besprochenen Band immer wieder verwiesen wird.

Für Kappelhoff kann der Kriegsfilm nur dort „zum Medium der Partizipation an einem gemeinschaftlich geteilten Gefühl“ werden, wo „er dieses Gefühl in konkreten einzelnen Subjekten als ein psychisches wie physisches Erleben verwirklicht“. Die „Verschränkung der subjektiven Realität leibgebundenen Selbstempfindens mit einer abstrakten Idee von Gemeinschaft“ bezeichne die „Nahtstelle, an der sich das Hollywoodkino mit der historischen Erfahrung des Krieges verbindet“. Laut Kappelhoff ist der Kriegsfilm also nur mittels eines bereits vorhandenen Sense of Community emotional nachzuempfinden oder mitzuerleben – und er ist zugleich ein kardinaler Produzent, Multiplikator und Verstärker eines solchen Gemeinschaftsgefühls im Kino.

Zentral ist dabei also die These, dass „Genrepoetiken auf kollektiv geteilte Emotionen bezogen sind, die sie als affektives Unterfutter gesellschaftlichen Zusammenhalts gleichermaßen hervorbringen wie umformen und transformieren“. Das Verstehen des Zuschauers werde so in ein emotionales Erleben eingebettet. Handele es sich doch um ein „System unterschiedlicher ästhetischer Erlebnismodi, das die Affektivität der Zuschauer adressieren, formen und ausdifferenzieren“ könne. Dabei geht es selbstverständlich immer auch um eine emotionale Vermittlung von Ideologien: „Denn Kriegsfilme verorten nicht nur die dargestellten Begebenheiten, sondern auch ihre Zuschauer stets historisch. Sie adressieren diese als Individuen, die durch ein Wir-Gefühl so sehr mit der abstrakten politischen Einheit der Nation verbunden sind, dass sie deren Feinde ebenso als persönliche Feinde erleben, wie sie deren Tote gleichsam als Angehörige betrauern.“

Als Literaturwissenschaftler könnte man an dieser Stelle auch Terry Eagletons klassische „Einführung in die Literaturtheorie“ (1983/1996) zitieren: Ist doch die ,Ideologie’ laut Eagleton „die Art und Weise, wie das, was wir sagen und glauben, mit der Machtstruktur und den Machtbeziehungen der Gesellschaft, in der wir leben, zusammenhängt“. Eagleton meint mit ,Ideologie’ also „nicht einfach die tief verwurzelten, häufig unbewußten Überzeugungen, die Menschen haben“, sondern „vielmehr jene Art zu fühlen, zu bewerten, wahrzunehmen und zu glauben, die zur Sicherung und Erhaltung der sozialen Macht in irgendeiner Beziehung steht“.

Cilli Pogodda, David Gaertner und Jan-Hendrik Bakels referieren Kappelhoffs Thesen in ihren Beiträgen weiter beziehungsweise versuchen die Ergebnisse ihres Projekts aus eigenen Perspektiven heraus weiter zu verdeutlichen: Es gehe um Ausdrucksbewegungen und Affektdramaturgien des filmischen Bildes, die „als eine zeitliche Struktur in der Bewegung der inszenatorischen Komposition realisiert“ würden (Pogodda). Dabei wird also die Theorie des „Bewegungsbildes“, die Gilles Deleuze entwickelte, mit dem Wagnis empirischer Verfahren der Sequenzierung und Analyse von Kriegsfilmen verknüpft: „Die Kompositionen aus Kamerabewegungen und Figurenchoreographien, aus den Rhythmen der Montage“, so die Filmwissenschaftlerin weiter, verbänden sich „in der Wahrnehmung stets zu einer zusammenhängenden, zeitlichen Gestalt mit einer spezifischen affektiven Qualität“, verwandelten sich also in eine „spezifische zeitliche Modulation“ des ZuschauerInnen-Empfindens.

Eine probeweise Anwendung: ‚Kriegerische‘ Pathosszenen in Alfonso Cuaróns „Gravity“

Die Ergebnisse, die Kappelhoff in dem Band „Mobilisierung der Sinne“ referiert und systematisch aufarbeitet, helfen uns, neuere Inszenierungsformen des Blockbuster-Kinos in ihrer emotionalen Wirkungsstrategie besser zu verstehen. Um aus dieser Perspektive nur ein Beispiel zu nennen, das kürzlich in die Kinos gekommen ist und überdurchschnittliches Aufsehen erregte: Alfonso Cuaróns beklemmender Weltall-Film „Gravity“ mit Sandra Bullock und George Clooney in den Hauptrollen ist ein Paradefall eines effektgeladenen und hochartifiziellen Szenarios, das einige der zentralen Pathosformeln des Kriegsfilms als Body-Genre übernimmt und ‚transkriptiv‘ weiter ausformt. Dabei kommen unter anderem vielfältige Formen der Immersion zum Tragen – also ‚seduktiven Strategien filmischer Inszenierung‘, wie sie Marcus Stiglegger in seinem Beitrag nennt und wie sie die ZuschauerInnen in ihrer emotionalen Wahrnehmung tief in das dargestellte Geschehen hineinziehen.

