Lyriker zur linken Hand
Über das Dichten als Nebentätigkeit
Von Dieter Lamping
Hier ist ein Mensch, höchst mangelhaft:
Voll großer und kleiner Leidenschaft,
Ehrgeizig, eitel, liebegierig,
Verletzlich, eifersüchtig, schwierig,
Unzufrieden, maßlos, ohne Halt,
Bald überstolz und elend bald,
Naiv und fünfmal durchgesiebt,
Weltflüchtig und doch weltverliebt,
Sehnsüchtig, schwach, ein Rohr im Wind,
Halb seherisch, halb blöd und blind,
Ein Kind, ein Narr, ein Dichter schier,
Schmerzlich verstrickt in Will’ und Wahn,
Doch mit dem Vorzug, daß er Dir
Von ganzem Herzen zugethan.
Diese beredten, aber etwas ungelenken Verse, „ganz in Wilhelm-Busch-Manier“, wie der Biograf vermerkt, sandte 1903 ein junger Schriftsteller an einen jungen Maler, in den er verliebt war. In die große Ausgabe seiner „Gesammelten Werke“, die 15 Jahre nach seinem Tod erschien, sind sie nicht aufgenommen worden. Die kleine Abteilung „Gedichte“ im neunten Band umfasst ohnehin lediglich sieben Texte. Keinen von ihnen würde man unverzichtbar nennen. Sie sind nicht einmal vergessen – sie sind nie durchgedrungen. Es ist nicht schwer zu begreifen, warum.
Thomas Mann war nicht mehr als ein Lyriker zur linken Hand. Er dichtete nur nebenbei, meist zu bestimmten Anlässen wie etwa Weihnachten oder um jemanden für sich einzunehmen. Das Versemachen war für ihn eine kleine Nebentätigkeit, wenn nicht bloß eine Freizeitbeschäftigung. Die Zahl der Gedichte, die so entstanden, blieb überschaubar, verglichen mit seinem Hauptgeschäft, der Prosa. Das hat er mit anderen Autoren gemein, die auch nicht viel mehr als Gelegenheitsdichter waren.
Friedrich Dürrenmatt hat über die Jahrzehnte immer mal wieder Verse geschrieben, von denen ein paar Eingang in seine Stücke gefunden haben. In seine „Werkausgabe in dreißig Bänden“ sind jedoch kaum mehr Gedichte aufgenommen worden als in Thomas Manns. Die unter dem Titel „Das Mögliche ist ungeheuer“ herausgegebene Auswahl, die posthum, drei Jahre nach Dürrenmatts Tod, erschien, ist umfangreicher, ergibt aber immer noch nicht mehr als ein schmales Buch. Auch Heinrich Böll hat zu Lebzeiten nur wenige Gedichte veröffentlicht. Geschrieben hat er, nach eigenen Angaben, viel mehr. Nicht eines von ihnen ist so bekannt geworden wie seine Kurzgeschichten und Romane. Alfred Andersch veröffentlichte immerhin spät noch einen eigenen Gedichtband, „Empört euch, der Himmel ist blau“, nachdem er mit seinen Versen über „Artikel 3 (3)“ des Grundgesetzes einen Skandal entfacht hatte.
Dass etwa ein Erzähler auch Gedichte schreibt, ist manchmal für das Publikum eine Überraschung. Von Lyrikern nehmen viele an, dass Gedichteschreiben ihr Hauptgeschäft sei, ja sein müsse. Ähnlich ist es mit Romanciers und dem Romaneschreiben: Das eine wie das andere scheint den ganzen Autor zu fordern. Tatsächlich: Von Stefan George oder Paul Celan gibt es keinen Roman, auch nicht andere längere Prosa. Peter Rühmkorf hat lediglich Märchen und autobiografische Texte geschrieben, Hans Magnus Enzensberger zum Glück nur zwei längere Erzählungen (und zwei dokumentarische ‚Romane’). Ähnliches gilt von anderen großen Dichtern wie Stephane Mallarmé, Arthur Rimbaud, Giuseppe Ungaretti, Pablo Neruda, Eugenio Montale, W.H. Auden oder Joseph Brodsky: Sie waren, wenn nicht ausschließlich, so doch überwiegend Lyriker, allenfalls noch Essayisten.
