Ewig L(i)ebende

Jim Jarmusch hat mit „Only Lovers Left Alive“ ein grandioses Schattenpoem gedreht, das den Vampir-Mythos kongenial weiterdichtet

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Sie sind sich nahe, obwohl sie auf verschiedenen Kontinenten leben. Sie sind einander genug, auch wenn Tausende von Meilen sie trennen. Adam (Tom Hiddleston) und Eve (Tilda Swinton) könnten die ersten Menschen sein, doch tatsächlich sind sie Vampire, vielleicht zwei der letzten. In Detroit bzw. Tanger führen sie ein abgeschottetes Dasein. Ihre Triebe sind längst kontrolliert, die notwendige Nahrung beschaffen sie sich in Form von Blutkonserven von korrupten Ärzten. Ihr Dasein haben sie der Liebe zueinander gewidmet und der ästhetischen wie wissenschaftlichen Kunst. Darüber wurde ihre Existenz zur Kunst, nein: Sie selbst wurden Kunst.

Selten taucht im Kino ein derart faszinierendes Paar auf. Ein Paar, das sich radikal modernem Mainstream und Trivialität verweigert. Hierin ähnelt es dem Autorenfilmer Jim Jarmusch, einem Meister des lakonischen Minimalismus, der aus „Only Lovers Left Alive“ eine erlesene Melange zwischen Arthouse und Genredrama geschaffen hat. Sein Drehbuch thematisiert den Widerstand gegen kulturelle Hegemonie, seine Regie praktiziert dies auf stilistischer Ebene. Mit höchster Konzentration und geradezu lasziver Langsamkeit eröffnet sich ein schwarzromantischer Kosmos, in dem Vampire die wahren Liebenden, zugleich die wahren Lebenden sind. Eine Studie aus der Dämmerung.

Nur Bohémiens residieren in Ruinen

In den letzten Jahren haben Buch- und Filmbusiness die Figur des Vampirs wiederentdeckt, doch kaum zu dessen Vorteil. Abgesehen von wenigen künstlerischen, seinen Mythos intelligent variierenden Ausnahmen, etwa „Die Weisheit der Krokodile“ (1998) von Po-Chih Leong, muss der Vampir häufig als pseudo-sexy Toyboy mit Hang zu trendiger Bürgerlichkeit herhalten. Seine bedrohliche Rätselhaftigkeit ist darüber verloren gegangen. Doch nicht endgültig, denn „Only Lovers Left Alive“ entdeckt sie in zwei schillernden, unantastbar erscheinenden Gestalten wieder. Schon deren Bohème-Wohnsitze sind symbolisch aufgeladen. Adam hat sich in einer verwitterten Villa in einem der entvölkerten Außenbezirke von Detroit verschanzt, Eve in einem verschlissen-luftigen Tausend-und-eine-Nacht-Unterschlupf in der Kasbah von Tanger. Detroit, früher El Dorado der US-Autoindustrie, und Tanger, einst Mekka europäischer wie amerikanischer Künstler, sind heute Ruinen des Kapitalismus bzw. der Exotik. Ein Fanal der selbstzerstörerischen Menschheit.

Adam droht daran zu zerbrechen. Seine schummerige Unterkunft ist die letzte Zuflucht vor den oberflächlichen, von ihm als ’Zombies’ titulierten Menschen, die er scheut. Dunkles Holz, schwere Vorhänge, labyrinthisch-höhlenartige Räumlichkeiten, genialische Unordnung, alles in warmes Zwielicht getaucht, sind ihm Schutz vor dem banalen, unzivilisierten Draußen, das in entfremdetem Stumpfsinn erstarrt ist. Nur Bücherstapel und Photos von Poe, Wilde, Bach oder Kafka sowie historisch wertvolle Musikinstrumente erträgt er in seiner Umgebung. Um seine Sammlung an Vintage-Gitarren zu ergänzen, hat er Ian (sympathisch lässig: Anton Yelchin) engagiert. Der nette Freak mit den Schwarzmarkt-Connections weiß nichts von Adams wirklicher Identität. Er und der zwielichtige Dr. Watson (adäquat suspekt: Jeffrey Wright), der unverseuchtes Blut besorgen kann, sind Adams einzige Verbindungen zur Außenwelt.

