Unerwartet postmodern und hochaktuell

Katharina Philipowski, „Die Gestalt des Unsichtbaren. Narrative Konzeptionen des Inneren in der höfischen Erzählliteratur“

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Oft genug ist es gerade im Zusammenhang mit belletristischen Büchern so, dass eine interessante Betitelung allein schon zum Lesen des entsprechenden Buchs reizt, was allerdings nicht immer ein erfreuliches Ergebnis zeitigt. Zweifellos lassen sich auch in Zusammenhang mit wissenschaftlichen Publikationen die sogenannten ‚Gesetze des Marktes‘ nicht außer acht lassen, und so ist die von Katharina Philipowski (oder vielleicht auch dem Verlag) getroffene Entscheidung für diesen geheimnisvoll-spektakulären Haupttitel sicherlich schon insofern geschickt, als er mit all seinen Konnotationsmöglichkeiten deutlich attraktiver erscheint, als das für den prosaisch anmutenden Untertitel der Fall ist.

Auf knapp vierhundert Seiten legt die Autorin ihre überarbeitete Habilitationsschrift aus dem Jahre 2006 vor, in der sie, einer Forschungstendenz der jüngeren Vergangenheit verpflichtet, die Frage nach dem ‚Sitz im Leben‘ mittelalterlicher Literatur aufgreift und hinsichtlich einer Darstellung dessen konzentriert, was auch in Zeit postmoderner Medienproduktion immer noch nicht unproblematisch umzusetzen ist: Empfindungen, Handlungsintentionen und -motivationen, das ‚Innere‘ eben. Allerdings, und das ist im Zusammenhang mit mittelalterlicher Kultur und Literatur auch nicht anders zu erwarten, werden im Unterschied zur mittlerweile, gängigen populären Darstellung von inneren Befindlichkeiten aus dieser Zeit komplexere Verwebungen aufgewiesen – und vor allen Dingen auch eine spirituelle Komponente dargelegt, die als eigenständige Komponente mittlerweile wenn überhaupt, so doch eine eher marginale Rolle spielt.

Dass die Autorin dabei ein weites Feld bestellt und dieses Vorhaben ‚anders‘ anzugehen gedenkt, wird bereits in ihren einleitenden Ausführungen klar erkennbar, in denen unter anderem auch eine Klärung und in gewisser Hinsicht Neu-Definition beziehungsweise Verdeutlichung eigentlich ‚bekannter‘ Begriffe, wie in etwa dem der ‚Seele‘ oder des ‚Körpers’ respektive hier in erster Linie des ‚Herzens‘  als quasi ‚realem‘  Sitz des Unsichtbaren im ‚Sinne von Emotionalität‘  geleistet wird. Katharina Philipowski argumentiert einerseits auf der Basis, andererseits unter Abgrenzung standardisierter Deutungsmuster, wobei sie sich auch nicht scheut – was selten genug vorkommt – Hinweise auf populärwissenschaftliche Publikationen zu liefern, um dabei deren wissenschaftliche Fragwürdigkeit zu verdeutlichen.

Vor dem Hintergrund der antiken Seelenlehre und ihrer Adaption im mittelalterlichen Kontext entwirft die Autorin einen systematischen und interessanten Zugang zur Seelenkonzeption im Rahmen mittelalterlicher Literatur. Hier werden zunächst Hartmanns „Erec“  und – gewissermaßen als ein wesentlicher Archetypus – Gottfrieds „Tristan“  als beispielhafte Texte herangezogen, anhand derer seelische Befindlichkeiten und seelische Konflikte auch hinsichtlich der Divergenzen zwischen höfischer Erwartungshaltung und tatsächlichem Handlungsmuster dargestellt werden. Allerdings weist Katharina Philipowski über allgemeine und allgemein gültige Deutungsansätze hinaus. So heißt es: „Obwohl sie […] das Konzept von anima/sêle kennt und sogar differenziertere Kenntnis der theoretischen Auseinandersetzung mit ihr haben konnte, zieht die höfische Literatur es dort, wo der Innenraum einer Figur entworfen werden soll, wo von inneren Vorgängen wie minne, Reflexion, Emotion oder Erinnerung erzählt wird, nicht heran. […] Wird man von weltlicher Literatur auch nicht erwarten, dass sie in der Darstellung ihrer Gegenstände systematisch verfährt, so muss doch auffallen, dass sie die Möglichkeit, auf jene Systematik zurückzugreifen, die zur Beschreibung und Bezeichnung des menschlichen Inneren zur Verfügung steht, kaum nutzt.“

Hierzu ist zweierlei anzumerken: Durchaus neue Ergebnisse werden hier zwar formuliert, was gleichwohl befremdet ist der sprachliche Duktus. Hier wird wie an anderer Stelle der vorliegenden Publikation (wie oft auch wissenschaftlicher Literatur im Allgemeinen) ein Abstraktum zum Handlungssubjekt, was natürlich nicht funktioniert: Höfische Literatur kann weder kennen noch vorziehen oder etwas nutzen beziehungsweise kaum nutzen; das können lediglich Verfasserinnen oder Verfasser von Literatur. Dass derlei zum ‚Standard‘  wissenschaftlichen Schreibens gehört, macht das Ganze nicht besser; es wäre an der Zeit, gerade auch hinsichtlich einer Art ‚Handreichung zur Formulierungsgenauigkeit‘  wissenschaftlichen Nachwuchses auf die Vermeidung solcher semantischer Unfälle hinzuarbeiten.

