Zu Besuch im Jenseits

Wie und warum von solchen Besuchen erzählt wird, fragt sich Maximilian Benz in seiner Dissertation „Gesicht und Schrift“

Von Theresa SpechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Theresa Specht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kann man das Unerfahrbare erfahrbar und das Unerzählbare erzählbar machen? Wer von Jenseitsreisen berichten will, muss die Frage mit Ja beantworten, sonst wäre sein Vorhaben zum Scheitern verurteilt. Stellen wir uns doch das Jenseits als einen Ort vor, den wir wenn überhaupt erst nach unserem Tod wahrnehmen können. Diese Erfahrungen bleiben dann aber unerzählt. Die Existenz vieler Jenseitserzählungen, worunter die prominenteste wohl Dantes „Divina Commedia“ ist, beweist, dass das Erzählen vom Unerzählbaren möglich ist und erfolgreich sein kann. Maximilian Benz untersucht in seiner Dissertation „Gesicht und Schrift – Die Erzählung von Jenseitsreisen in Antike und Mittelalter“, mit welchen Mitteln von Jenseitsreisen erzählt werden kann.

Benz definiert die Jenseitsreise wie folgt: „Eine Figur […] verlässt freiwillig oder unfreiwillig diese Welt und bewegt sich in Ekstase oder ‚in corpore‘ durch das zuallererst räumlich organisierte Jenseits, durch das er zumindest teilweise von einem Engel geführt wird. Dieser Engel deutet dem Jenseitsreisenden, was er wahrnimmt, und das heißt vor allem: was er sieht, damit er all dies nach seiner Rückkehr im Diesseits erzählen kann.“ Wichtiger Blickpunkt dieser Arbeit ist die Erzählung von Räumen, um genauer zu sein: von jenseitigen Räumen. In Anknüpfung daran entwickelt Benz eine Gattungsgeschichte der Jenseitserzählungen, die er allerdings nicht als solche bezeichnet. Jedoch wird realer Raum anders wahrgenommen als ein Raum, von dem man liest. Maximilian Benz arbeitet zwei grundlegende Erzählverfahren heraus, die dieses Problem überwinden können. Dies geschieht „[u]nter Zuhilfenahme neuerer raumnarratologischer ebenso wie kultur- und sprachwissenschaftlicher Untersuchungen“. Ausgehend von frühjüdischen Texten arbeitet sich der Autor zu mittelalterlichen Texten vor. Er spannt damit einen Bogen, der die Entwicklung von Jenseitserzählungen verdeutlichen soll, und stützt sich auf vorhandene Einzelstudien (unter anderem auch auf Ergebnisse der Theologin Martha Himmelfarb). Die Textauswahl speziell der mittelalterlichen Texte wird nicht genauer begründet, wodurch die Quellenlage unklar bleibt. Hat Benz alle Textstellen behandelt, die solche Reisen erzählen, oder trifft er eine Auswahl? Es ist nicht nachvollziehbar, warum die Textauswahl nur bis 1150 reicht und beispielsweise nicht Dantes Reise umfasst, die Benz selbst als Einstieg benutzt.

Der Apostel Paulus verzichtet in seinem Brief an die Korinther aus gutem Grund auf die genaue Beschreibung seiner Entrückungserfahrung. Aber gerade die Beschaffenheit des Jenseits weckt größtes Interesse. So stößt Paulus die Faszination für Jenseitsreisen ungewollt an und die entsprechende Stelle im 2. Korintherbrief ist Ausgangspunkt für Apokalypsen, die dann auch die verlangte Beschreibung des jenseitig Erfahrenen liefern. Benz berücksichtigt dabei die Legitimationsstrategien, mit denen die Autoren die Verlässlichkeit und Berechtigung ihrer Texte bezeugen, sowie Überlieferungssituationen. Hier, wie in der gesamten Arbeit, zitiert Benz zunächst einmal in der Originalsprache und dann in Übersetzung. Zentrale Begriffe gibt er auf Altgriechisch im Text wieder, ohne sie zu übersetzen oder zu erläutern.