Letztlich handelt es sich auch in „Gravity“ um ein Arrangement rhythmischer Montagen von Schocks, die man bereits aus literarischen Texten zum Ersten Weltkrieg der 1920er-Jahre (und insbesondere aus Gefechtsbeschreibungen bei Ernst Jünger, aber auch von ,pazifistischen’ Romanen her) kennt: Der erzählende oder Tagebuch schreibende Soldat ist im Schützengraben möglichen Artillerie-Einschlägen nach dem puren Zufallsprinzip auf Gedeih und Verderb ausgeliefert und metaphorisiert diese Gewalten gerne mit Bildern von ,Naturkatastrophen’ wie dem vielzitierten „Stahlgewitter“ bei Jünger. Ähnliche Darstellungen aus der Sicht des Soldaten, der sich in der Schlacht verloren fühlt, gibt es aber etwa auch in Steven Spielbergs D-Day-Darstellung in „Saving Private Ryan“ (USA 1998) oder späteren Kino-Inszenierungen spektakulärer Schlachten- und Kampfszenen wie John Woos „Windtalkers“ (USA 2002), die normsetzenden Einfluss auf das Gegenwartskino entwickelt haben.

In „Gravity“ wird man, unterstützt durch die 3D-Technik, in ein massives Gefühl der Orientierungslosikgkeit, des Schwindels und des hilflosen Ausgeliefertseins gegenüber der tödlichen Unendlichkeit des Alls versetzt. Die Folge sind feuchte Hände, die sich fest um die Lehnen des Kinosessels klammern, ein vages Gefühl der Verlorenheit, der Angst und das dringende Bedürfnis, frei atmen zu können beziehungsweise dringend wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren – obwohl man sich selbst keineswegs in einem Raumanzug ohne zureichende Sauerstoffzufuhr oder gar im schwerelosen Raum befindet.

Diese Empfindungen resultieren aus folgender Affektdramaturgie des Films: Aufgrund einer Kettenreaktion der Explosion beziehungsweise Zerstörung verschiedener Satelliten und Raumstationen schießen Massen von Trümmerteilen wie Geschosse durch den Äther. Sie machen die Erdumlaufbahn für Ryan Stone (Sandra Bullock) und Matt Kowalski (George Clooney), die zu Beginn des Films gerade dabei sind, ihre US-Raumstation von außen zu reparieren, zu einem wahren Stahlgewitter mit Achterbahneffekt. Bereits wenige Minuten nach Filmbeginn werden alle Besatzungsmitglieder dieser Expedition getötet. Ryan Stone wird mitsamt einem riesigen, kreisenden Teleskoparm vom Mutterschiff abgesprengt, an den sie sich für die Reparaturarbeiten anketten musste. Erst relativ spät, nach verwirrend lang erscheinenden Sekunden chaotischer Zerschmetterungen gigantischer Materialbrocken in unmittelbarer Nähe, die mit dröhenden Sounds und dazwischengerufenen, warnenden Funksprüchen einhergehen, kann sich die Protagonistin dort ausklinken. In diesem Moment wird sie in einer rasenden, von ihr selbst nicht mehr zu stoppenden Purzelbaumbewegung in den unendlichen Raum geschleudert.

Letztlich handelt es sich dabei um eine traumatisierende Erfahrung, die mit dem Shell Shock des Ersten Weltkriegs und vor allem auch seinen Symptomen (wie zum Beispiel Schwindel) vergleichbar erscheint und dem Publikum leiblich nahegebracht werden soll: Auch dank der 3D-Technik übertragen sich die alptraumartigen Schleuderbewegungen, die dadurch verusachten Schwindelgefühle und die Orientierungslosigkeit der Figur auf die ZuschauerInnen im Kino. Das neuartige audiovisuelle Erlebnis vermittelt ihnen so zumindest eine Andeutung der Panik, zu ahnen oder zu wissen, dass der eigene Tod in dieser kompletten Ausgeliefertheit der Figur sehr wahrscheinlich und sehr bald eintreten werde. Wir sind plötzlich ganz nah am Helm Ryan Stones, der sich von innen zu beschlagen beginnt, hören sie laut keuchen und darüber klagen, nicht mehr atmen zu können. Aus subjektiven, schleudernden Kameraperspektiven erleben wir mit, wie die Frau immer nur Bruchteile von Sekunden einen Teil der Erde sieht und sich durch die Beschleunigung ihrer perpetuierten Körperdrehung nicht mehr zu orientieren vermag.

