Blumen, Träume, Tränen und Erinnerungen

Friederike Mayröckers großartiges Buch „études“

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die fast neunzigjährige österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker legt mit „études“ einen Band mit Texten vor, die inhaltlich an Themen und Motive anknüpfen, die sie zum wichtigen Gegenstand ihres Schreibens der letzten Jahre gemacht hat: den Schmerz um ihren im Jahr 2000 verstorbenen Lebens- und Arbeitsgefährten Ernst Jandl, die Beschwernisse des Alters und die hartnäckigen und unermüdlichen Versuche, der tiefen Melancholie, die im Bewusstsein der Unerbittlichkeit des Todes gründet, eine Dichtung entgegenzusetzen, in der die Poesie der Sprache sowie Träume und Erinnerungen bestimmend sind und die das Leben in seinen schönen wie betrüblichen Facetten zeigt.

Die Texte bewegen sich zwischen Lyrik und Prosa, sind etwa bis zu einer Seite lang und geben, wie so häufig bei Mayröcker, an, wann sie entstanden sind. – Man darf wohl, ohne damit die biografische Nähe zwischen Text-Ich und Autorin zu stark zu betonen, das Ich der Texte weitgehend mit der Schriftstellerin Mayröcker gleichsetzen. Die zahlreichen Namen und Hinweise auf Reisen und Orte, die mit ihrem Leben verbunden sind, lassen eine solche Gleichsetzung zu.

„Übung cahiers Übung in den Heften wehende Etüden Magnolien Etüden von Regen, Küsse von Regentropfen“

Das Titelwort des Buches gibt einen Hinweis darauf, wie Mayröcker ihr Schreiben versteht. „Études“ sind für sie Übungen, konzentrierte, artistische, zuweilen einfache, zuweilen komplizierte Schreib-Anstrengungen, die bei dem Vorangegangenen ansetzen, das Vorausgegangene weiterführen, zu etwas Neuem verarbeiten, Verbindungslinien zwischen den einzelnen Texten herstellen und aufzeigen und die in cahiers – ein häufiges Wort der „études“ –, in Notizheften und in Notizform also, festgehalten, überarbeitet und in eine endgültige Form gebracht werden. Etüden sind ein Umkreisen und Einkreisen von Themen und Motiven, im gelungenen Fall „wehende Etüden Magnolien Etüden“.

„alles nur Bricolage“

Der erste Text des Bandes enthält bereits Motive, die in anderen Texten wichtig werden: das Motiv der Erinnerung („damals ´54 in Salzburg als ich nach London aufbrach“), das des Liebesschmerzes und des Abschieds („ich wollte mich nicht trennen von dir“) oder das des Weinens und der Einsamkeit („diese Verlorenheit meiner Augen“).

Der kurze Text ist auch in anderer Hinsicht typisch. Einige Zeilen sprechen direkt die Situation der Schreiberin an oder rücken einen Gegenstand ihrer unmittelbaren Umgebung in das Blickfeld („die verblühten tiefblauen Hyazinthen im Glas“ oder „zusammengerollt die Schmutzwäsche auf dem Klavier“ oder „allerlei von Tabletten des nachts“). Übergangslos verbinden sich solche Schilderungen mit Erinnerungen an Begegnungen mit Menschen früherer Zeiten.

Und der Text enthält leicht ironische Wendungen, die von dem Persönlichen der Zeilen und ihrem melancholischen Grundton distanzieren. Ein solcher Ausdruck ist die Schlusszeile „alles nur Bricolage“. Der Begriff, häufig in den „études“ verwendet, meint eine Zusammenführung verschiedener Teile, eine spielerisch-assoziative Verbindung unterschiedlicher Bedeutungsbereiche. Es ist eine Art Collage von Bildern und Worten, wie zufällig und improvisierend aneinandergereiht. In dem Kontext des Anfangstextes klingt „Bricolage“ ein wenig abwertend, wie „Plunder“ oder „fauler Zauber“.

Der Text, mit dem „études“ beginnt, setzt den Ton für das Buch: Jetztzeit und das „damals“, Konkretes und Abstraktes, zeitliche und räumliche Nähe und Ferne, die Gegenstände der unmittelbaren Umgebung und das erinnerte Leben werden bruchlos miteinander verknüpft. Das Leben der Gegenwart wird aufgefüllt und bedeutsam durch das, was einmal war. Der Geliebte der früheren Zeit wird mit „weiszt du“ angeredet, als stünde er der Sprecherin gegenüber. Die Entgrenzung von Zeit und Raum gibt den Texten eine Weite und Ausdehnung, in denen sich die Fantasie des Lesers entfalten kann.

