Ich liebe dich zu Tode

François Truffauts vielleicht persönlichster Film „Das grüne Zimmer“ ist erstmals als DVD auf Deutsch erschienen

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

„Sie werden sehen, dass die Toten uns gehören, wenn wir bereit sind, ihnen zu gehören.“ Mit diesen Worten versucht Julien Davenne, gespielt von François Truffaut, seinen Bekannten Gérard Mazet zu beruhigen. Dieser kann den Tod seiner Ehefrau nicht wahrhaben. Mazet drängt die Bestatter beiseite, die hohe, weiße Kerzen wegstellen, um ihren Sarg zu verschließen. Weinend drückt er die Tote an sich und murmelt ihren Namen.

„Mortem nostram suam morte, devicet Christus. Der Tod ist besiegt, mein Sohn, für den Christen, für den, der getauft wurde.“ Einem anwesenden Geistlichen gelingt es nicht, Mazet zu helfen. Im Gegenteil. Aufgelöst versucht dieser, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Davenne gibt dem Priester, dem „berufsmäßigen Tröster“, wie er ihn nennt, dafür die Schuld und fordert ihn auf, auf solche „Worte der Resignation“ zu verzichten. Verärgert drängt Davenne den Priester und die anderen Trauergäste hinaus. „Es hängt von Ihnen ab, Mazet, und nur von Ihnen, ob Geneviève weiterlebt“, sagt er, als sie allein sind. „Wie können Sie so etwas sagen? Was wissen Sie davon?“ Davenne: „Ihre Geschichte ist genau die meine.“

Derart bedrückend beginnt „Das grüne Zimmer“ von François Truffaut (1932-1984). Als „La chambre verte“, so der Originaltitel, 1978 in die Kinos kommt, bleibt der kommerzielle Erfolg aus. Das ist für den Nouvelle-Vague-Regisseur umso schmerzlicher, weil ihm dieser Spielfilm besonders wichtig ist. „Die Arbeit an La chambre verte ist jetzt beendet, und am Schneidetisch habe ich den Film allmählich ins Herz geschlossen. Ich glaube, er ist wirklich etwas Besonderes und von großer Strenge“, schreibt er vor dem Kinostart an die US-Filmwissenschaftlerin Annette Insdorf. Truffaut selbst spielt die Hauptrolle: Julien Davenne ist Redakteur der Zeitschrift „Le Globe“. Er lebt zurückgezogen in einer kleinen Stadt im Osten Frankreichs. Zusammen mit Madame Ramboud, seiner älteren Haushälterin, und dem stummen Georges, einem Waisenkind.

Zehn Jahre ist es her, dass der Erste Weltkrieg zu Ende gegangen ist. Doch Davenne kann wie viele andere Veteranen das Geschehene nicht vergessen. Es sind nicht nur Freunde von ihm an der Westfront gefallen. Der Journalist hat kurz nach Kriegsende auch Julie, seine junge Ehefrau, verloren. Danach sei er völlig verwandelt gewesen, sagt die Sekretärin des „Globe“ in einer Szene des Films zum Chefredakteur. Dieser ist dann nicht weiter erstaunt, dass Davenne es ablehnt, einen Posten im quirligen Paris anzutreten: „Ich hatte bei ihm immer schon den Eindruck, dass er um Alles, was in diesem Leben schön ist, einen großen Bogen macht.“

Der Protagonist wirkt apathisch, fast autistisch. Er lebt in einer für sich abgeschlossenen Welt. Außer für seine Toten scheint er sich für nichts zu interessieren. Der Filmemacher und Buchautor Robert Fischer bezeichnet die Art, wie Truffaut Davenne spielt, in dem der DVD beigefügten Beiheft als „zurückgenommen“. Davenne wirkt schüchtern und verletzlich, aber auch hölzern. Es ist etwas „Mechanisches“ an ihm, das nur dann etwas in den Hintergrund tritt, wenn er sich mit Julie beschäftigt, seiner Nichttoten.

Arbeitet Davenne tagsüber als Redakteur – Spezialfach Nachrufe –, so widmet er sich in der Freizeit dem Andenken seiner Frau. Er hat in seinem Haus ein dunkles Zimmer eingerichtet, in dem Kerzen brennen und Fotos von ihr und ihm selbst hängen. Einmal kommt er mit einem Ring zurück, den er bei einer Auktion ersteigert hat und der einst seiner Frau gehörte. Im Zimmer stülpt Davenne den Ring über den kleinen Finger einer linken Hand, wohl ein Gipsabdruck von Julies realer Hand. Dann spricht er mit ihr: „Ich habe dich nicht vergessen, Julie. Trotz der vielen Jahre vergesse ich dich nicht. Nein, ganz im Gegenteil. Ich denke immer mehr an dich.“

Davenne kennt keine andere Beschäftigung als seinen Totenkult. Die einzige Ausnahme stellt Georges dar, die Waise, die der Journalist in sein Haus aufgenommen hat. Doch anstatt den Jungen zu erfreuen, zeigt er Georges Dias von Insekten, getöteten Soldaten und zerstörter Landschaft. Es ist dann Madame Ramboud, seine Haushälterin, die den wenig einfühlsamen Davenne in seiner morbiden Neigung zügeln muss.

