Polarnacht von eisiger Finsternis und Härte

Max Webers Große Erzählung von der universalen Rationalisierung und seine sich verdüsternden Visionen der Moderne – Zum 150. Geburtstag des deutschen Gelehrten

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Sucht man nach dem dominanten Stichwort, das mit dem Namen des vor 150 Jahren geborenen deutschen Gelehrten Max Weber assoziiert ist, dann kommt nur eines in Frage: „Rationalisierung“. Max Weber gilt als Schöpfer einer „Theorie der Rationalisierung“. Diese ihm zugeschriebene „Theorie“ gehört zu jenem Reservoir „Großer Erzählungen“, die die Disziplin Soziologie während ihrer bisherigen, etwa 150 Jahre langen Geschichte dem Selbstverständnis der Menschheit vermacht hat. Die Konturen dieser Großen Erzählung und Max Webers Vision der Moderne können hier nur angedeutet werden. Webers Konzept der zunächst west- und nordeuropäischen, dann transatlantischen und dann universalen „Rationalisierung“ stand allerdings keineswegs als Leitthema über dem größten Teil seines Werkes. In fünf Schritten möchte ich dies zu zeigen versuchen.

1. Wer vom Kapitalismus nicht reden will, der soll von Max Webers „Theorie der Rationalisierung“ schweigen

Um den äußeren und inneren Weg des heutigen soziologischen Klassikers Max Weber zu verstehen, muss man ihn sowohl biographisch als auch werkgeschichtlich in den großen Figurationszusammenhang der kapitalistischen Weltwirtschaft im Verlauf des 19. Jahrhunderts einbetten. Diese Figuration war die Schöpfung eben jener kosmopolitischen Bourgeoisie, der Max Weber selbst angehörte.

Max Weber wurde am 21. April 1864 im damals preußischen Erfurt in die vermeintlich heile Welt der großbürgerlichen Gesellschaftsschicht Deutschlands geboren, in eine Welt des ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und technologischen Aufstiegs. Mit der Kombination aus erheblichem materiellen Reichtum, gediegener abendländischer Bildung und kosmopolitischen gesellschaftlichen Beziehungen konnte Max Weber es schwerlich besser getroffen haben. Eingebettet in ein weit verzweigtes familiales Umfeld, entstammte der Erstgeborene einer der reichsten deutsch-englischen Kaufmannseliten des 19. Jahrhunderts. Sein Großvater väterlicherseits war ein weitdenkender Textilunternehmer mit internationalen Handelsbeziehungen. Sein Großvater mütterlicherseits wuchs in einer der erfolgreichsten deutsch-englischen Handelsfamilien aus Frankfurt am Main auf. Sein Vater gehörte als langjähriger Abgeordneter der Nationalliberalen Partei im Preußischen Abgeordnetenhaus und als langjähriges Mitglied des Deutschen Reichstags zu den erfolgreicheren Berufspolitikern des Wilhelminischen Deutschland. Seine Mutter hätte als Dame der guten europäischen Gesellschaft und als vermögende Erbin mit großem Selbstbewusstsein auftreten können – falls sie sich das erlaubt hätte.

Ungeachtet vielfältiger familialer Verflechtungen in die kosmopolitische europäische Bourgeoisie prägte sich der Habitus Max Webers nach den Vorgaben des sozialen Feldes des Berliner Großbürgertums um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Sich selbst scharfsichtig als „bürgerlichen Gelehrten“ analysierend, wusste Weber sehr genau um seine Verortung im System der Lebensstile mit ihren spezifischen Denk-, Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata: „Ich bin ein Mitglied der bürgerlichen Klassen, fühle mich als solches und bin erzogen in ihren Anschauungen und Idealen.“

Liefert der umfassende gesellschaftliche Kontext der kapitalistisch werdenden Gesellschaft des Deutschen Reiches seit dessen Gründung 1871 den biographischen Lebensraum, in dem der Erstgeborene geprägt wird, so bildet die wissenschaftliche Auseinandersetzung Max Webers mit den Folgen des Kapitalismus das durchgehende Leitmotiv seines Universitätsstudiums und der folgenden Phasen von Promotion (1889), Habilitation und Privatdozentur (1892) und der lückenlos anschließenden ersten Professur (1893).