Solch eindrucksvolle Selbstgenügsamkeit läuft durch konsequente Egozentrierung aber Gefahr, in einer Depression zu enden. Weil Adam, dem sagenumwobenen Horrorgeschöpf Vampir, Menschen zum eigentlichen Horror geworden sind, hegt er inzwischen suizidale Gedanken. Eve spürt seinen Weltschmerz bei ihren innigen Telefonaten, weshalb sie den beschwerlichen Nachtflug Richtung U.S.A. antritt. Allein sie, die blonde Punk-Göttin aus dem Orient, kann den byronesken Dunkelphilosophen des Okzidents retten.

Nur Ästheten kennen Hingabe

In „Only Lovers Left Alive“, der im Wettbewerb der 66. Internationalen Filmfestspiele in Cannes 2013 Weltpremiere feierte, steckt auch ein Essay über den Dualismus von Autonomie und Authentizität. Adam ist die Apotheose eines Subjekts hin zum totalen Individuum. Als Musikgenie widmet er sich ausschließlich seiner Kompositionskunst – und nur für die lässt er auch ein wenig (analoge) Technologie in seinem Haus zu –, verschmäht freilich sämtliche Formen kommerzieller Vermarktung sowie allen Medienhype. Was beinahe wertkonservativ anmutet, ist absolute Hinwendung. Zu der sind nur Panästheten fähig, die Kunst als Wert an sich betrachten und deren Reinheit erhalten wollen. Ebenso achten sie Geistes- und Naturwissenschaften bzw. die daraus gewonnenen Erkenntnisse als ein kostbares Gut, doch nicht im Sinne bildungsbürgerlicher Ideale. Vielmehr sind Adam und Eve in der Lage, die Leistungen des Menschen, ob von Pythagoras, Darwin oder Tesla, als eine Art Vervollkommnung der Natur zu bewundern. Der egoistische Homo industrialis hingegen will sich in seiner ignoranten Hybris über eben diese Natur erheben und vernichtet sie sowie sein eigenes Erbe.

Dafür wird er von Adam verachtet. Dessen Reaktion ist asketischer Rückzug, also Ablehnung des Materiell-Authentischen sowie Absage an den sozialen Austausch. Allein durch dieses Abwenden von der physischen wie virtuellen Realität bzw. durch die Hinwendung zum Ideellen und Geistigen lässt sich das Dasein heutzutage noch transzendieren. Im Digital-Zeitalter der multikommunikativen, uniformen Massengesellschaft bedeutet das die extremste aller Gegenbewegungen: der Welt den Rücken kehren. Kein größerer Widerstand, keine größere Unabhängigkeit ist denkbar.

Wenn Eve ihre Reisekoffer packt, nimmt sie ausschließlich Bücher mit. Diese lässt sie behutsam durch ihre Hände gleiten, liest sekundenschnell die in unterschiedlichen Sprachen verfassten Zeilen und ist glücklich. Nichts kann das Wort, gedruckt auf echtem Papier, ersetzen. Ihr Smartphone hingegen nutzt Eve nur zum Telefonieren, meist mit dem Liebsten. Adam besitzt nicht einmal eines. Wozu auch, die Verbindung mit Eve funktioniert ohnehin auf einer spirituellen, möglicherweise telepathischen Ebene. Wunderbar weiß das die Regie zu akzentuieren, lange noch bevor sich Adam und Eve wiedersehen. Einmal spielt er in Detroit auf der Gitarre seinen halluzinatorisch-schwermütigen Underground-Rock, und sie tanzt in Tanger dazu, als könnte sie diese Musik hören.

