Bild mit Mann mit Junge mit Frau

Anmerkungen zu John Maxwell Coetzees Roman „Die Kindheit Jesu“

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nimmt man den Titel des Romans ernst? Es wird die Kindheit von Jesus beschrieben. Eine aktuelle, aktualisierte Fassung eines der Kernanschauungen der westlichen Welt. Die Lücken in den Evangelien schließen – das scheint sich der literarische Selbsterfinder John Maxwell Coetzee vorgenommen zu haben – und er geht das Projekt mit einem unangenehmen und ätzenden Protagonisten an. Dieser ist knapp zehn Jahre alt und kommt mit seinem erwachsenen Begleiter als Flüchtlinge unbekannter Herkunft in eine Stadt mit dem Namen „Novilla“. Beide erhalten eine neue Identität: David und Simon aka Jesus. Die Perspektive der Protagonisten schwankt zwischen hoffnungsvoller Zukunft und deprimierender Gegenwart. Simon ist die Vaterfigur für das Kind David, ohne sein richtiger Vater zu sein. Seine leiblichen Eltern und den Nachweis seiner Herkunft hat der Junge auf der Flucht verloren. Das Universum, das Coetzee für seine Protagonisten ordnet, ist übersichtlich: Simon, die Vaterfigur, Ana, eine Mitarbeiterin der Behörde, die neue Mutter, „El Rey“, ein Lastpferd am Arbeitsplatz von Simon, Arbeitskollegen von Simon.

Das Kind entwickelt nach und nach einen Widerstand gegen seine Vaterfigur. Simon insistiert darauf, dass der Junge eine Mutter braucht, und „zaubert“ daraufhin eine neue „Mutter“ aus dem Ärmel, bei der das Kind aufwachsen soll. Dieses entwickelt aber immer mehr tyrannische Charaktereigenschaften, denen die „Mutter“ nichts entgegensetzen kann. David, das Kind, entzieht sich systematisch einer Ausbildung, die an rationalen Mustern orientiert ist. Er entwickelt eine eigene Sprache, die den Worten neue Bedeutungen zuweist, Zahlen bedeuten „mehr als sie sind“ und Eins plus Eins ist noch lange nicht Zwei. Es ist lernresistent, vielleicht hochbegabt, aber vor allem auch hyperaktiv und lethargisch, gleichzeitig aber in der Lage, sich selbst Lesen und Schreiben beizubringen. Das Kind äußert sogar seinen Berufswunsch. Er möchte Zauberkünstler werden. Gleichzeitig stellt er die Notwendigkeit in Frage, sich seinen Lebensunterhalt mit Arbeit zu verdienen. Und so steht David an einem Wendepunkt des Romans im schwarzen Umhang, mit Sonnenbrille und Zauberpulver in der Hand da – und nichts passiert. Wirklichkeit und Zaubererwunsch sind nicht kompatibel.

So schafft Coetzee eine seltsam leere Welt für seine Protagonisten, in einer reduzierten Wirklichkeit, einen merkwürdigen Raum, den Simon und David ohne Besitz und Eigentum nach ihrer Einwanderung betreten. Alles ist etwas karg, man darf sich freuen zu leben, aber dann kommt kaum noch etwas. Es gibt einen Arbeiterverein, der Spracheunterricht und ein wenig Kultur vermittelt. Aber auch dies bleibt blass, die Lebensperspektive für Simon und David ist seltsam farblos. In diesen Kontext wirkt auch Coetzees zurückgenommene, präzise Sprache, immer nur knapp und sparsam beschreibend, merkwürdig treffend. Es sind karge Szenarien, ähnlich denen, die man von seinen früheren Büchern wie „Warten auf die Barbaren“ kennt. Allerdings gibt es in „Die Kindheit Jesu“ mehr humorige Situationen. Auch wenn diese für die Protagonisten oft nicht ganz so lustig wie für den Leser sind.

So wirft Coetzee mit seinem neuen Roman eine Reihe von Fragen auf, die in ihrem Zusammenspiel ein ironisch fragendes Bild ergeben. Kann man eine Mutter aussuchen und ist Elternschaft eine Frage der Definition? Kann man eine Geschichte über Jesus schreiben, ohne dass sein Name ein einziges Mal im Buch genannt wird? Sieht so das Zentrum des Paradigmas „Christentum“ aus? Kann man einem Durcheinander der Sprachen, einem Kommunikationsproblem mit Volkshochschulkursen begegnen? Kann Jesus aka David einen schwarzen Umhang und eine Sonnenbrille tragen, ohne lächerlich zu wirken? Und ist Zauberkünstler ein adäquater Berufswunsch für den Heiland?

Coetzee verbirgt die Ironie in seiner Poesie der knappen Sprache. David, das Kind, der Zauberkünstler in spe, überzeugt den Leser von der Ironie der ganzen Geschichte, wenn er sein Lieblingsbuch wie einen Schild in den Streitgesprächen mit Autoritätspersonen nutzt. Das Lieblingsbuch ist Miguel de Cervantes Roman „El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha“, kurz als „Don Quijote“ bekannt. Die Hauptfigur, einer der frühen Superhelden der Weltliteratur, scheitert an den Verschiebungen zwischen der Realität und seinen Imaginationen von der Wirklichkeit. Und so zweifelt man zum Ende der Lektüre nicht nur an der Ernsthaftigkeit des Romantitels. Ironie, ein kurzweilige Lektüre, ein hohes sprachliches Niveau und eine exzellente Übersetzung von Reinhild Böhnke machen den Roman zu einer freudigen Lektüre. Mehr kann man kaum erwarten.

Titelbild

John Maxwell Coetzee: Die Kindheit Jesu. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Reinhild Böhnke.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
351 Seiten, 21,99 EUR.
ISBN-13: 9783100108258

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