Aber genug davon: In der Folge widmet die Autorin einen längeren Unterabschnitt dem Feld des ‚herz-Tausches‘, das in erster Linie für Liebesbeziehungen metaphorischen Charakter besitzt, dabei aber auch – so Philipowski – groteske Züge anzunehmen vermag, wenn mit diesem auch ein Austausch der Geschlechter(rollen) verbunden wird. Anhand verschiedener Beispiele, die von bekannteren Dichtungen wie dem „Iwein“ oder dem „Parzival“ bis zu eher randständigen Dicthungen wie Ulrichs von Eschenbach „Alexander“-Roman oder Herborts von Fritslar „Liet von Troye“ weist Katharina Philipowski im Zusammenhang mit der ‚Herz-Seele-Problematik’ nach, dass zumindest in der Dichtung dieser Tausch auch für die Identität der jeweiligen Protagonistinnen und Protagonisten Folgen nach sich zieht, die bis hin zum Verlust der eigenen (Geschlechter-)Identität reichen.

Dieser überraschende Aspekt ist in dieser verdichteten und kompakten Weise so noch nicht dargelegt worden; mittelalterliche Dichtung wird so unvermutet quasi postmodern und somit hochaktuell. Die Konkretisierung des Inneren in mittelalterlicher Literatur hat somit ungeahnte Konsequenzen, die sich gleichwohl einer schematischen Zuordnung entziehen

Die notwendige Schlussfolgerung wäre, dass mittelalterliche Dichtung, gerade auch im Zusammenhang mit der nicht unproblematischen Darstellung innerer Bewegung durch gewissermaßen ‚äußere‘, das heißt von außen her definierte Metaphern immer auch in durchaus modernem Sinne ‚work in progress‘  gewesen ist, der absolute Gewissheit nicht immanent war. Die Komplexität und Unschärfe der entsprechenden Vorgänge wird hier durch das Vermeiden letztgültiger Eindeutigkeit literarisch umgesetzt.

In einem zweiten übergeordneten Großabschnitt nimmt die Autorin insbesondere den altfranzösisischen „Rosenroman“ in den Blick, der ihr vor allen Dingen wegen der in sich wechselnden Perspektive des Protagonisten relevant erscheint, die gleichwohl losgelöst von einer subjektorientierten Verankerung ist. Das anscheinend einander Ausschließende wird demnach durch Paradoxie verknüpft.

Im Hinblick auf die Allegoriefunktion von ‚literarischer‘  Architektur erweitert Philipowski die gemeinhin herangezogene Ebene einer statischen Funktion um ein dynamisches Element, dem entsprechend eine größere literarische Variationsbreite innewohnt; das bereits weiter oben angeführte Element einer zielführenden Unschärfe wird greift also auch in diesem Zusammenhang.

Die ‚Diskrepanz zwischen Innen und Außen‘  schließlich wird anhand verschiedener Texte aus dem Artus-Kreis, aber auch mit Beispielen aus dem „Nibelungenlied“ dargestellt. Die ‚fingierte Innerlichkeit‘  erzählter Emotionen wird im Sinne argumentativer Kontinuität mit einer grundsätzlichen Palette von Meta-Informationen und entsprechenden Belegtexten verdeutlicht. Hier überwiegt allerdings die Beschäftigung mit Sekundärliteratur, und es fällt überdies auf, dass es vornehmlich Material aus der Heldenepik – dem Nibelungenlied und dem Dietrich-Kreis – ist, anhand dessen die Autorin ihre Argumentation aufbaut beziehungsweise die breite Sekundärliteratur bestätigt, erweitert oder variiert. Jedoch wird gerade im Zusammenhang mit dem Phänomen der Scham ein geschickter und erfrischender Vergleich zwischen „sentimentalen“ (so die Autorin) Stellen der Heldenepik und Parallelen aus der Artusdichtung gezogen. Als eine Essenz eines weiteren Zwischenresümees, die allerdings im Thesenkomplex der Autorin eine grundsätzliche Rolle einnimmt, formuliert Katharina Phlipowski: „Erzählen ist Wahrnehmungslenkung“.

Gegenüber den ansprechenden und durch neue und interessante Wendungen geprägten Passagen des umfangreichen Untersuchungsteils, in dem durch die verschiedenen Ergebniszusammenfassungen auch ein Standpunkt der Autorin sichtbar gemacht wird, fällt das eigentliche Fazit mit fünf Seiten etwas zu knapp bemessen aus. Auch scheint es weniger aussagekräftig als die verschiedenen, an das Ende der jeweilige Großabschnitte angehängten Zwischenresümees. Überdies vermisst man eine wirklich stringente Verdichtung der Untersuchungsergebnisse, was allerdings zu einem Gutteil der Komplexität der Materie geschuldet sein dürfte.

So bleibt neben einigen Irritationen ein überwiegend positives Gesamtbild der vorliegenden Publikation, die allerdings nicht ‚einfach‘  zu lesen ist (auch der Rezensent hat sich hier zugegebenermaßen schwer getan). „Die Gestalt des Unsichtbaren“ ist sicherlich nicht oder doch nur bedingt als alleiniger Einstieg in dieses Feld zu empfehlen; zumindest setzt die Lektüre Geduld, den berühmten ‚langen Atem‘  – und nicht zuletzt auch Interesse an der komplexen Materie voraus. Dieses allerdings vermag bei der intensiven Lektüre – ergänzt durch Blicke in die Primärtexte – immer wieder befeuert werden, so dass die „Gestalt des Unsichtbaren“ unter dem Aspekt einer sich allmählich entfaltenden, dafür aber um so länger anhaltenden Wirkung zu empfehlen ist.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Katharina Philipowski: Die Gestalt des Unsichtbaren. Narrative Konzeptionen des Inneren in der höfischen Literatur.
De Gruyter, Berlin 2013.
392 Seiten, 89,95 EUR.
ISBN-13: 9783110299786

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