Hermann Kappelhoff referiert in seinem Beitrag über den „Krieg im Spiegel des Genrekinos“ jene acht zentralen „Pathosszenen“, die an der FU Berlin in seinem Exzellenzcluster-Projekt „Affektmobilisierung und mediale Kriegsinszenierung“ ermittelt wurden, um die „Modulation von Zuschauergefühlen genauer zu bestimmen“. Könne doch in einer solchen „Rekonstruktion der affektdramaturgischen Muster“ greifbar werden, „wie so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl als Zuschauergefühl entsteht und in gesellschaftlichen und politischen Prozessen wirksam wird“. Dazu zähle im Kriegsfilm unter anderem die Inszenierung von „Kampf und Natur“, von „Horror (Angst)“ und „Feindseligkeit“.

Dieses Schema lässt sich zum Beispiel besonders gut für eine ansatzweise Analyse von Cuaróns Film fruchtbar machen. Obwohl es sich bei „Gravity“ um keinen Kriegsfilm handelt, werden nämlich auch in diesem Film rigide ideologische Werte postuliert. Die freundlichen Funksprüche aus Houston, die den handelnden Figuren zunächst noch wie die Weisungen einer extradiegetischen Erzählinstanz Orientierung zu geben versuchen, wirken dabei wie die sorgenden Stimmen einer gottgleichen Instanz, die gleichsam von der ,Heimatfront’ aus ins All sendet: Die NASA weiß dabei sogar über Details wie den Blutdruck und die Körpertemperatur der Protagonistin Bescheid. Diese ,Erzählstimme’, deren ,allwissende’ Kontrolle dann allerdings jäh verloren geht, baut vor ihrem Verstummen ein vages Feindbild auf. Waren es doch den NASA-Funksprüchen zufolge die Russen, die das anrückende ‚Stahlgewitter‘ im All auslösten, um damit das friedliche US-Team in Lebensgefahr zu bringen und bereits in den ersten Minuten des Films tatsächlich nahezu komplett auszulöschen. In den Wochen des Kinostarts im Herbst 2013, in denen auch angesichts des NSA-Skandals und des russischen Asyls für Edward Snowden auf den Bühnen der Weltpolitik bereits seit Monaten geradezu gebetsmühlenhaft beteuert wurde, der Kalte Krieg sei Geschichte, erschien dieses fiktive Detail in „Gravity“ immerhin bemerkenswert, um nicht zu sagen ,ehrlicher’ als das, was man dem Publikum in den Nachrichten als Fakten verkaufte. „Gravity“ geht von einer dräuenden Feindseligkeit aus, einem unerklärten Krieg zwischen den USA und Russland – einem Krieg, von dem auch die erstaunten SympathieträgerInnen im Film nichts zu ahnen scheinen, bis er faktisch über ihr Leben hereinbricht und das kurz zuvor noch so friedliche, stille All in die Hölle verwandelt.

Zugleich geht „Gravity“, durchaus in Übereinstimmung mit klassischen Kriegsfilmen wie etwa Francis Ford Coppolas „Apocalypse Now“ (USA 1979), auch sonst vollkommen konform mit den an der FU Berlin ermittelten Standardszenarien: „In diesen Pathosszenen wird die Auseinandersetzung mit der Natur an Stelle beziehungsweise als Erlebnisform des Kampfes mit dem Feind gesetzt“, erklärt Kappelhoff. „Die affektive Dimension der Pathosszenen Kampf und Natur leitet sich aus dem Inszenierungskonzept des klassischen Horrorfilms her: Die unheimliche Ungewissheit darüber, was man sieht oder hört, die Angst vor dem Verlassensein, vor dem Verlust der individuellen Gestalt und des Ichs im Chaos. Gegen diese Angst stellen sich dann der individuelle Mut der Verzweiflung und die aggressive Selbstbehauptung des militärischen Ordnungssinns.“

