Wir sind die Roboter
Ein neuer Sammelband zur „Technik in Dystopien“
Von Stefan Höppner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWenn es vor zwanzig Jahren ein Genre gab, das keine Zukunft vor sich zu haben schien, dann war es – paradoxerweise – die Utopie. Nach dem Untergang des real existierenden Sozialismus schien sich Karl Poppers Überzeugung aus seinem Aufsatz „Utopie und Gewalt“ durchgesetzt zu haben, nach dem die bloße Konzeption einer lebenswerteren Gesellschaft immer schon in Terror umschlagen müsste – nämlich im Versuch, diese gegen eine fehlbare menschliche Natur in die Realität umzusetzen – siehe Robespierre, siehe Lenin. In dieser Annahme steckt jedoch ein doppelter Denkfehler. Zum einen, weil die Utopie seit ihren Anfängen bei Platon und Thomas Morus sich meist weniger auf die Prognose einer neuen Gesellschaft richtet als auf die Diagnose dessen, was in der aktuellen Gesellschaft falsch läuft. Morus’ Insel liegt in der Neuen Welt – ihr fiktiver Entdecker wird als Mitreisender Amerigo Vespuccis eingeführt –, aber sie versucht, eine Lösung für die Probleme Englands um 1516 vorzuschlagen, und dies nicht als Handlungsplan, sondern als Modell, anhand dessen die Leser ihre eigene Lösung finden sollen. Utopische Gesellschaften überhaupt als zukünftige zu denken, ist eine späte Entwicklung. Erst 1770 denkt sich der Franzose Louis-Sébastien Mercier erstmals eine solche Zukunftswelt aus. Zweitens aber hat die Utopie eine dunkle Schwester. Es handelt sich um die Dystopie, die ein düsteres Gemälde der Zukunft entwirft. Hier ist es immer die Zukunft, oder in kontrafaktualen Erzählungen wie Christian Krachts „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ (2008) eine alternative Gegenwart, in der die Dinge im Argen liegen. Bei Klassikern der Gattung wie „Nineteen Eighty-Four“, „The Handmaid’s Tale“ oder „Brave New World“ käme niemand (außer Michel Houellebecqs Figuren in „Elementarteilchen“) auf die Idee, in ihnen Blaupausen dafür zu sehen, wohin sich die Gegenwart entwickeln sollte. In dieser Spielart liegt der eigentliche Kern der utopischen Literatur offen zutage – nämlich der Wunsch, mittels der fiktionalen Zukunft zur Reflexion der Gegenwart und ihrer möglichen Folgen anzuregen. Und dieser Wunsch hat Konjunktur. Spätestens seit „Elementarteilchen“ (1998), Margaret Atwoods „Oryx und Crake“ (2003) oder Filmen wie „The Matrix“ (1999) ist die Zahl der Spekulationen unübersehbar, vielleicht, weil die wirkliche Richtung der Gesellschaft unwägbarer scheint als je zuvor.
Mit einem zentralen Aspekt vieler Dystopien beschäftigt sich der neueste Band der Reihe „Jahrbuch Literatur und Politik“, die beim Heidelberger Winter Verlag erscheint und bereits in ihr siebtes Jahr geht. Dabei ist es gar nicht selbstverständlich, dass Technik überhaupt eine wichtige Rolle in der Dystopie spielt – schließlich begleitet Technik den Menschen seit den Anfängen seiner Existenz. Tatsächlich steht sie aber im Mittelpunkt vieler Dystopien und ist oft genug dasjenige, was diese Gesellschaften dystopisch macht. Ein prägnantes Bild dafür ist das rotglühende Computerauge, das auf dem Bild des Buches prangt und dem Computer HAL 9000 aus Stanley Kubricks „2001, A Space Odyssey“ nachempfunden ist. Gleichzeitig ist dieses Bild ambivalent – denn obwohl HAL im Film die Astronauten des Raumschiffes Discovery zu töten versucht, um seiner Programmierung zu folgen und unbedingt zum Jupiter vorzustoßen, wird er am Ende gerade von einem dieser Astronauten außer Gefecht gesetzt. Das heißt, er und mit ihm die unbedingte Herrschaft der Technik werden gerade überwunden. In vielen Dystopien ist aber gerade die Technik das Mittel oder sogar der Grund, aus dem die fiktionalen Gesellschaften zu dystopischen werden.
