Against Heritage

Über Grantas „Best of Young British Novelists 4“

Von Simone SchröderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Schröder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

The West’s asleep.
Let England shake, weighted down with silent dead.
I fear our blood won‘t rise again.
Won‘t rise again.

(PJ Harvey)

Ein Ei steckt in einem goldenen Pokal. Der Pokal steht auf einem schwarzen Sockel. Darunter steht in goldenen Lettern vor rosafarbenem Hintergrund: „Best of Young British Novelists 4“. Das Foto von Bruno Drummond prangt auf dem Cover der Frühjahrsausgabe 2013 der Londoner Literaturzeitschrift „Granta“. Dreht man die „Granta“ um, sind auf der Rückseite in einer langen Reihe zwanzig Namen aufgelistet, das Ei ist geköpft und das flüssige Dotter rinnt an der Schale und dem blanken Metall hinunter. Die Illustration vermittelt durchaus ironisch, diese zwanzig Autorinnen und Autoren unter vierzig seien ‚das Gelbe vom Ei‘ der britischen Gegenwartsliteratur.

Der Ruf von „Grantas“ seit 1983 im Zehnjahrestakt erscheinenden Best-of-Listen ist in England legendär und unter deutschen Lektoren lange kein Geheimtipp mehr, denn es gelang der Redaktion damals, vor mittlerweile 30 Jahren, Autoren aufzuspüren, die bis heute die britische Literaturszene dominieren – darunter Salman Rushdie, Martin Amis, Julian Barnes, Ian McEwan und Kazuo Ishiguro, um nur die berühmtesten zu nennen. Mit entsprechendem Interesse wurde auch diese Publikation in den britischen Medien aufgenommen.[1] Bereits weithin bekannte Namen sind auf dieser Liste die Ausnahme. Bis auf Zadie Smith, die in den sogenannten Noughties weltweit mit ihrem Debütroman „White Teeth“ (dt. „Zähne zeigen“) für Furore sorgte, in England momentan für ihren neuen Roman „NW“ gefeiert wird und schon 2003 unter den Best Young Novelists war, sind die meisten der Autorinnen und Autoren auch in Deutschland weitgehend unbekannt. Würde die Zahl an Übersetzungen in verschiedene Sprachen als Indikator der Bedeutsamkeit eines Schriftstellers gebraucht, dann stünden die Aktien der britisch-nigerianisch-ghanaischen Autorin Taiye Selasi momentan wohl ähnlich gut wie die Zadie Smiths. Sicher schadet es nicht, dass sie ähnlich fotogen ist, vor allem aber wird ihr attestiert, einen neuen literarischen Ton getroffen zu haben. Die Figuren in ihrem 2013 erschienen Debütroman „Ghana Must Go“ (dt. „Diese Dinge geschehen nicht einfach so“) sind „Afropolitans“: hochgebildete Schwarze, die in amerikanischen Großstädten leben. Als der Vater stirbt, versammelt sich die Familie in Accra. Ähnlich wie Teju Cole[2] in seinem bereits auf Deutsch vorliegenden Roman „Open City“, droht auch Selasi immer dann ins Diskurshafte abzugleiten, wenn sie versucht, Afrikaklischees argumentativ zu widerlegen. Mit dieser Literatur ist ohne Frage auch ein normativer Anspruch verbunden. Es ist ‚postcolonial writing‘, das die Epoche des Kolonialismus historisch und in ihren sozio-politischen Auswirkungen ins Auge fasst und zugleich nach neuen Darstellungsweisen sucht. In „Ghana Must Go“ geht es darum, andere Perspektiven auf bestehende Identitätskonzepte und gesellschaftliche Hierarchien zu vermitteln. Damit ist das thematische Feld Selasis durchaus repräsentativ für die britische Gegenwartsliteratur, wie sie sich im Granta-Querschnitt darstellt: Viele der Texte setzen sich mit Lebenswelten auseinander, denen sonst nicht besonders viel Aufmerksamkeit entgegengebracht wird.