„Bevor der Leser abspringt weil ihm die Luft der Lektüre zu dünn geworden ist, biete ich ihm einen Happen Verständlichkeit“

Die Texte der „études“ sind in ihrem Aufbau sprunghafter und assoziativer als viele Gedichte vorangegangener Veröffentlichungen, radikaler in den auf einen Nominalstil verknappten Aussagen, chiffrenhafter, wenn es um Namen und Namenskürzel oder um Unterstreichungen, Klammerzusätze oder Zitate geht. Im zweiten Teil des Bandes werden viele Texte mit einem Vortext in kleinerer Schrift, der wie ein Motto wirkt, dafür eigentlich aber zu lang ist, eingeleitet. Nicht immer ist sofort erkennbar, was Vortext und „Haupttext“ miteinander zu tun haben. Sie kommen daher wie Träume, in denen Heterogenes wie selbstverständlich ineinander verwoben ist, wie Teile eines Gedankenstroms, unvermittelt beginnend und ebenso abrupt endend, wie zufällig herausgerissen aus einem großen Zusammenhang von Gedanken, Gefühlen und Bildern. Manchmal scheint es, als wollten die Äußerungen dieser Gefühls- und Gedankenwelt, obzwar in Sprache „übersetzt“, den Innenraum der Seele der Schreiberin nicht wirklich verlassen, in ihrer Gedanken- und Bilderwelt verschlossen bleiben.

Mayröcker bietet dem Leser allerdings mehr als nur einen „Happen Verständlichkeit“. Der Eindruck von Sperrigkeit einiger Zeilen und Ausdrücke, von Spontaneität und Zufälligkeit und etwas Sprunghaft-Flüchtigem stellt sich gelegentlich ein, löst sich bei näherem Hinsehen aber wieder auf. Denn die Texte enthalten „Lesehilfen“, die ihr Verständnis erleichtern. Sie mögen spontan entstanden sein, vielleicht in den Augenblicken zwischen Traum und Erwachen, sind aber alles andere als zufällige Sprachgebilde.

Sie sind – im Gegenteil – außerordentlich kunstvoll gemacht, sprachlich genau, inhaltlich fordernd, emotional berührend. Worte und ganze Satzteile werden über viele Seiten hin wiederholt; aneinander gereihte Ausdrücke ohne Verben lösen sich mit ganzen Sätzen ab; „verdrehte“ Sätze stehen neben geordneten Wortfolgen; Pünktchen deuten Auslassungen und Sprech- und Gedankenpausen an, Klammern fungieren als Ergänzungen und Zusätze, Gleichheitszeichen binden Ausdrücke eng zusammen und Unterstreichungen gewichten und akzentuieren Wörter. Satzstrukturen werden zugunsten von Aufzählungen aufgelöst.

Die Texte erhalten innere Verbindungslinien, die Unterschiedliches miteinander verklammern und durch die Wiederholung von Wörtern und Namen verständlich machen. Motive, Bilder, Namen, Floskeln, ganze Zeilen werden wiederholt und in neue Zusammenhänge gestellt. Diese Verklammerungen fungieren als Wiedererkennungsmerkmale. Das gilt auch für die Grundstruktur vieler Texte: Der Blick der Schreiberin aus dem Fenster oder auf einen Gegenstand der ummittelbaren Umgebung, z. B. eine Vase, oder die Schilderung der Beschwernisse des Alters geht unvermittelt über in Erinnerungen an frühere Zeiten. Wien mit seinen Cafes und seinem Naschmarkt und Wanderungen mit dem Geliebten durch Wälder oder der Ort der Kindheit, das Dorf D., stehen, als seien sie aus jedem konkreten Ort- und Zeitzusammenhang gefallen, wie selbstverständlich nebeneinander. Gegenwart und Vergangenheit, der Ort hier und jetzt und der Ort dort und damals werden zusammengeführt, was etwas schillernd Ort- und Zeitloses in die Texte hineinträgt.

„,étude’ ,étude’ / 1 Vöglein1Finklein am Tor / und ehe es eintrat begann es zu / zwitschern“

So wie in diesen Zeilen aus dem Titelwort „étude“ ein Vogelzwitscherlaut wird, kommen in Mayröckers Zeilen viele klangliche und lautmalerische Ausdrücke vor. Manche Worte scheinen vorwiegend wegen ihres Klangs gewählt worden zu sein. Dieses sprachspielerisch-humorvolle Moment der Texte durchbricht, gelegentlich in fein ironisierender Weise, ihren melancholischen Grundton. – Ironisch ist auch durch der Klammerzusatz „le kitsch“. Es scheint, als wolle Mayröcker mit solchen Mitteln sich selbst kommentieren und jedes allzu romantisierende Sprachbild mit einem Fragezeichen versehen und in seiner Wirkung auflösen.