Die hier von Viviana Chilese und Heinz-Peter Preußer zusammengestellten Beiträge sind das Ergebnis einer interdisziplinären Tagung, die 2011 in Ferrara stattfand und das Thema der Technik in der Dystopie von möglichst vielen Seiten beleuchten sollte. Das ist gelungen – neben Literaturwissenschaftlern kommen Wissenschaftshistoriker ebenso zu Wort wie Informatiker, Soziologen und Philosophen. Eine Bereicherung ist auch, dass die Autoren nicht nur die immer wieder gleichen kanonischen Texte diskutieren, sondern eine Vielzahl von Filmen, Romanen, philosophischen Texten einbeziehen. Der Band als Ganzes bewegt sich dabei weder entlang der Chronologie, noch sind es Disziplinen oder die diskutierten Gattungen, an denen er sich orientiert. Stattdessen ordnen die Herausgeber die Beiträge nach den drei großen Blöcken der Gesellschaftstechnologien, Medien- und Informationstechnologien sowie der Biotechnologien, die das zentrale Movens der diskutierten Kunstwerke ausmachen. Das ist letztlich eine heuristische Wahl, denn am Ende kommunizieren die Themen der Aufsätze viel stärker miteinander, als diese saubere Aufteilung suggeriert.
Gegenstand des ersten Beitrags von Wolfgang Krohn ist dennoch der zeitlich früheste Autor, Francis Bacon. Mit seinem Plan einer Instauratio magna will er zu Beginn des 17. Jahrhunderts auf experimenteller Basis die umfassende methodische Grundlegung aller Naturwissenschaften konzipieren. Dieser Plan bleibt Fragment, aber Krohn zeigt überzeugend, dass er die Grundlage der späteren Modernisierungsdynamik bildet, dass er utopische Versprechungen einer totalen Kontrolle über die Natur macht, aber letztlich in sein Gegenteil umschlägt – die Ohnmacht des Menschen gegenüber der verselbständigten Dynamik. Von hier entwickelt sich die Diskussion in eine Vielzahl von Richtungen, und die Qualität der Beiträge ist fast durchgehend hoch. Hier werden große Bögen geschlagen. In den meisten Fällen gelingt das, aber im Extremfall kann der Versuch, möglichst vieles einzubeziehen, allzu summarisch wirken. Etwa wenn Preußer in seinem Beitrag aufführt, dass Christa Wolf den Begriff Utopie einmal mit dem Titel „Kein Ort. Nirgends“ übersetzt und zum Titel einer Erzählung gemacht habe, ohne dass daraus etwas für seine Argumentation folgt. Das ist kein Wunder, denn sein Thema ist die Technik im dystopischen Film. Auch der ist ein weites Feld, und da die Spannbreite seines Artikels vom 1927 erschienenen „Metropolis“ bis zu „Avatar“ (2009) reicht, bleibt für den einzelnen Film wenig Raum. Dabei wäre es gerade hier wünschenswert gewesen, einem breiteren Publikum auch weniger bekannte Filme wie „Logan’s Run“ und „Soylent Green“ (die der Autor dieser Rezension schätzt) näher vorzustellen. Und das gerade, weil es oft weniger der Parforceritt durch kanonisches Territorium ist, der die interessantesten Ergebnisse zeitigt – auch wenn man die Virtuosität von Peter Matusseks Essay „Die vier Endspiele zwischen Utopie und Dystopie“ bewundern muss – sondern die genaue Untersuchung von vermeintlich bloßer Genreliteratur wie Frank Schätzings „Der Schwarm“ oder den Romanen des amerikanischen Science-Fiction-Autors Daniel Suarez. Wie viel Potenzial darin stecken kann, zeigt der vielleicht beste Beitrag des Bandes. Er stammt von Niels Werber, der den Roman „Prey“ (2002) des verstorbenen Bestsellerautors Michael Crichton untersucht, in dem Nanoroboter die Herrschaft über menschliche Körper übernehmen und mittels unbegrenzter Selbstreplikation Leben zu zerstören suchen. Werber zeigt nicht nur, dass Crichton sich nicht nur wie die reale Nanotechnologie bei der Forschung zum Verhalten sozialer Insekten wie Ameisen oder Bienen bedient, sondern auch, dass die Wissenschaftler, die sich auf „objektiver“ Basis gegen Crichtons dystopische Vision verteidigen, nicht weniger metaphorisch und vermenschlichend argumentieren. Gesellschaftlich interessant wird das, wenn Werber zur Kritik von Antonio Negris und Michael Hardts Konzept einer mit „Schwarmintelligenz“ ausgestatteten, demokratischen „Multitude“ ansetzt, in der per Umkehrschluss deren einzelnes Mitglied mit Termiten oder Nanobots gleichgesetzt werde, und die ebenso zerstörerisches wie utopisches Potenzial in sich berge.
Auch wenn hier nicht genug Raum ist, um jeden einzelnen Beitrag zu würdigen: Alles in allem ist „Technik und Dystopien“ ein äußerst anregender Sammelband. An ihm kommt man nicht vorbei, wenn man sich für dystopische – und das heißt immer auch utopische – Zukunftsentwürfe interessiert. Die Zukunft mag auch nicht mehr das sein, was sie einmal war, um einen alten Kalauer zu wagen – aber sie erzählt immer noch mehr über unsere Gegenwart, als wir sonst zu träumen wagen.