Die Großstadt der offenen Fragen

Paul Ingendaay entführt mit „Die Nacht von Madrid“ in die Abgründe unserer Gesellschaft

Von Miriam StriederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Strieder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Nacht von Madrid liegt vor uns in zehn Kurzgeschichten und wartet nur darauf, erobert zu werden – aber Vorsicht: In dieser Dunkelheit lauern käferlastige Trivialitäten, kriminelle Tunnel und escapadas, die uns bis nach Havanna und Norwegen bringen können. Und wenn es hell wird und die frühen Morgenstunden der Straßenkehrer und Lieferanten jede Großstadt für eine kurze Zeit friedlich erscheinen lassen, bleiben wir auf dem Pflaster zurück, allein, mit dickem Kopf nach einer gefühlt durchzechten, aber nur durchlesenen Nacht. In diesem Kopf brummen die Fragen und offenen Enden der Nacht von Madrid.

Auf unseren Streifzügen sind wir einem grüblerischen Taxifahrer begegnet, der vielleicht in einem vorigen Leben Soziologe oder Anthropologe war – oder einfach nur Egozentriker mit guter Beobachtungsgabe ist – und der in seiner Selbstüberschätzung versuchte Morde entspinnt. Er nimmt uns mit auf eine kleine Fahrt in die menschlichen Abgründe, die nicht nur aus Eifersuchtsdramen bestehen, sondern auch aus dem Kleinkrieg des täglichen Überlebens mit Würde.

In einer dunklen Straße, gerade um die Ecke der Plaza Mayor, sind wir der hässlichen Geschichte um den faustgroßen Käfer über den Weg gelaufen, die nicht nur fast schon topisch schlechte Erinnerungen an Kafka weckt, sondern auch auf traurige Weise Toscas Leben und Lieben mit der lauwarmen Leidenschaft der tapferen Käfermörderin kontrastiert. Wir sind mitten in der postmodernen Großstadt angekommen, in der ein simples Insekt das Innere zum Ausbruch bringen kann und am Ende Einsamkeit zurücklässt.

Auf den Stufen des Prado im Halbdunkeln haben wir die Zeitung von gestern aufgeschlagen und lesen von der Psychologie eines Verbrechens, von Vereinsamung und Suche nach Nähe, vom Absterben aller Instinkte in verkopften Menschen und vom Scheitern zwischenmenschlicher Beziehungen. Und spätestens hier verfangen sich die offenen Fragen in unserem Kopf und werden uns wohl für den Rest dieser Nacht nicht mehr loslassen.

Im erleuchteten Fenster gegenüber geht die ältere Frau auf und ab und vor unseren Augen entfalten sich nicht nur die Missverständnisse und Misskommunikationen zweier Generationen, sondern auch das Bild der Einsamkeit und Hilflosigkeit, der tägliche Kampf mit Kommunikationsmitteln und kleine Momente der Menschlichkeit, eingeengt und hineingezwängt in ein straffes Programm aus synchronisierten Abläufen. Menschlichkeit reicht am Ende auch nur so lange wie die Redezeit auf dem Anrufbeantworter.

In einem Restaurant hören wir uns ein Gespräch über einen Trip in die große, weite Welt mit an, halb entsetzt von den Abgründen, die sich auftun, halb fasziniert von den Bildern vor unseren Augen. Natürlich klingeln uns die Schlagworte des Postkolonialismus und Feminismus in den Ohren, aber am Ende bleiben wir mit den Fragen allein, was eine gelungene, zwischenmenschliche Beziehung ist, wie man die Zukunft in der Gegenwart gestalten kann und schlussendlich, was gute Erzählungen und gute Erzähler sind.

Von dort tauchen wir in die nächste Erzählung ein, in der nur noch die reibungslosen Abläufe zählen, in der jeder in seiner Rolle funktionieren muss und in der kein Platz mehr bleibt für Notfälle seelischer und körperlicher Art. Das Oszillieren zwischen emotionaler Nähe und körperlicher Distanz wird am Ende entschieden durch die Angst vor Emotionen, Verantwortung und Wissen. Leider.