In „Gravity“ fehlt vielleicht nur Letzteres, wobei dennoch das konservative Geschlechterbild frappiert, in dem sich die Figur der Protagonistin Stone hauptsächlich durch ihre trauernde Mutterrolle in der verlassenen ‚zivilen‘ Welt definiert, in der ihre kleine Tochter früh durch einen Unfall starb, so dass die Astronautin wie eine melodramatische Heroine in 3D weint, damit uns ihre Tränen zu sphärischen Klängen als glänzende Tröpfchen schwerelos entgegenschweben können. George Clooney spielt derweil genau diesen ‚Ordnung stiftenden‘ und jovialen Militär-Typ, der sich gleich zu Beginn selbstlos opfert, um als Sacrifice das Bestehen der US-Genealogie zu sichern, für das der von Sandra Bullock verkörperte Charakter im Film ganz eindeutig steht: Sie soll ihre Trauer und ihre psychische Beschädigung im Kampf mit der Natur überwinden und durch einen veritablen rite-de-passage hindurchgehen, um am Ende in der ‚Heimat‘ auf Mutter Erde erneut Boden unter den Füßen zu bekommen. Der metaphorische ‚Gegner‘ dieses geradezu reaktionären Rollenspektrums aber geht mit der von Kappelhoff beschriebenen Pathosszene konform: „Die Natur wird als Wirkungsmacht des Chaos inszeniert, die sich sowohl auf die Wahrnehmung und Orientierung des Einzelnen bezieht, als auch auf die Anstregungen des Corps, eine Ordnung aufrecht zu erhalten, auf der seine Handlungsfähigkeit beruht.“

In einer Szene, in der Kowalski und Stone nach dem ersten ‚Stahlgewitter‘ des Films in extremem Zeitdruck und in akuter Lebensgefahr auf eine rettende Raumstation zudriften, versucht der von Clooney gespielte Kowalski, seine Partnerin in den wenigen entscheidenden Minuten zu beruhigen, indem er sie gezielt nach Erinnerungen an ihren irdischen Alltag fragt. Er will sie in der lebensbedrohlichen Situation dazu bringen, sich einen typischen Feierarbend in jenem ‚zivilen Leben‘ zu vergegenwärtigen, das sie beim Eintritt in das NASA-‚Corps‘ hinter sich ließ, um es bedingungslos in den Dienst einer ‚nationalen Sache‘ zu stellen. Dabei handelt es sich offensichtlich um eine ‚Transkription‘ der Standard-Pathosszene Heimat, Frau, Zuhause, wie sie Kappelhoff als ein weiteres typisches Element des Kriegsfilms kennzeichnet: „Diese Pathosszenen legen den Fokus auf den Austritt aus der sozial grundierten militärischen Ordnung; dabei inszenieren sie stets auch einen Erinnerungsbezug. Das affektive Potential dieser Pathosszene entwickelt sich in der ersten Variante aus der tröstenden Sehnsucht nach der zivilen Sozialität und ihren Merkmalen und Komponenten. Hier ist die Abwesenheit (vorher) abwesender Merkmale, Momente und Figuren des vorkriegerischen, zivilen Alltags für den Erinnerungsbezug maßgeblich, oft inszenatorisch übermittelt durch innerfilmisch medialisierte Bezüge zur zivilen Gesellschaft – etwa Fotografien oder Radiomusik.“

Letztere tauchen in „Gravity“ ebenfalls auf, etwa in Form des Familienfotos eines gleich zu Beginn des Films getöteten Astronautenkollegen von Stone und Kowalski – oder auch mittels der immer wieder durch die NASA eingespielten, säuselnden Country-Musik, die sozusagen von einer Tea-Party-mäßigen Geborgenheit in der nahen Erdatmosphäre künden soll: Was im Vietnamfilmen wie „Apocalypse Now“ durch typische Songs wie „The End“ von den „Doors“ evoziert wird, avanciert damit bei Cuarón zu einem ironischen Aperçu. Immerhin fühlt sich Stone bereits in den ersten Minuten des Films durch diese Musikeinspielung irritiert und gestört. Kowalskis Tod wiederum, der absehbar ist, als er sich für Stone in einer extrem emotionalisierenden Szene opfert, um zumindest ihr Leben zu retten, entspricht dem Kappelhoff’schen Szenario „Leiden/Opfer – Agonie / Trauer“: „Das Opfer als sacrifice verbindet das Sterben des Soldaten inszenatorisch mit einem höheren Sinn, gebunden an die Ideale der Armee und der Nation. Der Opfertod realisiert sich als Heldentod“.