Sich zu Beginn des Wilhelminischen Kaiserreichs wissenschaftlich mit den Auswirkungen des Kapitalismus auseinanderzusetzen, war für einen Studenten der Staatswissenschaften nicht sonderlich originell. Der Kapitalismus war die prägende Erscheinungsform des sich industrialisierenden Wilhelminischen Deutschlands in jener „Gründerzeit“, an der Webers unmittelbare männliche Vorfahren erheblichen Anteil hatten und gegen dessen Verwerfungen in Form der „Sozialen Frage“ seine weiblichen Vorfahren ihr philanthropisch linderndes Werk zu verrichten suchten.

2. Wer vom Protestantismus nicht reden will, der soll vom Kapitalismus schweigen

Nach einer längeren Krankheitsphase, die etwa von 1897 bis 1904 dauerte, nahm Max Weber seine wissenschaftliche Arbeit wieder auf, anfänglich während längerer Aufenthalte im von ihm so sehr geliebten Italien. Angestoßen durch die lebensweltliche Erfahrung des italienischen Katholizismus und durch die Wiederaufnahme systematischer wissenschaftlicher Lektüre, beschäftigte ihn zunehmend die Frage nach Geschichte, Verfassung und Wirtschaft der christlichen Klöster.

Im Oktober 1903, mit 39 Jahren also, scheidet Max Weber aus Gesundheitsgründen endgültig aus dem universitären Lehramt: Er wird Heidelberger Honorarprofessor mit Lehrauftrag ohne Promotionsrecht und ohne Mitspracherecht in seiner Fakultät. Fast bis zu seinem Lebensende lebt er als freischaffender Privatgelehrter, der seinen materiellen Unterhalt vor allem aus den Kapitalerträgen seiner Mutter und seiner Ehefrau bestreitet. Befreit von den ihn immer bedrückenden Amtspflichten des Lehrens und der Mitwirkung an der universitären Selbstverwaltung, konzentriert er sich nun ganz auf seine wissenschaftlichen Arbeiten.

In dieser Phase, in der sich Weber immer vehementer der Frage nach den Ursprüngen des Kapitalismus zuwendet, nachdem er sich jahrelang mit dessen Folgen auseinandersetzte, betrachtet er sein eigenes Forschen nicht als prinzipielle Alternative oder gar als Gegenentwurf zur auch für ihn wichtigen Großen Erzählung von Karl Marx, nämlich jener vom ultimativen Sieg des „Proletariats“ und der notwendigen Etablierung der „klassenlosen Gesellschaft“. Weber geht es um eine ergänzende Korrektur sowohl der zu seiner Zeit dominierenden „materialistischen“ Erklärungen als auch der ausschließlich historistischen Erklärungen der Ursprünge des Kapitalismus. Akzentuiert richtet sich Webers Fragestellung auf die ideellen Grundlagen der kapitalistischen Organisation der ökonomischen und gesellschaftlichen Ordnung.

Gerade bei den Weberschen Studien zur Kulturbedeutung des Protestantismus und insbesondere dessen Bedeutung für die Gestaltung jener Wirtschaftsethik, die Weber als „Geist des Kapitalismus“ bezeichnete, ist es immer wieder nötig, sich auf den harten soziologischen Kern des Arguments zu besinnen. In den Aufsätzen aus den Jahren 1904 bis 1906, bis heute seine populärsten Schriften, vertritt Weber das komplex hergeleitete und differenziert begründete Argument einer „Wahlverwandtschaft“ zwischen bestimmten Versionen und lebenspraktischen Maximen des Protestantismus und dem okzidentalen, modernen und „rationalen Betriebskapitalismus“. Im ideellen Humus des sektenartig verfassten Protestantismus und des Kalvinismus glaubte Max Weber wesentliche Wurzeln dieses modernen Kapitalismus ausmachen zu können.

Die ersten Fassungen der famosen Aufsätze „Die protestantische Ethik und der ,Geist‘ des Kapitalismus“ (1904/05), in denen Weber der Frage sowohl nach den soziostrukturellen als auch nach den ideellen Ursprüngen des modernen Kapitalismus nachging, waren bereits geschrieben, als Weber sich dem Erlebnis Amerika aussetzte, jener Kultur also, in der der von ihm untersuchte, moderne, rationale Betriebskapitalismus seine bis dahin größte Entfaltung zeigen konnte.