„ach kleines Mädchen Schnee, usw.“

Die sprachlichen Bilder in Mayröckers Texten sind faszinierend. Der märchenhaft-poetische Ausdruck „kleines Mädchen Schnee“ meint die anmutige Schneelandschaft, aber auch ein kleines Mädchen im Schnee. Das Bild kommt in einem Umfeld zahlreicher Schneebilder vor: „Nervenschnee“, „Schneerosen“, „verträumter Schwarm im Schnee verträumter Vogel“, „Februar-Schnee“, „Grasbusche im Schnee bedeckten Wald“ oder „Schnee und Kirschblüte, Schnee und Büsche weiszer Affekte“. Die Texte sind über ein unterschwelliges Netzwerk solcher Sprachbilder miteinander verknüpft: Der eine Text wird als Fortführung eines anderen verstanden. Es entsteht ein für Mayröckers Schreiben der letzten Jahre typisches Sprach- und Bildergemenge, dessen Fantasiefülle Staunen hervorruft und dessen Assoziationsmöglichkeiten die Lektüre Mayröcker’scher Texte zu einem spannenden Leseabenteuer und besonderen Vergnügen machen.

Die Bilder fungieren als wichtige Bedeutungsträger. Die Schneemetapher wird in einer Zeile zur Herzmetapher: Die Autorin spricht von ihrem „verschneiten Herzen“. Der Schnee wird zu einem Bild des Alleinseins, der Einsamkeit, der „kalten“ Ruhe und trifft damit ins Zentrum dessen, worum sich die Texte drehen.

Wie wichtig die Schneemetapher – und „Schnee“ steht hier als ein Beispiel für andere Bilder, Metaphern und Vergleiche – in den „études“ ist und wie deutlich sie von Beginn an die Assoziation von Tod hat, zeigt das allen Texten vorangestellte Gedicht, das wie ein Motto wirkt und durch die faksimilierte Handschrift Mayröckers hervorgehoben wird: „frischgefallener Schnee = / die Blüte des Winters / Sängerin ‚N.’ ist verstummt ach. / Erfroren“.

„während das Lied des Vogels nach einem fernen Frühling den es vielleicht nicht mehr gibt während die Finken aller LIEBST weiszt du in Büschen mit zerrissenen Adern, kein disco Leben, umarmen wir uns im weiszen Schlehdornbusch“

Wie in den zitierten Zeilen die Ahnung um den Tod umschlägt in eine Umarmung des Geliebten, so gehen in vielen Texten Mayröckers Todesahnung und Erinnerung an glückliche Tage mit dem Geliebten, mit geliebten Menschen überhaupt, nahtlos ineinander über: „ohne Hoffnung dieses winzige (ich meine Hoffart) dieses winzige allzu kurze Leben also troff es aus deinen blauen Augen aus deinen Amethysten, […] damals als er mich küszte in der Vergessenheit Schnee, Rauhnacht und welkende weisze Rose.“

Im Glück stecken immer schon das Unglück, der Verlust, der Tod. Wenn Mayröcker vom „Delirium einer Liebe“ spricht, dann schreibt sie kurz darauf von „1 Dotterblumen Tal 1 Dotterblumen Tod“, und wenn sie sich an eine Bank „damals im Park von Schönbrunn“ erinnert, dann heißt es in einer der nächsten Zeile: „1 Tränenflor, damals im Frühling unter den blühenden Bäumen welche im Südwind wehten ich meine dieser Frühling in weiszer Blüte nicht wahr.“ Immer scheint das Glück gefährdet, ist der Umschlag in sein Gegenteil bittere Gewissheit. Die Texte sind eine faszinierende sprachlich-poetische Gratwanderung zwischen Liebe und Glück und der Traurigkeit über ihr Ende.

„Schlingensief schreibt, so schön kann das Jenseits gar nicht sein, dasz es mir gefiele, diese Welt zu verlassen“

Je älter die Autorin, die 1924 geboren wurde, ist, umso deutlicher werden ihre Sätze, in denen sie den Tod „wegzuschreiben“ versucht. Schlingensief ist dabei für Mayröcker wohl ein Bruder im Geiste. Nicht nur imponieren ihr seine Sätze, sondern offensichtlich auch seine Haltung: Schlingensief hat seine schwere Krebserkrankung bis kurz vor seinem Tod mehrmals zu Bühnenprojekten verarbeitet und damit große Kunst geschaffen. Er hat versucht, dem Tod künstlerisch zu begegnen und ihm damit gleichzeitig auf mysteriöse Weise zu „entgehen“. Es ist der gleiche Antrieb, der auch für Mayröckers Schreiben gilt.