Mit Cécilia Mandel, gespielt von Nathalie Baye, die der Witwer bei der Auktion kennen lernt, tritt jedoch eine Figur auf, die den Veteranen ins Leben zurückholen will. Als dieser erfährt, dass Mazet zum zweiten Mal geheiratet hat, regt sich Davenne fürchterlich auf und weigert sich, ihn zu sehen: „Woher wissen Sie, dass die neue Heirat nicht eine Möglichkeit sich zu erinnern bedeutet?“, fragt Cécilia ihn und resümiert: „Sie lieben die Toten gegen die Lebenden.“ Im Gegensatz zu ihr. Und das obwohl sie selbst jemanden verliert. Ihr Geliebter Paul Massigny kommt bei einem Autounfall um. Doch Cécilia will nach der Trauerzeit neu anfangen. Mit Davenne, der aber in der Vergangenheit lebt und zu sehr mit sich selbst befasst ist, als dass er noch rechtzeitig ihre Avancen bemerken könnte.

„Das grüne Zimmer“ ist einer der eindringlichsten und berührendsten Filme von François Truffaut; vielleicht sein düsterster. Dabei unterstreicht die Musik des Komponisten Maurice Jaubert das Morbide. Im Film spricht Davenne einmal über ihn: „Ich hatte ihn fast völlig vergessen. Aber als ich dann eines Tages im Radio ein Stück, das er komponiert hat, gehört hatte, habe ich gemerkt, dass seine Musik, voller Klarheit und Sonne, die beste ist, die Erinnerung an all diese verstorbenen Freunde zu begleiten.“

Mit den „Verstorbenen“ sind Davennes Ehefrau und Freunde gemeint, denen er nach einem Brand in seinem Haus einen gemeinsamen Altar widmet. Er saniert mit Erlaubnis der Diözese eine verfallene Kapelle, hängt dort Fotos aller seiner Toten auf und stiftet jedem eine Kerze. Wie stark autobiografisch der Regisseur in „La chambre verte“ gearbeitet hat, sieht man an Davennes Toten. Es sind Fotos etwa von Schriftstellern wie Marcel Proust, Jean Cocteau und Henri-Pierre Roché oder Schauspielern wie Oskar Werner, zu denen Truffaut eine besondere Beziehung hatte.

So gesehen ist es kein Zufall, dass Truffaut selbst die Hauptrolle spielt. Basierend auf Novellen wie „The Altar of the Dead“ und „The Beast in the Jungle“ des Schriftstellers Henry James hat er in „La chambre verte“ auch eigene Trauererfahrungen verarbeitet – etwa den Unfalltod seiner Geliebten Françoise Dorléac, der Schwester von Catherine Deneuve.

Darüber hinaus gibt es zahlreiche Anspielungen und Verknüpfungen zu älteren Filmen Truffauts. Die Wohngemeinschaft mit der älteren Frau und der Waisen etwa ähnelt der in „Der Wolfsjunge“ (1969), in dem um 1800 ein gewisser Doktor Itard einen Jungen erzieht, der allein im Wald gelebt hat und nicht sprechen kann. Die Besessenheit, mit der Julien Davenne an seiner verstorbenen Frau hängt, weist Parallelen mit Julie Kohler aus „Die Braut trug schwarz“ (1967) auf. Diese gibt keine Ruhe, bis sie die Mörder ihres Ehemannes gefunden hat. Ein anderes Beispiel ist „Die Geschichte der Adèle H.“ (1975): Die Hauptfigur, die Tochter des Schriftstellers Victor Hugo, verliebt sich in einen britischen Offizier. Als dieser ihre Gefühle nicht erwidert, steigert sie sich in die fixe Idee einer gemeinsamen Liebe.

Mit „Das grüne Zimmer“ deckt Truffaut aber nicht nur das Thema Amour fou ab, sondern auch ein anderes, das in fast allen seiner Filme einen wichtigen Aspekt ausmacht: Sterben und Tod. Wie soll man mit dem Verlust eines Menschen, der einem viel bedeutet hat, umgehen? Wie ist es möglich, den Toten in Erinnerung zu behalten, ohne dabei das eigene Leben zu vernachlässigen? Der Film trifft beim Zuschauer einen Nerv, weil er ihn sofort an das eigene Leben, das eigene Umfeld, denken lässt. Er konfrontiert einen mit einem Thema, mit dem man sich eher ungern auseinandersetzt. „La chambre verte“ wirkt wohl auch deshalb so schockierend – er ist erst ab 16 Jahren freigegeben –, weil Davenne ein extremer Charakter ist: Er hat sein Leben den Verstorbenen geweiht. Ob er damit glücklich werden kann, ist eine andere Frage.

„Das grüne Zimmer“ (Frankreich 1978)
Regie: François Truffaut
Darsteller: François Truffaut, Nathalie Baye, Jean Dasté
Laufzeit: 91 Min.
Format: DVD (München 2013)

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