Im Herbst 1904 fährt Max Weber zum „International Congress of Arts and Science“, der anlässlich der Weltausstellung in St. Louis durchgeführt wurde. Zusammen mit seiner Frau Marianne bereist er von August bis November einen erheblichen Teil der USA. Zu den starken Eindrücken, die er auf dieser Fahrt für seine anschließenden Arbeiten gewann, gehörten insbesondere die unmittelbare Begegnung mit diversen protestantischen Sekten, die Wahrnehmung der Organisationen der politischen „Maschine“ und der Stellung des amerikanischen Präsidenten, die direkte Auseinandersetzung mit der US-amerikanischen Frauenbewegung, mit der „Rassenfrage“, mit der Bürokratisierung der privatwirtschaftlichen und staatlichen Bereiche in den USA.

3. Wer vom protestantisch geprägten Kapitalismus nicht reden will, der soll vom Prozess der Rationalisierung schweigen

Ab etwa 1911 wendet sich Max Weber den einflussreichsten außereuropäischen Weltreligionen zu, die er als die bedeutsamsten „Systeme der Lebensreglementierung“ einordnet. Er beginnt diese Studien, um einen Vergleichsmaßstab zu gewinnen für seine These von der entscheidenden Bedeutung der säkularisierten protestantischen Version des christlichen Glaubens für die Formation der ideellen Voraussetzungen des modernen okzidentalen Kapitalismus.

Im Zuge seiner intensiven und jahrelangen Beschäftigung mit den chinesischen Religionen (Konfuzianismus und Taoismus), den indischen Religionen (Hinduismus und Buddhismus) und dem Antiken Judentum verändert sich jedoch Webers ursprüngliche Fragestellung nach Auswirkungen und Ursprüngen des Kapitalismus.

Was Weber selbst als Kontrolluntersuchung anfing – vom Motto geleitet: Wo kein Protestantismus, da kein Kapitalismus? – entwickelte sich zunehmend zur immer weiter ausufernden und letzten Endes unvollendeten Untersuchung der universalhistorischen Prozesse der „Rationalisierung“ aller Lebensbereiche in allen Kulturen. Und das heißt für Weber vor allem die Rationalisierung der menschlichen Lebensführung.

Im Zuge seiner jahrzehntelangen Teilstudien über die Wirkungen und Ursachen des Kapitalismus gelangte Weber allmählich zur Vorstellung einer universalhistorisch wirksamen, übergreifenden Entwicklung: der Rationalisierung. Bei seinen vorangegangenen Untersuchungen über Voraussetzungen und „Kulturbedeutung“ dieser Entwicklung verfolgte Weber deren Manifestationen in allen nur denkbaren Ausschnitten gesellschaftlicher und historischer Wirklichkeit, vor allem in Wirtschaft, Politik, Recht, Religion und Kultur. Rationalisierung, als das „Schicksal unserer Zeit“, war dabei die gemeinsame Formel Webers für jene zahlreichen, und keineswegs immer identischen, Teilprozesse, die er abwechselnd „Bürokratisierung“, „Industrialisierung“, „Intellektualisierung“, „Entwicklung des rationalen Betriebskapitalismus“, „Spezialisierung“, „Versachlichung“, „Methodisierung“, „Disziplinierung“, „Entzauberung“, „Säkularisierung“ oder „Entmenschlichung“ nannte.

Schon die Vielfalt dieser Bezeichnungen macht deutlich, dass Weber höchst heterogene Phänomene aus sehr divergenten Perspektiven unter die von ihm gewählte Kategorie „Rationalisierung“ zu ordnen suchte. Deswegen erscheint es als wenig sinnvoll, „das“ Konzept „der“ Rationalisierung bei Max Weber zu formulieren. Mit Ausnahme der berühmten „Vorbemerkung“ (1920) zum ersten Band der „Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie“ gibt es keinen Text Webers, in dem er selbst etwas Derartiges systematisch zu fassen suchte, und auch in diesem sind nur einige der zentralen Themen angesprochen.

Auf der allgemeinsten Ebene heißt „Rationalisierung“ für und bei Weber immer erst einmal Ordnung, Systematisierung. Eine unübersichtliche, chaotische Gruppe von Einheiten mit prinzipiell unendlich vielen Verbindungen untereinander wird geordnet nach Kriterien, die von Menschen gesetzt werden. Das Ergebnis solchen systematischen Ordnens führt zu jenen Prozessen, die Weber „Rationalisierung“ nennt.

