Kinematografie als Philosophie
Martin Seel erläutert in „Die Künste des Kinos“ die vielfältigen (An-)Verwandlungsmethoden des Films aus philosophischer Sicht
Von Nathalie Mispagel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Buchtitel wirkt schlicht. Das Umschlagfoto ebenfalls. Doch dies täuscht. Abgebildet ist nämlich nicht irgendeine amerikanische Ödnis, sondern ein film still der berühmten Maisfeldszene aus Hitchcocks „North by Northwest“. Das lässt Cinephile wie Bibliophile jubeln, wenn ein Cover mal nicht mit visueller Aufdringlichkeit zum Kauf, sondern mit subtiler Doppeldeutigkeit zum Lesen auffordert. Hier ist bereits eine Kunst am Werk, nämlich die seduktive.
Tatsächlich mutet Kino wie eine grandiose Verführungsmaschine an, weshalb Martin Seel zu Recht betont: „In der Theorie des Films führt kein Weg am Kino vorbei.“ Und keiner an den anderen Künsten. Film wird im Digitalzeitalter (das, wie einmal angemerkt wird, zu keiner ästhetischen Revolution geführt hat!) zwar gerne am state of the art gemessen, trägt aber als Kulturprodukt das Erbe unterschiedlichster Künste mit sich. Von dieser Prämisse ausgehend avanciert „Die Künste des Kinos“ zu einer Art ästhetischen wie wahrnehmungstheoretischen Spurensuche. Martin Seel, Professor für Philosophie, durchforstet das Kino nicht nach konkreten Formen bzw. Auswirkungen von Architektur oder Malerei, sondern versucht vielmehr, deren Wesen im Film wiederzuentdecken. Es geht um (An-)Verwandlungsstrategien des Kinos, weshalb etwa das Kapitel über Musik den Soundtrack nur marginal erörtert, dafür die ’grundlegenden formalen Dimensionen der audiovisuellen Verfassung’ eines filmischen Werkes: Kino als Gesamtkomposition.
Für eine Definition der im Titel erwähnten ’Künste’ wird weit über den klassischen Terminus der Schönen Künste hinausgegriffen. Eigentlich geht es um Kunstfertigkeiten im weitesten Sinne. Schon im ersten Satz heißt es selbstbewusst: „Die Künste des Kinos entspringen einer Affäre mit vielen anderen Künsten – nicht alllein mit den Hochseilakten der übrigen Kunstwelt, sondern ebenso mit den Dramen des menschlichen Fühlens, Denkens und Handelns.“ Das lässt dem Autor die Möglichkeit, nicht nur Philosophie, sondern auch Exploration, Imagination, gar Emotion gesondert zu thematisieren und darüber etwa nähere Erkenntnisse über filmische Immersion zu gewinnen: „Es ist die räumliche, zeitliche, bildliche, theatralische, narrative, explorative und imaginative Form des filmischen Prozesses, die eine besondere Form der emotionalen Beteiligung an seiner Darbietung ermöglicht.“ Ein entscheidender Aspekt, denn: „Diese Gefühle sind keine ,Quasi-Gefühle’, sie sind so echt, wie Gefühle nur sein können.“
Derartige Betrachtungen erneuern nicht den Blick auf den Film, erweitern ihn stattdessen. Das Was und Warum beim Sehen wird um das Wie ergänzt. Insofern hätte das Buch selbst ohne Filmbeispiele funktioniert, bekommt aber gerade durch deren Einbindung eine nachvollziehbare Bodenhaftung in der Praxis. Martin Seel verzichtet auf Analyse oder Wertung der ausgesuchten Werke, betont sogar, Kategorien wie populäres oder elitäres Kino ignorieren zu wollen und auf cineastische Heterogenität zu setzen. In seinen Texten gelingt ihm das famos, allerdings hat er sich bei der Auswahl seiner Filmbeispiele dann doch an (modernen) Klassikern wie „The Searchers“, „L’Eclisse“, „In the Mood for Love“ oder „Gladiator“ orientiert. Ein bißchen ’Kunstfilm’ muss eben sein!
Weder will Martin Seel eine Historie des Films verfassen noch neue Theorien aufstellen. Er fokussiert den Spielfilm, betont allerdings, dass Kino „nur eine der Möglichkeiten der kunstbezogenen Welt- und Selbstbegegnung“ darstellt. Damit allein ist schon der Bogen zu den anderen Künsten geschlagen. In hochkomplexen, konzentrierten Texten wird diese Nähe erläutert, abgefasst in einer reichen Sprache, die sich nie akademisch aufbläst oder spielerisch überspannt. Vielmehr können eine klare Gliederung sowie die einzelnen Kapitel mit ihren zahlreichen Zwischenüberschriften durch Übersichtlichkeit überzeugen. Als kleine ’Gedankeneinheiten’ präsentiert, formieren sie sich zu einem spannenden Stück philosophy meets cinema. Solch ein Buch beeindruckt und beglückt in einer neokapitalistischen Gegenwart, in der (Film-)Kunst und ihre Analyse immer mehr den Autonomiestatus verlieren, um affektivem Mainstream Platz zu machen.
Hinter „Die Künste des Kinos“ steht neben wissenschaftlicher Kenntnis auch cinephile (Zu-)Neigung – eine für ein wirklich gutes Filmbuch unabdingbare Voraussetzung. Auch wenn sich über jedes Thema nüchtern abstrakt schreiben lässt, kann mangelnde Anteilnahme des Autors explizit bei filmbezogenen Texten eher hinderlich sein. Das englische Wort movies sagt alles: motion löst emotion aus. Das sollten Studien über das Kino immer zwischen den Zeilen mitschwingen lassen. Bei Martin Seel wird dies sogar zu einem substanziellen Moment seiner Abhandlung: „Anders als die anderen Künste, aber doch in einer sei es latenten, sei es offenkundigen Verwandtschaft mit ihnen, organisiert der Kinofilm seine eigenen Verhältnisse von Raum und Zeit, Bild und Klang, Protention und Retention, Erscheinen und Verschwinden, Anwesenheit und Abwesenheit, Weltbezug und Weltdistanz, Erzählung und Reflexion, Motion und Emotion. Er stellt eine Art Spannung zwischenphänomenaler Bewegung und leiblich-seelischer Bewegtheit her (…).“ Martin Seels Publikation will und kann zwar kein Kino im Kopf entstehen lassen, dafür schärft sie das Denken beim Sehen, Hören, Fühlen, Erleben im Kino. In Abwandlung des berühmten Kafka-Zitates könnte der Leser also sagen: Im Kino gewesen. Bei mir angekommen.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
|
||