Storm und der verlorene Sohn Woldsen

Ingrid Bachér entmystifiziert ihren Vorfahren

Von Miriam StriederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Strieder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Theodor Storm eine schwierige Vaterfigur war, ist weithin bekannt. Seine fragwürdigen Erziehungsmethoden und das problematische Verhältnis zu seinen Kindern regt nicht nur Zeitgenossen, sondern auch heutige Leser einer Biografie oder der stormschen Korrespondenz zu Kopfschütteln an. Die Beziehung zu seinem ältesten Sohn Hans lädt ein zur literarischen Ausgestaltung und Ingrid Bachér als Nachfahrin Storms hat geradezu ein Recht darauf, das Zusammentreffen der beiden so unterschiedlichen Charaktere in Würzburg 1877 auszuleuchten.

Bachér baut die Darstellung ihrer Charaktere und deren Umgang miteinander auf überlieferten Briefen aus der Storm-Korrespondenz und Aussagen von Zeitzeugen auf, sodass nicht nur ein greifbares und belastbares Bild von Vater und Sohn entsteht, sondern sich auch die literarische Fiktion in engen Grenzen hält. Wenn man Bachérs Betrachtung als biografischen Kommentar lesen möchte, wird der „Übervater“ Storm weder glorifiziert noch verteufelt, aber einiges Wissenswertes über den Autor erfahren wir trotzdem, sodass er für uns lebendig und mit den bekannten Ecken und Kanten bewusst wird: Sein Kontrollzwang wird ebenso deutlich wie die abergläubische Furcht, die beim Atheisten immer wieder mit Macht durchbricht.

Faszinierend ist der Blick auf Woldsen, den „missratenen“ und vielleicht sogar verlorenen Sohn, der uns sonst selten selbst entgegentritt. Hier bekommt er eine eigene und eigenwillige Stimme, die ihn weder als klaren Rebellen zeigt noch als fügsamen Sohn. Woldsens Innenleben wird uns präsentiert, aber am Ende bleibt ein trauriger Charakter zurück, der weder nach Amerika geht, sich dem Vater deutlich widersetzt, noch sich in das brav-biedere Bürgerleben einfügt. Da hilft auch alle Kleist-Lektüre nicht. Woldsen bleibt unbegreiflich, für uns wie für den Vater, auch wenn dem Leser der Blick in seine Innenwelt immer wieder gestattet wird, der dem Vater verwehrt ist, obwohl oder gerade weil er immer wieder darum kämpft. Sicher ist nur, dass Woldsens Herz an Sonja und Würzburg hängen, aber mit dem Blick auf den weiteren Lebensweg auch nicht so sehr, dass er dafür Eigeninitiative entwickeln würde. Der fügsame Rebell stirbt neun Jahre später in einem unbekannten Leben in Aschaffenburg.

Bachérs Stil ist wohltuend klar, auch wenn sie uns in das verzwickte und verzweifelte Innenleben ihrer – man möchte fast nicht Figuren sagen – entführt, aber die Faszination und Rätselhaftigkeit bleibt ungebrochen; die Frage: Wer ist Hans Woldsen Storm? ist das offene Ende.

Ebenso offen bleibt die Frage, was Bachér uns eigentlich zeigen möchte. Oberflächlich betrachtet schildert sie an Theodor und Hans Woldsen Storm einen Generationskonflikt, einen Konflikt zwischen Vater und Sohn, der in der Familie Storm unbestreitbar ist. Aber hinter dem Verhältnis von Storm zu seinem Sohn steckt mehr als eine Spannung, die sich an einem Altersunterschied von etwas mehr als 30 Jahren entzündet; der Schriftsteller pflegte intensive Freundschaften u.a. mit Ferdinand Tönnies, dem um so viele Jahre jüngeren Soziologen, oder dem ebenfalls viele Jahre jüngeren Germanisten Erich Schmidt.

Storms und Woldsens unterschiedliche Charaktere prallen schon aufeinander, wenn es um rein geografische Gegebenheiten geht: Storm ist nur zu Hause in den nördlichen Gefilden, weder in Potsdam noch in Heiligenstadt fühlt er sich wohl. Seine Novellen thematisieren auch immer Schleswig-Holstein, nur eine einzige („Ein Bekenntnis“) beginnt in Bad Reichenhall. Woldsen hingegen fühlt sich in Würzburg wohl und zu Hause, was seinen Vater immer wieder verwundert, auch wenn er es nicht an Mühe fehlen lässt, sich mit der Stadt und ihrer Kultur anzufreunden. Letztlich bleibt das negative Urteil über Land und Leute bestehen.

Vielmehr aber scheinen im Mittelpunkt des Konflikts zwischen Storm und Woldsen unterschiedliche Auffassungen zu Gesellschaft und Kultur zu stehen: Storm, der Vater, ist in einem literarisch-kulturellen Kreis fest etabliert, korrespondiert mit Dichtern und Denkern, umgibt sich mit ehrbaren Herren Professoren, während sein Sohn die Gesellschaft derer sucht, die so sehr am Rande der bürgerlichen Gesellschaft stehen, dass sie einen Neuanfang in der neuen Welt in Betracht ziehen. Auch die sonstigen Verbindungen des Herrn Woldsen erscheinen weder ehrbar noch bürgerlich. Mit Blick auf seine Grabinschrift „Dem Freund der Armen“ ist das aber eine eindeutige Empfehlung. Bachér entwirft durch Innensichten eine unsichtbare Parallelgesellschaft, in der die Scheinheiligkeit des etablierten Storm-Kreises nichts zu suchen hat, und in der die Herren Professoren und Literaten fremdeln, auch wenn sie sie in Texten des Realismus darstellen. Während Woldsen über einer realen Karte von Michigan brütet und tatsächlichen Überlegungen zur Auswanderung zuhört, entwirft sein Vater in „Von Jenseit des Meeres“ ein kitschig-exotisches Paradies in Amerika.

Anhand von Storm und Woldsen entwickelt Bachér eine Gesellschaftsdarstellung des 19. Jahrhunderts mit all seinem gründerzeitlichen Fortschrittsglauben und Optimismus. Diese eröffnet heute ebenso den Blick auf eine intellektuelle Scheinwelt, in der das Leben seinen ruhigen Gang geht, während „der Freund der Armen“ das Leben von beiden Seiten betrachtet und in keiner davon zu Hause ist. Woldsen ist kein Held und kein Heiliger, sondern einer, der sich der Welt seines Vaters nicht zugehörig fühlt, aber auch nicht stark genug ist, sich seine eigene zu erschaffen. Bachér präsentiert den Dichter und Novellenschreiber als macht-, wenn schon nicht sprachlosen Vater, der versucht, seinen Sohn in die intellektuelle Bürgerlichkeit zu zwingen, und einen Sohn, dem sie eine Stimme verleiht und dabei seine Schwächen nicht übersieht. Bachérs Darstellung ist angenehm unparteilich und trotzdem betrachtet sie ihre Vorfahren mit einem liebevoll-psychologischen Blick, der die Komplexität der Beziehung zueinander und das gesellschaftliche Geflecht klar offenlegt.

Titelbild

Ingrid Bachér: Theodor Storm fährt nach Würzburg und erreicht seinen Sohn nicht, obwohl er mit ihm spricht. Roman.
Dittrich Verlag, Berlin 2013.
184 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-13: 9783943941203

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