Die frühjüdischen und urchristlichen Texte („Bilderreden“, „Zweites Henochbuch“, „Testament Abrahams“, „anonyme Apokalypse“) werden verschieden rezipiert, was nach Benz an den gebrauchten Erzählverfahren liegt. Dies nimmt er als Anlass zwei zentrale Erzählstrategien am frühjüdischen „Buch der Wächter“ zu erarbeiten. Benz’ Argumentation und seine Analyse sind nachvollziehbar und verständlich, sodass sie zunächst auch ohne den Blickpunkt auf Jenseitsreisen einen guten Abriss zu Erzählverfahren von Räumen bieten können und der Transfer auf die konkreten Textstellen wird klar. Der bereiste Jenseitsraum kann mit der Strategie der erzählten Bewegung und/oder des demonstrativen Dialogs erzählt werden. Beide unterstützen die Imagination des Lesers und lassen nach und nach ein Bild des Beschriebenen entstehen. Die folgenden Unterkapitel untersuchen nun die Texte daraufhin, wie sie die Erzählstrategien anwenden und ob sie noch weiteren paganen Einflüssen unterlagen (wie Benz es zum Beispiel bei der „Petrus-Apokalypse“ feststellt). Dass Benz von Hause aus Philologe ist, wird auch in diesen Kapiteln deutlich, wenn er detaillierten Bezug auf die Überlieferungsgeschichte der Texte und deren Herkunft nimmt, womit er hohe Ansprüche an den Leser stellt. Benz gebraucht bis hierher oft den Begriff „Tradition“, den er allerdings nicht eigens definiert, weshalb er unscharf bleibt.

Im vierten Kapitel untersucht Benz frühmittelalterliche Texte hinsichtlich der Verwendung von Erzählstrategien. In diesen Texten zeigt sich erstmals ein „engerer Gattungszusammenhang“. Die Jenseitsreise wird nicht en passant beschrieben, sondern wird zentrales Thema. „Diese Transformationskette bereitet die Untersuchung der Visio Tnugdali und des Tractatus de Purgatorio S. Patricii vor“. Beide Jenseitserzählungen werden kontrastiert, da letztere von dem nun bekannten Erzählmuster abweicht und eine neue Erzählweise aufweist. Da der „Tractatus“ eng mit den Stoffen der Patrickslegende verknüpft ist, geht Benz genauer auf diese Verschränkungen und deren Bedeutung ein. Dieser Exkurs ist zwar für das Verstehen des Textes notwendig, aber Benz scheint den narratologischen Zugriff auf die Texte an dieser Stelle aus dem Blick zu verlieren. Er widmet sich den Texten eher unter kulturwissenschaftlichem Blickpunkt. Hinzu kommt, dass der Aufwand, den seine detaillierte Schilderung darstellt, unverhältnismäßig zu dem dadurch erzielten Erkenntnisgewinn erscheint. Im Anschluss findet eine Beschäftigung mit den „Visiones Georgii“ ihren Platz. Dieses Kapitel zeigt, dass Jenseitserzählungen im 12. Jahrhundert beginnen, ihre eigene Medialität zu reflektieren.

Den Abschluss bildet die „Visio Thurkilli“, denn sie bezieht sich auf die ihr vorausgegangenen Texte und verbindet viele der Aspekte. Durch ihre komischen Elemente spielt sie mit der Gattung der Jenseitserzählung. Diese Erzählung stellt zwar eine Art Knotenpunkt der behandelten Texte und Strategien dar, macht aber eine Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse, die vom konkreten Text getrennt ist, nicht überflüssig. Dies wäre nötig gewesen, da die Untersuchung so komplex und detailliert ist. Es besteht deshalb die Gefahr, dass zentrale Thesen, die Benz erarbeitet, sich im Detail verlieren, was eine prägnante Zusammenfassung hätte verhindern können.

Benz verdeutlicht, aus welchem Anlass Jenseitserzählungen entstehen und in das Interesse der Menschen rücken, zudem zeigt er die Kontinuität der Erzählstrategie auf, auch wenn sich die genauen Vorstellungen des Jenseitsraumes verändern können. Leider tritt die Erzählstrategieanalyse in den jüngeren Texten etwas in den Hintergrund. Alles in allem bearbeitet Benz vor allem durch die Abgeschiedenheit von üblichen Erzählgegenständen ein spannendes Thema – sowohl was die Genese der Vorstellungstypen des Jenseits betrifft, als auch ihre literarische Repräsentation. Seine Vorgehensweise ist stringent und mit Hilfe der ausgewählten Zitate gelingt es dem Leser die Analyseergebnisse nachzuvollziehen. Die Ansprüche, die Maximilian Benz an sein Lesepublikum stellt, sind hoch und er verlangt dem Leser mit dieser detail- und hintergrundreichen Arbeit viel ab.

Titelbild

Maximilian Benz: Gesicht und Schrift. Die Erzählung von Jenseitsreisen in Antike und Mittelalter.
De Gruyter, Berlin 2013.
307 Seiten, 89,95 EUR.
ISBN-13: 9783110309324

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