Evie Wyld beispielsweise beschreibt den Alltag einer Frau auf einer Schaffarm in Australien; Tahmima Anam erzählt von einer Gruppe bengalischer Bauarbeiter in Dubai und Sunjeev Sahotas „Arrivals“, ein Auszug aus seinem bislang unvollendeten zweiten Roman „The Year of the Runaways“, handelt von einer Gruppe von Indern, die sich in Sheffield ein kleines Reihenhaus teilt. In jedem der Zimmer liegen zwei oder mehr Matratzen. Die Männer arbeiten auf dem Bau, die meisten von ihnen illegal. Sie beten, sehen fern, kochen, und brechen morgens gemeinsam zur Arbeit auf: „A rushed prayer at the joss stick and then out into the cold morning dark in two and threes, at ten-minute intervals. […] Avtar clucked his tongue. ‘One day, my friend. One day we’ll be the bosses.‘“ Diese Leben sind nicht nur in dem Sinne klein, dass sie aufs Weltgeschehen keinen unmittelbaren Einfluss haben, sie sind auch räumlich begrenzt. Auf der Schaffarm ist es der beschränkte Wohnraum der Arbeitscontainer, bei Sahota das Haus in Sheffield, das auch symbolisch für den Platz der Figuren am Rande der Gesellschaft steht.

Salman Rushdie, der mit der Formulierung „the Empire writes back“ den Titel des bekanntesten postkolonialen Readers prägte, schreibt über Sahota, sein Talent sei deutlich sichtbar, „on every page, strong, fresh and true.“ Wenn dieses Zitat auch nicht besonders viel über literarisches Können aussagt, ist der Umstand, dass Rushdie gelobt hat, schon für sich bemerkenswert. Er illustriert, wie literarische Autorität über die Generationen weitergegeben wird, in diesem Falle innerhalb des Paradigmas postkolonialer Literatur. Als 1983 die erste „Granta“ der zwanzig besten britischen Autoren unter vierzig erschien, war Rushdie einer von ihnen. Damals hatte er gerade seinen zweiten Roman veröffentlicht, „Midnight’s Children“, der wegen seiner einzigartig hybriden Form gefeiert wurde. Heute scheint diese Form – oder sollte man sagen: Formel? – die Norm, auch wenn „Granta“-Chefredakteur John Freeman in seinem Vorwort betont, kulturelle Vielfalt sei kein Auswahlkriterium, sondern Zufall gewesen. Dabei wirkt die Zusammensetzung der Liste tatsächlich, als hätten die Herausgeber der Anthologie mit ihrer Auswahl zumindest teilweise auch eine literarische Karte des britischen Commonwealth zeichnen wollen. Die Autorinnen und Autoren stammen unter anderem aus Somalia, China, Pakistan, Bangladesch, Nigeria und Indien und sie schreiben vor diesem Horizont.

Die Herkunft scheint indessen nicht zwangsläufig die Schauplätze beeinflusst zu haben: Darunter ist eine amerikanische Ivy-League-College-Erzählung (Benjamin Markovits), ein Drogentrip in einem amerikanischen Motel (Adam Thirlwell) und einer in Thailand (Ned Beauman). Zadie Smith erzählt von einer Freundschaft zwischen zwei Kindern im Greenwich Village der 1960er Jahre und zwei der am deutlichsten politisch ausgerichteten Texte handeln von einer britischen Soldatin in einem Militärlager in Mogadishu (Nadifa Mohamed) und von chinesischen Flüchtlingen in einem Auffanglager in Lausanne (Xiaolu Guo). Ob die Internationalisierung der Schauplätze mit ökonomischem Kalkül zu tun hat, etwa mit Blick auf eine potentielle amerikanische Leserschaft? Vielleicht spielte Tim Adams darauf an, als er in einer Rezension für den „Guardian“ festhielt: „[T]he writers are defiantly, almost perversely, global in their reference points”.[3] Viele der Geschichten sind nicht nur außerhalb Englands angesiedelt, sie haben ihre intellektuellen Bezugspunkte auch in anderen Kulturen, insbesondere in der amerikanischen Popkultur. Demgegenüber ist das England des Elisabethanischen Theaters, der Golfclubs, Gärtner und Landadligen, wie es in der auch in Deutschland sehr erfolgreichen Krimiserie „Inspector Barnaby“ (engl. „Midsomer Murders“) in elegischem Modus vorgeführt wird, in dieser Literatur unterrepräsentiert. Reminiszenzen an eine genuin britische Literatur im Sinne einer thematischen Auseinandersetzung mit der britischen Heritage- und Landhauskultur, wie sie zum Beispiel in Kazuo Ishiguros 1989 mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman „The Remains of the Day“ (dt. „Was vom Tage übrig blieb“) zu finden ist, fehlen oder sie werden kritisiert.