Genaugenommen rettet Kowalski seine Kollegin Stone zweimal, ja nach seinem Tod als ‚Geist‘ oder ‚Fantasie‘ seiner Kollegin sogar ein drittes Mal: Auch schon seine erste Heldentat im Film erscheint geradezu selbstmörderisch und folgt dem unter anderem aus Ridley Scotts erwähntem Somalia-US-Kriegsfilm „Black Hawk Down“ bekannten Motto, kein „Mann“ werde zurückgelassen. Dass es sich hier dabei allerdings um eine Frau handelt, folgt der Tendenz neuerer Genre-Transkriptionen, wie man sie unter anderem auch aus der „Aliens“-Serie kennt, in der die Heldinnen ebenso tough erscheinen, wie sie gleichzeitig durch ihre (im Fall von „Aliens“ äußerst furchterregend inszenierte, weil extrem dämonisierte) Gebährfähigkeit charakterisiert werden.

Die Vielschichtigkeit der Retrospektion

Ähnlich erhellend sind in dem Berliner Band aber auch die Analysen ausgewiesener Spezialisten wie Drehli Robnik (über Quentin Tarantinos „Inglourious Basterds“, den der Autor auf umsichtige und differenzierte Weise gegen seine bisherigen Kritiker verteidigt) oder auch Thomas Elsaesser, der in einem gleichermaßen klar formulierten und vertrackten Beitrag die Vielschichtigkeit der Retrospektion, der „Überlebensschuld“ und des affektiven Gedächtnisses in Steven Spielbergs „Saving Private Ryan“ nachzeichnet. Anders als viele deutschsprachige Filmwissenschaftler bisher arbeitet Elsaesser heraus, inwiefern Spielbergs Film nicht nur ein solcher über den D-Day und die verlustreiche Rettung eines einzigen amerikanischen Soldaten, sondern eben auch einer über die weitgehend unterlassene Rettung der europäischen Juden vor dem Holocaust ist.

Es handelt sich also bei „Mobilisierung der Sinne“ um einen Band, der auch Beiträge enthält, deren Überlegungen keineswegs ausschließlich dem spezifischen Forschungshorizont des „Languages of Emotion“-Projekts der HerausgeberInnen geschuldet sind, sondern den behandelten Filmen auch auf anderen Ebenen in begrüßenswerter Weise gerecht werden. Last but not least sei die Publikation an dieser Stelle auch deshalb empfohlen, weil sie auf bestem Papier gedruckt und mit reichhaltigen farbigen Screenshots illustriert ist – ein Luxus, den sich heute nur noch Projekte leisten können, die mit den entsprechenden großzügigen Drittmitteln versehen sind. So, wie hier geschehen, sind solche Mittel aber auch gut eingesetzt: „Mobilisierung der Sinne“ ist keine pflichtschuldige Alibi-Publikation irgendeines weiteren DFG-Projekts, sondern der Band ist zusammen mit den online verfügbaren Ergebnissen des Clusters ein Forschungsbeitrag, der es verdient, zur Kenntnis genommen zu werden.

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Sabine Wollnik / Brigitte Ziob: Trauma im Film. Psychoanalytische Erkundungen.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2010.
258 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783898068628

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Hans-Christian Mennenga: Präödipale Helden. Neuere Männlichkeitsentwürfe im Hollywoodfilm. Die Figuren von Michael Douglas und Tom Cruise.
Transcript Verlag, Bielefeld 2011.
255 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783837617979

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Jennifer M. Kapczynski / Michael D. Richardson (Hg.): A New History Of German Cinema.
Camden House, New York 2012.
673 Seiten, 94,99 EUR.
ISBN-13: 9781571134905

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Sonja M. Schultz: Der Nationalsozialismus im Film. Von Triumph des Willens bis Inglourious Bastards.
Bertz + Fischer Verlag, Berlin 2012.
560 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783865053145

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Rasmus Greiner: Die neuen Kriege im Film. Jugoslawien – Zentralafrika – Irak – Afghanistan.
Schüren Verlag, Marburg 2012.
488 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783894728106

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Doris Ingrisch / Andrea Ellmeier / Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.): Kultur der Gefühle. Wissen und Geschlecht in Musik, Theater und Film.
Böhlau Verlag, Wien 2012.
166 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783205787839

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Julia Köhne (Hg.): Trauma und Film. Inszenierungen eines Nicht-Repräsentierbaren.
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2012.
384 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783865991737

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Hermann Kappelhoff / David Gaertner / Cilli Pogodda (Hg.): Mobilisierung der Sinne. Der Hollywood-Kriegsfilm zwischen Genrekino und Historie.
Verlag Vorwerk 8, Berlin 2013.
384 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783940384409

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