Der Tod ist in vielen Zeilen des vorliegenden Bandes präsent. Das Motivwort „Tränen“ ist ein Schlüsselwort für das Verständnis der Haltung der Schreiberin Leben und Tod gegenüber. In „Tränen“ verdichtet sich die Erfahrung der Einsamkeit und Angst vor dem Ende zu einem einfachen, wirkungsvollen Sprachbild. Einmal vergleicht sie die Tränen mit „blitzenden Sternen = Puccini“, um aber sofort die Einsicht in das Unvermeidliche anzuschließen: „da ist keine Rettung“. Mayröckers Dichten ist ein verzweifeltes „Anschreiben“ gegen die Tränen, gegen den Tod, auch wenn „keine Rettung“ ist.

„keiner hat zu mir gesprochen ich habe lange geschlafen da ist 1 fremde Welt aber irre in einer fremden Welt wie fegen die losen Blätter ich habe meinen Liebsten lange nicht gesehen ich habe ihm lange meine Hand nicht mehr gereicht wir haben uns lange nicht mehr geküszt was ist geschehen 1 gebrochenes Licht die verblühten Veilchen die verlorene Sprache die losen Blätter in einer losen Welt die milde LOSIGKEIT die Perlenschnüre der Tränen“

Es gibt wenige Abschnitte in diesem Band, in denen die Einsamkeit der Schreibenden mit so sprachmächtigen Worten beschrieben wird. Einsamkeit ist eine Grunderfahrung des (alternden) Menschen, der er irgendwann nicht mehr ausweichen kann, die ihn, bewusst oder unbewusst, immer schon begleitet hat und ihm nah ist. In Mayröckers Schreiben ist die Angst, verlassen zu werden und allein zu sein, schon in ganz frühen Gedichten der fünfziger Jahre spürbar. In den letzten Jahren ist gerade dieses Motiv für sie zu einem entscheidenden Impuls ihres Schreibens geworden. In einem Text stehen die Zeilen: „neige nuage, letzte Sequenz eines langen Traums: du bist an deinem Schreibtisch gesessen und hast telefoniert, die weiszen Tränen, ich habe dich lange nicht gesehen ich habe dich lange nicht umarmt wo magst du sein“.

„und in den Augen sprieszen die Blumen dir wenn du stehst an den Baum gelehnt neben dem Haus in den Augen sprieszen die Blumen dir welche übersäen den Hang die Wälder wenn du stehst neben dem Haus dich tragen läszt von dem Anblick der Vögel am Morgen wenn du die Augen fliegen läszt zu den Bergen Bergspitzen Wolken“

Mayröckers „études“ sind schonungslose „Sprach-Einübungen“ in den Umgang mit Altern und Tod, bemerkenswert und herausragend in ihrer Eindringlichkeit und Wirkung. Sie sind darüber hinaus Rühmungen – das Rilke’sche Wort darf hier benutzt werden – des Lebens. Der Blick aus dem Fenster ist ein Bild, das die Autorin immer wieder, in diesem Band wie in früheren Gedichten, bemüht. Das Schauen, das offen macht für die Schönheit der engen und weiteren Umgebung, die natürliche Begrenztheit des Alters überwindet und weite Räume öffnet, wird zu einer wichtigen Haltung des Ich. Nicht zufällig spricht Mayröcker von sich als von einem „Augenmenschen“, der, was er sieht, in Dichtung verwandelt. Ein Text schließt mit folgenden Zeilen: „(werde heute nicht viel spazieren lieber an Fenster, lehnend und eingehen, in buschigen Wellenflug der Hügel am Horizont, usw.)“.

Unzählige verschiedene Blumen – ein wahres Blumenmeer – kommen in den Texten vor, auch Sonne, Mond, Sterne, Büsche, Wälder und Wiesen: Die Natur stellt, zusammen mit den Erinnerungen an sorglose Kindheitstage in D. und an die glücklichen Momente der Liebe, der melancholischen Grundstimmung der Texte einen preisenden Ton entgegen.

Mayröckers Textband „études“ ist in seiner Vielfalt von Motiven und der Kraft seiner Sprache und seiner Bilder ein beeindruckendes Buch. Es schließt, trotz aller dunkler Töne, heiter und versöhnlich: „weich und bestürzt dein liebes Gesicht als ob von Nebenmonden tauend Clematis und Immergrün da ragte 1 Ästchen über den Rand des Bildes hinaus, und saszen zusammen unter den Apfelbäumen im Tal, ‚inbrünstig Mützchen ade‘, usw.“

Titelbild

Friederike Mayröcker: études.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
190 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423998

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