„The Reservation“ etwa, ein Auszug aus einem neuen Roman von Sarah Hall, beschreibt eine Entfremdung von England und ist zugleich das Resultat einer Auseinandersetzung mit England. Er erzählt von Rachel, die in einem kanadischen Naturschutzgebiet arbeitet, von Rachels Mutter, die in der englischen Grafschaft Cumbria im Sterben liegt, von Rachels Rückkehr und von einem obskuren englischen Lord, der bei einem Öko-Projekt mit Wölfen auf ihre Expertise angewiesen ist. Als Rachel auf seinem Landsitz eintrifft, öffnet ihr die Haushälterin – „She is auburn-haired, unadorned by jewellery or cosmetics, extremely English-looking, an England seventy years gone. She would suit a rabble of hounds at her feet, a shotgun crooked over her elbow”. In ihrem Erscheinungsbild ist diese Frau eine Inkarnation des alten Englands, mit dem Rachel sich nicht mehr identifizieren kann und das wie in einem Reservat nur noch besteht, weil es durch Institutionen wie den National Trust und andere Heritage-Institutionen geschützt wird.

Die Kritik an der im Zeitalter von HBO-Fernsehserien,[4] beschleunigter Datenübermittlung, sozialer Netzwerke, sinkender Reisekosten und 2.0-Kapitalismus aufgrund ihrer nationalen Begrenztheit so altmodisch wirkenden Heritage-Kultur äußert sich in den Texten dieser Anthologie auf verschiedene Weise: Zum einen durch kritische Reflexion, zum anderen durch historische Erzählweisen, die das ‚alte England‘ evozieren und zugleich der Vergangenheit zuordnen (Adam Foulds). Eine dritte, im Vergleich vielleicht sogar radikalere Anti-Haltung zeigt sich, wenn Heritage schlicht keine Rolle mehr spielt, weil es nicht vorkommt. Insbesondere die Gruppe der britisch-globalen Autoren für die sich unter anderem Ned Beauman, Taiye Selasi und Zadie Smith exemplarisch nennen lassen, positioniert sich auf diese Weise.

Doch auch in den Texten, in denen England als Schauplatz vorkommt, fällt auf, dass es meist aus unkonventionellen, verfremdenden Perspektiven beschrieben wird – auch diese Ästhetik kann als Ausdruck eines Schreibens ‚Against Heritage‘ gelesen werden. Zum Beispiel in der Geschichte von Qayyum, einem Paschtunen, der im Ersten Weltkrieg für Großbritannien an der Schlacht von Ypern teilnimmt und sich nach Kriegsende in Brighton rassistischen Anfeindungen ausgesetzt sieht (Kamila Shamsie) oder in der Erzählung eines Ungarn, der mit seiner Freundin und seinem Fitnesstrainer nach London kommt, wo seine Freundin als Escort-Girl in einem Hotel auf der Park Lane arbeitet (David Szalay). Die Stadt sehen sie nur im Morgengrauen, wenn sie auf dem Rückweg vom Hotel einen Abstecher zu McDonald’s machen. In gewisser Weise ist diese neue britische Literatur jenseits von Motiven, Schauplätzen und Themen selbst wie ein Take-Away-Menü, zeitsparend und regional unspezifisch. Die meisten Texte sind in einer leicht zu lesenden, manchmal auch etwas seicht dahinplätschernden Sprache geschrieben. In ihrem Ton sind sie oft kaum zu unterscheiden von der wöchentlichen Kolumne im Londoner Stadtmagazin „Time Out“, das seit vergangenem Jahr kostenlos verteilt wird. Sie passen zu Smartphones und Frappuccinos, denn sie eignen sich für den Konsum unterwegs. Sozusagen writing to go.