Und doch sind Lyriker zur linken Hand zahlreicher, als man denkt. Fast jeder Schriftsteller hat wohl einmal versucht, Gedichte zu schreiben, und es dann, meist zurecht, wieder sein lassen. Das gehört nicht zuletzt zur Erprobung des eigenen literarischen Talents. Umgekehrt beschränkt sich nicht jeder Lyriker darauf, Verse zu machen – und hat damit oft genug Erfolg. Rilke ist auch ein bedeutender Romanautor geworden, Hofmannsthal ein wichtiger Dramatiker. Rilke hat jedoch weiter Gedichte geschrieben – im Unterschied zu Hofmannsthal, der bald nach 1900 aufgehört hat zu dichten. Dessen lyrisches Werk ist am Ende so schmal, dass es wie ein allerdings ästhetisch bedeutendes Nebengeschäft anmutet.
Manche Autoren schließlich haben nach und nach ein sehr viel größeres episches oder dramatisches Œuvre vorlegt, das mehr beachtet worden ist als ihr gleichzeitig entstandenes lyrisches. Das gilt etwa für Günter Grass. Mit seinem Skandal-Gedicht „Was gesagt werden muß“, das mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem Debütband „Die Vorzüge der Windhühner“ erschien, hat er jedoch als Lyriker noch einmal denkbar große Beachtung gefunden. Wie Andersch ist er ein Beispiel dafür, dass ein Autor auch mit seinen Gelegenheits-Versen ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit erlangen kann.
Gedichte zu schreiben ist kein Privileg von Lyrikern. Es ist vielmehr eine kulturelle Praxis begabter Menschen: eine Kunst, in der sie sich, neben anderen, zu üben versuchen. Manche kultivieren ihr Klavier- oder Geigespiel, andere dichten. Sogar der politisch nüchterne Niccolò Machiavelli hat Verse gemacht. Michelangelo hat ein allerdings zu Lebzeiten unveröffentlichtes – unter anderem von Rainer Maria Rilke übersetztes – lyrisches Werk hinterlassen. Nach ihm gab es eine ganze Reihe von großen Malern und Bildhauern, die dichteten, unter ihnen Raffael und Edgar Degas. Gegen Ende seiner Konzertlaufbahn hat Alfred Brendel begonnen, Bücher mit Versen zu publizieren, sozusagen lyrische Fingerübungen, deren einem er den Titel „Fingerzeig“ gegeben hat. Norbert Elias hat im Alter, nachdem er längst als Soziologe zu Ehren gekommen war, einen Gedichtband „Los der Menschheit“ veröffentlicht. Sogar Wissenschaftler schreiben also Gedichte – ja selbst Literaturwissenschaftler.
Manche Lyriker zur linken Hand geben viel auf ihre Gedichte. Den größten Nachdruck hat Friedrich Nietzsche seinem poetischen Nebengeschäft verliehen, zumal in „Also sprach Zarathustra“ – und er hat dafür auch Ruhm geerntet. Vor allem „Das trunkne Lied“ und „Mein Glück“ waren einmal vielgelesene und -gedeutete Gedichte. Noch Thomas Mann hat in seinen Versen von 1903 eine Anspielung auf „Nur Narr! Nur Dichter!“ untergebracht, die der weniger gebildete Adressat, der Maler Paul Ehrenberg, vermutlich nicht verstanden hat.
Neben der fast theatralisch inszenierten Lyrik Nietzsches nehmen sich die witzigen Epigramme, die Georg Christoph Lichtenberg in seinen Sudelbüchern versteckt hat, ganz bescheiden aus – erst recht die Handvoll Gedichte, die Arthur Schopenhauer unter dem Titel „Einige Verse“ den „Parerga und Paralipomena“ beigab. Er versah sie mit einer Vorbemerkung, die sich fast wie eine Warnung an seinen künftigen Leser Nietzsche ausnimmt: „Ich bin mir des Aktes der Selbstverleugnung bewusst, indem ich dem Publiko Verse vorlege, die auf poetischen Werth keinen Anspruch zu machen haben; schon weil man nicht Dichter und Philosoph zugleich seyn kann.“
Die Veröffentlichung sei im Übrigen von seinen Lesern „als eine Privatsache zwischen uns zu betrachten, die hier zufällig öffentlich vorgeht. Verse drucken zu lassen ist in der Litteratur was in der Gesellschaft das Singen eines Einzelnen ist, nämlich ein Akt persönlicher Hingebung.“
Kein Zweifel: Der alte Schopenhauer hat etwas von Lyrik verstanden.
Literaturhinweise:
Klaus Harpprecht: Thomas Mann. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 1996. Zitat, auch das Gedicht von Thomas Mann, S. 221.
Arthur Schopenhauer: Zürcher Ausgabe in zehn Bänden. Band X: Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften. Zweiter Band. Zweiter Teilband. Zürich 1977. Zitate S. 720.