Ein missmutiger Ermittler aus Israel

Dror Mishani spielt virtuos mit den Lesererwartungen

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Dienstag ist er noch ganz normal nach Hause gekommen, am Mittwochmorgen zur Schule gegangen. Aber da ist der 16-jährige Ofer nie angekommen. Und als seine Mutter am Abend zur Polizei geht, wiegelt Inspektor Avraham ab: „Es gibt bei uns keine Serienmörder, keine Entführungen und so gut wie keine Sexualstraftäter, die auf der Straße über Frauen herfallen. Wenn bei uns ein Verbrechen begangen wird, dann war es in der Regel der Nachbar oder der Onkel oder der Großvater, und es braucht keine komplizierte Ermittlung, um den Täter zu finden und das Geheimnis zu lüften.“

Aber dann wird es doch kompliziert. Denn Ofer ist nicht einfach abgehauen, weil er die Schule geschwänzt hat und sich erstmal nicht mehr heimtraut: Ofer ist und bleibt spurlos verschwunden. Und seine Mutter geht am nächsten Tag wieder zur Polizei. Die Ermittler befragen Nachbarn und Schulkameraden, gehen an die Öffentlichkeit und den wenigen Hinweisen nach, die eintrudeln – nichts.

Dror Mishanis Krimi „Vermisst“ ist ein perfide konstruierter Roman, mit einem melancholischen, sogar etwas depressiven Inspektor in der Hauptrolle, der gerade seinen 38. Geburtstag feiert. Wobei „feiert“ der falsche Ausdruck ist, eigentlich lässt er ihn mehr oder weniger über sich ergehen, empfängt eher missmutig den Blumenstrauß, den seine Eltern ihm schicken und lässt sich von ihnen zum Abendessen einladen. Ansonsten sitzt der Inspektor in seinem kleinen, kahlen Büro ohne Fenster.

Sein Privatleben ist eigentlich inexistent, eine Wartestation bis zum nächsten Fall, zum Dienstantritt am nächsten Tag. Und er hat immer schnell ein schlechtes Gewissen, sieht sich als Versager, macht sich ständig Vorwürfe. Seine Chefin Ilana, die Avraham gerne mag, fertigt ihn auch eher kurz ab, hält ihn auf Distanz. Eigentlich ist er eine trostlose, lustlose Person, die nur auflebt, wenn es etwas zu tun gibt. Mitten im Buch fällt auch das Lob seiner Chefin, dass er der beste Ermittler ist, den sie kennt, was man kaum glauben mag. Und auch im Fall von Ofer Sharabi gelingt ihm zuerst einmal nichts.

Und da ist dann noch der Nachbar Seev Avner, aus dessen Perspektive ein Teil des Buchs erzählt wird. Er hat Ofer Nachhilfestunden gegeben und drängt sich dem Inspektor regelrecht auf. Man weiß lange nicht, was er eigentlich will. Ständig reflektiert er darüber, dass mit Avi Avraham endlich mal einer da ist, der ihm richtig zuhört. Er ist enttäuscht, dass der Inspektor zuerst mit seiner Frau spricht, fragt „wie nebenbei“ nach, was er sie gefragt hat.

Und dann verplappert er sich, denn nach einem anonymen Anruf, der auf eine Leiche in den Dünen hinweist (es ist aber keine da), erzählt Seev bei der großangelegten Suchaktion mit Polizisten und Nachbarn von ebendiesem Telefonat, von dem er gar nichts wissen kann. Doch Avi Avraham merkt es gar nicht, und Seev ist enttäuscht.

Mit großer Hinterlist streut Dror Mishani solche Spuren und Hinweise in den Roman, sät aber gleichzeitig für den genauen Leser Zweifel, ob Seev wirklich der Mörder des Jungen ist, mit dem er sich während der Nachhilfestunden ein bisschen angefreundet hat. Auch über den Abbruch der Stunden gibt es gegensätzliche Aussagen: Hat der Junge sie abgebrochen, weil Seev sich ihm homosexuell genähert hat? Oder haben die Eltern sie abgebrochen, weil Ofer in der Schule gut genug war? Viele Kleinigkeiten sprechen für Seev als Mörder, selbst aus seiner Perspektive ist nichts so ganz eindeutig, was er erzählt. Lange dauert es, bis Avraham ihm auf die Schliche kommt. Dazwischen liegen viele Verhöre, eine Trennung des Ehepaars Avner, ein Schreibseminar und viele seltsame Unterhaltungen. Aber die richtige Auflösung ist dann noch viel brutaler, als der Leser erwartet.„Vermisst“ ist ein widerborstiger und deswegen sehr lesenswerter Krimi, der virtuos mit den Lesererwartungen spielt und auch die Rollenverteilungen von Täter, Opfer und Ermittler präzise unterläuft. Er treibt ein böses Spiel, in dem der „Loser“ Avraham, eher ein Mitleidender als ein Ermittler, sehr sympathisch wird. Es sind eben nicht immer nur die Durchsetzungsfähigen erfolgreich.

Titelbild

Dror Mishani: Vermisst. Avi Avraham ermittelt.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Markus Lemke.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2013.
350 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783552056459

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