Ein umfassender Überblick

Zu Jörg Schwarz’ Hörbuch über das „Leben in der mittelalterlichen Stadt“

Von Jürgen WolfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Wolf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn uns modernen Menschen der diesem Hörbuch namengebende Spruch „Stadtluft macht frei“ vertraut zu sein scheint, so suggeriert dies ein allseits vorhandenes grundlegendes Basiswissen. Tatsächlich ist der Spruch aber eine Erfindung der Moderne und erst 1759 belegt. Auch das Wissen um die mittelalterliche Stadt dürfte allenfalls rudimentär, wenn überhaupt vorhanden sein, denn wie der Spruch führen die uns nicht minder vertrauten Mittelaltermärkte und -spektakel eher weg von der historischen Realität.

Jörg Schwarz nimmt diese Erkenntnis zum Anlass, die Spezifika der mittelalterlichen Stadt genauer in den Blick zu nehmen. Anhand ausgewählter Beispiele gelingt es ihm, die Zuhörer gleichsam in viele höchst verschiedene mittelalterliche Städte mit überaus unterschiedlichen Strukturen und Rechtssystemen hineinzuführen. Dabei sind es immer wieder auch die ganz ‚normalen‘ Menschen, Dinge und Verhältnisse, die beleuchtet werden. So fällt der Blick auf Müll und Gestank, auf Holz- und Steinhäuser, auf Handel und Wandel, auf Privilegien und Rechte, auf einzelne Ereignisse und Personen.

Nachdem die Vielfalt unterschiedlichster Stadtmodelle aufgezeigt ist, widmet sich ein erster größerer Detailabschnitt den Märkten. Es werden typische Waren vorgestellt, Materialien und Handwerke besprochen, Handelswege und Handelsstrukturen aufgezeigt. Immer wieder kommen dabei auch Originalquellen zu Wort. Ein zweiter Detailkomplex hat Spiele und Turniere im Fokus, was in seiner überzogen wirkenden detailreichen Ausschmückung wohl dem erwarteten Hörpublikum geschuldet ist. In der mittelalterlichen Lebenswirklichkeit dürften Gaukler, Spielleute, Kunstreiter, Bärenführer, Fechter, Wahrsager und Teufelsbanner tatsächlich kaum eine Rolle gespielt haben. In Stadtbüchern, Chroniken und Berichten aller Art nehmen sie jedenfalls eine untergeordnete Rolle ein. Das Publikum dürften sie jedoch damals wie heute fasziniert haben. Schwarz nutzt dieses Faktum weidlich – zum Teil etwas zu weidlich – aus, wenn dann auch noch Bären kämpfen und Seiltänzer über die Straßen schweben.

Wieder ‚ernst‘ wird es mit dem Gesundheitssystem. Kurz skizziert ist die Genese des Spitalwesens, breiter ausgeführt sind die dramatischen Folgen des sogenannten Mutterkornbrandes; im Mittelalter als ‚Antoniusfeuer‘ bekannt. Holzschnittartig daran angebunden ist eine kurze Geschichte des Antoniterordens, woraus seinerseits ein kurzer Seitenblick auf die Ritterorden und deren Spitalwesen entspringt.

Der dritte Teil des Hörbuchs bietet einen historischen Abriss. Beginnend mit den „markanten Veränderungen“ im 11. und 12. Jahrhundert wird die Entwicklung eines Bürgertums moderner Prägung nachgezeichnet. Stichworte sind „Schwurgemeinschaft“, „Friede“ und „Recht“. Die Städte lösen sich aus ihren feudalen Abhängigkeiten, Kommunen entstehen. Die Entstehung einer solchen Kommune wird exemplarisch an Mailand durchgespielt und reicht in seiner Darstellung bis in die römische Antike zurück. Eine erhebliche Hörstrecke ist das Hörbuch nun Geschichte Mailands, was spannend und gewinnbringend, aber für die Genese der mittelalterlichen Stadt wohl eher als exotisches Randphänomen zu bezeichnen ist. Mailand ist für die mittelalterliche Stadt eben gerade nicht typisch – dies gilt umso mehr für die Städte nördlich der Alpen.

Zurück in das Typische führt der Blick auf den städtischen Rat. Beispiele sind Utrecht, Lübeck und Köln, wobei zunächst auf Kölner Spezifika genauer Bezug genommen wird, um dann wieder Allgemeines und Typisches zu erörtern. Aufgezeigt werden Entwicklungen bis ins Spätmittelalter. Augsburg ist hier das Exemplum. Analog zum Rat werden anschließend die Patrizier betrachtet. Wieder ist es Köln, dessen Patrizierfamilien zunächst exemplarisch herausgehoben werden. Weitere Exempla folgen. In Nürnberg steht die Hinrichtung des Niklas Muffel stellvertretend für die innerstädtischen Auseinandersetzungen im ganzen Reich. Ein zweites Beispiel ist Aufstieg und Fall des Augsburger Bürgermeisters Ulrich Schwarz. Dramatisch sind zudem die Ermordung Heinrich Topplers in Rotenburg und Heinrich Rubenows in Greifswald sowie die Enthauptung Hans Waldmanns in Zürich – dramatisch sind diese Berichte wohl im doppelten Sinn: einerseits hinsichtlich der Ereignisse im zeitgenössischen Umfeld der innerstädtischen Auseinandersetzungen und andererseits hinsichtlich der bluttriefenden Inszenierung im modernen Hörbuch.

Alles in allem bietet das Hörbuch einen knappen, aber durchaus umfassenden Überblick zur Genese der mittelalterlichen Stadt. Eingestreute Exempla aus der historischen Überlieferung – auch wenn sie vielleicht etwas zu häufig Effekt haschend in Gaukelei, Mord, Hinrichtung und Tod enden – führen den Hörer immer wieder geradezu spielerisch in die Lebenswirklichkeit hinein. Sie bieten Überraschungen, sorgen für Spannung und lassen die knapp 70 Minuten nie langweilig werden.

Titelbild

Jörg Schwarz: Stadtluft macht frei. Leben in der mittelalterlichen Stadt.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2009.
1 CD, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783534600663

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