Nur Intellektuelle sind sich selbst genug

Jim Jarmusch hat mit „Only Lovers Left Alive“ pure, mystische Kinolyrik erdichtet, eine Gothic-Fabel, die nebenbei den definitiv schönsten Filmtitel des Jahres trägt. Jarmusch knüpft zwar an den klassischen Vampir-Mythos an, lässt seine feinsinnigen, kultivierten Wesen nur bei Nacht erwachen und immer wieder mit ihrem Blutdurst kämpfen, geht ansonsten jedoch eigene Wege. Ihr Alter und ihre endlose Erfahrung haben aus Adam und Eve weder Opfer der Acedia noch Prinzipalen des Ennui gemacht. Stattdessen sind sie zartfühlende Kreative und elitäre Intellektuelle geworden, im Prinzip das, was als Renaissancemensch bezeichnet wird. Sie haben ein enzyklopädisches Wissen angehäuft, kennen beispielsweise die lateinischen Bezeichnungen für Pflanzen wie Tiere, spielen Schach, sind belesen, geben sich bei ihren wenigen Auftritten in der Öffentlichkeit Pseudonyme wie Dr. Faust oder Fibonacci. Ihr Universalgelehrtentum geht einher mit einem vornehm-empfindsamen Charakter, gegossen in ein emotional gedämpftes, abgeklärtes, jedoch tiefgründiges Wesen. Der Vampir als Uomo universale!

Der Preis ist eine hermetische Existenz. Kameramann Yorick Le Saux lässt diese zum visuell verführerischen Erlebnis werden, indem er seine zahlreichen Top Shots in leichte Rotation versetzt. Zusätzliche Überblendungen von dem liegenden oder tanzenden Paar auf sich drehende LP`s oder Tonbänder versetzen das Bild in eine fragile Schwingung. Diese genügt sich selbst. So wie Adam und Eve. Überhaupt besticht die Inszenierung ihrer gegenseitigen Hingabe durch zärtliche Kühle, in deren Distanz und Sinnlichkeit eine Ahnung von unsterblicher Liebe liegt. Ihre Leidenschaft ist eine der noblen Gesten-Choreographie, ihre Nähe eine der anmutigen Duetto-Pose, ihre Geistesverwandtschaft eine der gewandten Kommunikation. Ihr Sex hingegen bleibt ein Mysterium. Einmal liegen sie nackt beieinander, zwei aus der Dunkelheit gemeißelte, statuenhafte Alabasterkörper, die sich leicht berühren. Yin und Yang. So sieht die Erotik der Gemessenheit aus.

Nur Außenseiter besitzen eine Geschichte

Die formvollendete Stilisierung, mit der Jim Jarmusch die kosmische, schon seit Jahrhunderten andauernde Liebe zwischen Adam und Eve zelebriert, zeichnet seinen ganzen, in ein atemberaubend atmosphärisches Licht-Schatten-Spiel getauchten Film aus. Reservierte Würde beherrscht jede Szene, ein morbid-somnambuler, sich aller Affektivität verweigernder Rhythmus erkundet die Einmaligkeit jeden Moments. Ewigkeit liegt in der Luft, gebannt in den Silhouetten eines mondänen Außenseiter-Traumpaares. Auch deren Darsteller sind ein Traum. Groß, schmal, feingliedrig sind sie die Verkörperung von Eleganz und Dekadenz, mit ihren Sonnenbrillen werden sie zu Retro-Rockstar und Edel-Muse. Doch die hochsensiblen Gesichter von Tilda Swinton und Tom Hiddleston bleiben keine leere Projektionsfläche für coolen Lifestyle, vielmehr ist ihre sublime Mimik Ausdruck eines exquisiten, substanziellen Innenlebens. Allein in Hiddlestons Stimme mit ihrer herrlich gewählten Modulation liegt die ganze Melancholie weiser Welterkenntnis. Diese Vampire mögen tot sein, ihre Seelen sind es nicht.

Perfekt ergänzt werden sie von Marlowe (imposant verlebt: John Hurt), einem schon etwas schwächelnden Alt-Vampir und Eves zuverlässigem Lieferanten von Frischblut. Es handelt sich bei ihm um den Dichter Christopher Marlowe, Zeitgenosse von Shakespeare, der laut einer etwas kruden Literaturtheorie gar Verfasser von dessen Werk ist. In „Ony Lovers Left Alive“ hegt er jedenfalls noch heute einen Groll gegen den ungleich berühmteren Kollegen.