Die nächste escapada führt uns bis nach Norwegen, zu einem Pärchen, das einen (positiven) Anreiz von außen als Neubeginn gesehen hat und jetzt ganz neu anfangen muss, mit unausgesprochenen Missverständnissen und mit Misstrauen, obwohl das vorige Leben doch durchschnittlich gut war, friedlich mit Strandspaziergängen und der Suche als Ziel.

Die nächste Erzählung gewinnt ihre Aktualität unter anderem aus der andauernden Wirtschaftskrise, in der die sozialen Schichten umso deutlicher hervortreten und die die Menschen voneinander entfremden, sodass aus guten Absichten letztendlich Gönnerhaftigkeit, Arroganz und Standesdünkel werden, die das Selbstbild hoffentlich ins Wanken bringen mit der Frage, wie man helfen kann und soll und ab wann Auswahlkriterien gegen die Menschenwürde verstoßen.

In einer kleinen Bar abseits der Touristenpfade hören wir eine Geschichte über Schein- und Parallelwelten, über die trügerische Hoffnung auf Glück, über Illusionen und Träume und den verzweifelten Versuch, sie umzusetzen. Wir werden gefragt, was Normalität eigentlich ist, wo die Grenzen der braven Bürgerlichkeit sind, wie viel Fassaden aushalten und wie wir mit der Gefahr leben, ihnen zu glauben.

Und schon auf dem Weg zum Flughafen steigt die Brutalität der Welt zu uns ins Taxi, bringt Grausamkeit und Hilflosigkeit mit und die drei fahren ein Stück mit uns mit. Dabei berichten sie von dem bloßen Überlebensinstinkt, von der so oft beschworenen Fragmentierung der Welt, der Ahnungslosigkeit gegenüber unseren Mitmenschen und dem Auto als kleiner, eigener Welt.

Ingendaay erzählt in zehn, lose verknüpften Geschichten von Madrid. Wer eine Liebeserklärung an Stadt, Land und Leute erwartet hat, liegt falsch. Wer ein Buch à la „Bangkok Noir“ erwartet hat, liegt auch falsch. Seine Geschichten sind raumlos, spanienunspezifisch, Madrid-neutral. Vielmehr legen sie Zeugnis ab von der Oberflächlichkeit der Großstadt, von den Sehnsüchten der Menschen nach Liebe, Geld, Gemeinsamkeit. Am Ende bleiben Fragen, Ernüchterung, und die Erkenntnis, gut erdachte und gemachte Erzählungen gelesen zu haben, in denen die Menschlichkeit zwar nicht dominiert, aber ab und zu zumindest durchscheint und aufblitzt – vielleicht nur um enttarnt zu werden oder unterzugehen. Aber wenigstens hat sie noch eine Nebenrolle bekommen zwischen Fassaden, Fragen und Fragmenten.

Ingendaays Erzählungen zwingen zu Abstraktion und Interpretation, zur Loslösung von einem zu konkreten Ort, aber einer dafür umso deutlicheren Verortung in unserer Zeit. Wenn man sich also damit abfindet, dass „Lokalkolorit“ und Madrids und Spaniens Flair fehlen, und sich stattdessen auf diese überall-und-nirgendwo Erzählungen einlässt, bekommen sie ihren ganz eigenen Reiz aus tiefen Abgründen, passend unpassender Sprache und ihren Charakteren, die nie liebenswert sein können, aber immer so erschreckend menschlich.

Mit „Der Nacht von Madrid“ kann man sich eine Nacht lang in einer Großstadt verlaufen und am Morgen unbeschadet auf der Plaza Mayor stehen und noch bei dem ersten cafe con leche über offene Fragen und Enden nachdenken. Aber genauso kann man das auch in Berlin, London, Buenos Aires oder Singapur tun.

Titelbild

Paul Ingendaay: Die Nacht von Madrid. Erzählungen.
Piper Verlag, München 2013.
176 Seiten, 17,99 EUR.
ISBN-13: 9783492056175

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