Während die Mieten achtmal so schnell steigen wie die Gehälter, während ein Bankenskandal den nächsten nicht nur jagt, sondern überholt, und das Olympiagelände zu einem neuen Stadtviertel aus der Retorte umgestaltet wird, sind die Menschen nicht nur physisch in Bewegung, auch die Gesellschaft bewegt sich rapide in zwei Richtungen. In London, wie immer, schneller als im Rest des Landes. Als im August 2011 der 29jährige Mark Duggon in Tottenham von Polizisten erschossen wurde, gingen in London und bald auch in anderen englischen Städten mehrere hundert Menschen auf die Straße, um gegen Polizeiwillkür und Rassismus zu protestieren. Diese Proteste wurden schnell zum Ventil für eine größere Wut, die etwas damit zu tun zu haben schien, was es heißt, in England jung zu sein und nicht Teil der reichen Minderheit, die ihre Kinder in Privatschulen anmeldet, ein SUV („Chelsea Tractor“) fährt und bei „Waitrose“ einkauft, also den von „Time Out“ und anderen Magazinen als so begehrenswert exponierten Lebensstil führen. Jugendliche in Kapuzenpullovern schlugen die Schaufensterscheiben von Kleidungsgeschäften ein, trugen Hi-Fi-Systeme aus einer Bang & Olufsen-Filiale und zündeten ihr Viertel an. Das waren keine politischen Aktionen, sondern Plünderungen und Brandschatzungen, die sich vor allem gegen ein englisches Prinzip richteten: Sie waren gegen Heritage.

Die erste „Granta“-Generation ist inzwischen Teil des Kanons geworden, der eine Aufnahme in die Heritage-Kultur bevorstehen kann. Nicht wenige ihrer Bücher werden in der Reihe Vintage Classics neu aufgelegt, aber ihre Namen werden immer noch genannt, wenn über die britische Gegenwartsliteratur gesprochen wird. Vor diesem Hintergrund klingt der Titel von Sunjeev Sahotas 2011 erschienenem Debütroman, „Ours are the Streets“, wie das Postulat einer neuen literarischen Generation, die sich vom britischen Literaturestablishment abgewendet hat. „One day, we’ll be the bosses“ – inwiefern sich das auch über die britische Literatur sagen lässt, wird sich in den nächsten zehn Jahren zeigen.

Grantas Best of Young British Novelists 2013 sind: Naomi Alderman, Tahmima Anam, Ned Beauman, Jenni Fagan, Adam Foulds, Xiaolu Guo, Sarah Hall, Steven Hall, Joanna Kavenna, Benjamin Markovits, Nadifa Mohamed, Helen Oyeyemi, Ross Raisin, Sunjeev Sahota, Taiye Selasi, Kamila Shamsie, Zadie Smith, David Szalay, Adam Thirlwell und Evie Wyld.

Literaturhinweis

Zadie Smith: White Teeth (dt. Zähne zeigen, Droehmer Knaur 2000).
Hamish Hamilton, London 2000.
480 Seiten, £8.99.

[1] Das BBC Fernsehen präsentierte sie in den News at Ten (Link: http://vimeo.com/646353-93), dem britischen Äquivalent zu den Tagesthemen, und es erschienen Rezensionen in allen großen Zeitungen.

[2] Auswahlkriterien für Granta waren: Geburtsjahr 1973 oder später und der Besitz eines britischen Passes. Teju Cole fehlt letzterer, auch wenn sein Schreiben den von Granta versammelten Autoren sonst in mancherlei Hinsicht ähnelt. Man darf sicher sein, dass er in der nächsten Granta der Best of Young American Novelists zu finden sein wird.

[3] http://www.guardian.co-.uk/books/2013/apr/21/granta-123-british-novelists-review

[4] Zadie Smith hat kürzlich in einem Interview mit dem Evening Standard (Link: http://www.standard.co.uk/lifestyle/esmagazine/the-world-according-to-zadie-smith-8677420.html) gefordert, dass die Gegenwartsliteratur sich stärker an den Plot-Mustern der großen amerikanischen Fernsehserien orientieren solle.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Sunjeev Sahota: Ours Are the Streets.
Picador, London 2011.
256 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-13: 9780330515818

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Titelbild

Zadie Smith: NW.
Hamish Hamilton, London 2012.
304 Seiten, 13,95 EUR.
ISBN-13: 9780241145555

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Titelbild

Teju Cole: Open City.
Faber and Faber, London 2012.
259 Seiten, 8,70 EUR.
ISBN-13: 9780571279432

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Titelbild

Taiye Selasi: Ghana Must Go.
Viking, New York 2013.
336 Seiten, 13,95 EUR.
ISBN-13: 9780670919871

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Titelbild

Arthur Freeman: Granta 123. Best of Young British Novelists 4. Herausgegeben von John Freeman.
Granta Books, London 2013.
395 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9781905881673

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