Dies ist nur eines der charmanten Aperçus, mit denen das metaphernreiche Drehbuch aufwartet. Diskret bezieht es sich stetig auf Historie. Wie die exzentrischen Vampire selbst, die Kleidung aus vergangenen Zeiten tragen, zu Sixties-Soul tanzen oder alte Kunstwerke bewundern. Eve kann sogar durch Berührung das Alter von Gegenständen bestimmen. Adam gesteht, Schubert einmal eine Komposition geschenkt zu haben, nur um sie als Aufführung erleben zu können. Schattenwesen gleich haben sie ein schattenhaftes Dasein geführt, im Verborgenen Geschichte gelebt und gemacht. Jetzt sind sie selbst Geschichte, bestehend aus unzähligen Geschichten, die sie niemals erzählen werden. Erst das Fremdsein in einer fremden Welt hat ihre Wirklichkeit zur Virtuosität verklärt.

Nur Liebende werden am Leben gelassen

Adam und Eves erhabenes Sein, eine Zwei-Personen-Gegenkultur zur herrschenden Diktatur der Gewöhnlichkeit, könnte endlos weitergehen, zumal die Story nur am Rande von äußeren Einflüssen vorangetrieben wird. Was zählt sind Ambiente und Atmosphäre, Flair und Empfindung. Als Zuschauer könnte man sich in diesem unfassbar betörenden Midnight Movie verlieren. Schon der Vorspann, wenn langsam und dann immer schneller über den Sternenhimmel rotiert wird, hat etwas Meditatives. Doch die gotische Schrift des Filmtitels mahnt in ihrer roten Härte, dass Verfall das Fatum von (fast) allem ist. In Gestalt von Eves aufmüpfiger Vampir-Schwester Ava (beeindruckend leichtfertig: Mia Wasikowska), die uneingeladen in Detroit auftaucht, bahnt es sich seinen Weg. Sie, ein geist- und gewissenloses Geschöpf der infantilen YouTube-Generation, ist das genaue Gegenteil von Adam und Eve. Ihr fehlt jegliche Historizität. Sie lebt für den flüchtigen Kick des Augenblicks, beschäftigt sich mit Seichtem, sucht Rausch und Ablenkung. Vor allem sucht sie Blut. Avas Haltlosigkeit endet in einem Fiasko, das Adam und Eve zwingt, Amerika gen Tanger zu verlassen. Beider Renaissancismus-Utopie ist zerstört. Der Danse Macabre beginnt.

Lag bislang über dem Geschehen ein Schleier aus düster-elegischer Melancholie, senkt sich jetzt Finsternis hernieder. Kontrapunktisch wärmt das afrikanische Licht die Szenerie, gibt ihr eine milde Ocker-Nuance. Aber die Weichen des Schicksals Richtung Sündenfall sind längst gestellt, die Vorzeichen unübersehbar. Wirkte es nicht irritierend, dass Adam und Eve auch ohne Arbeit bislang immer genug Geld zur Verfügung hatten? War ihre Kurzekstase beim Trinken von Blut nicht verstörend lustvoll? Waren ihre amüsanten ironischen Repliken nicht doch Beweis für Ambivalenz, für pragmatische Weltbetrachtung? Zeigten sie nicht etwas zu viel Kaltschnäuzigkeit beim Entsorgen von Leichen? Zuletzt unterliegen auch sie den unerbittlichen Gesetzen von Sein und Sterben. Überleben ist alles.

So muss das desillusionierende Ende von Jim Jarmuschs poetisch-morbider Pretiose, das den Titel „Only Lovers Left Alive“ neu deutet, als schmerzvolles Loslassen verstanden werden. Adam und Eve werden ihre exklusive, eremitische Idylle zugunsten eines Triumphes über die Zeit preisgeben (müssen) und sich wieder auf den Pfaden ihrer wahren, animalischen Natur bewegen. Zurück bleibt von ihnen nur ein höfliches ’Excusez-moi’. Vielleicht genug für eine ewige Liebe. Aber niemals genug für die ewige Sehnsucht nach vollkommener Autarkie.

„Only Lovers Left Alive“ (USA 2013)
Regie: Jim Jarmusch
Darsteller: Tilda Swinton, Tom Hiddleston, John Hurt, Mia Wasikowska
Laufzeit: 118 Min.
Verleih: Pandora Filmverleih
Format: DVD / Blu-ray, ab 30.5.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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