Im Laufe seiner zahlreichen Studien und Entwürfe wurde Max Weber zunehmend mehr davon überzeugt, dass dieser von ihm so genannte historische Prozess der „Rationalisierung“, als der eines systematischen Ordnens, einer sei, der aufs Ganze gesehen universal und unaufhaltsam sei.

Entworfen hatte er die Hypothese der „Rationalisierung“ zuerst für Zusammenhänge, die ihm als eher geeignet für Ansätze von Systematisierung und Ordnung erschienen, so vor allem für die Bereiche der Wirtschaft, des Rechts, der Technik, der Wissenschaft, der staatlichen Ordnung, das heißt – wie er das nannte – für die „äußere Organisation der Welt“. Bei der Ausarbeitung seiner These von der Rationalisierung für eben diese Lebensbereiche befasste sich Weber vor allem mit drei Fragestellungen, die im Wesentlichen immer gleichartig blieben:

1) Warum hat nur das „Abendland“, der „Okzident“, eine spezifisch „rationale“ Kultur von universalhistorischer Tragweite entwickelt? Warum gab es einen ähnlichen Rationalisierungsprozess nicht auch im außereuropäischen Raum, besonders in Asien, wo doch weitaus ältere und differenziertere Kulturen als im Okzident existierten?

2) Warum entstanden gerade und nur im neuzeitlichen Westeuropa eine „rationale“ Wissenschaft und Technik, ein „rationaler“ Betriebskapitalismus, eine „rational“-bürokratische Organisation des Staates?

3) Welche Vorteile für die jeweilige Gesellschaft und einzelne Gruppen in ihr brachte diese „Rationalisierung“, und welcher Preis wurde von der Gesellschaft, von sozialen Gruppen, und vom einzelnen Individuum für diese Entwicklung gefordert und gezahlt?

In einem parallelen Forschungsschritt wandte Max Weber sich zunehmend intensiv auch – und gerade – jenen Bereichen zu, die üblicherweise als eher „irrational“ eingeordnet werden – wie Religion, Ethik, Kunst, Kultur, Sexualität. Es sind dies jene Bereiche, die die „innere Organisation der Welt“ regeln. Diese Ausschnitte menschlicher, sozialer und historischer Wirklichkeit galten – und gelten – als sichere Domänen der überraschenden Ideen, des spontanen Einfalls, der übernatürlichen Wirkkräfte, des Geheimnisvollen, Unerklärlichen – kurz: des Irrationalen, Ungeordneten, Chaotischen.

Aber es passierte wiederum: Auch hier sieht und konstatiert Weber überall sozio-kulturell vermittelte Ordnungsvorgänge, die er unter „Rationalisierung“ fasst:

1) Er untersucht die spezifische „Rationalität“ der abendländischen Musik, deren Notensystem, Harmonielehre, Instrumententechnik ihm den Beweis zu bieten scheinen für die allmähliche Auflösung mystischer und „irrationaler“ Qualitäten in der Kunst bzw. der Kunstausübung und deren allmähliche Ersetzung durch „rationale“ Muster.

2) Er untersucht die unterschiedlichsten Religionen, Sekten und Heilsüberzeugungen quer durch die Zeiten und die Kulturgebiete und glaubt überall die vermeintlich eindeutigen Zeichen einer zunehmenden „Rationalisierung“ der magischen Zauberei bis hin zu systematisch‑rationalen Theologien und Kirchen festzustellen. Rationalisierung meint dabei für Weber sowohl die Inhalte (= Theologien) als auch der Organisation, beispielsweise der Entwicklung von Sekten zu Kirchen.

3) Er untersucht sogar die historische Entwicklung des sexuellen Verhaltens der Menschen. Selbst die Sexualität – als vermeintlich individuelle, chaotische, animalische Triebfeder menschlichen Handelns – sieht er der gesellschaftlich bedingten Rationalisierung unterworfen. Die allmähliche Ausrottung aller orgiastischen Fruchtbarkeits-Kulte durch die Priesterschaft in allen Weltreligionen und die systematisch-rationale Kanalisierung von Sexualität sind dafür symptomatisch. Die Entwicklung führt von der chaotischen Orgie, der Ekstase, dem Chaos zur „ordentlichen“ Sexualität in festen Partnerschaften einer Ehe, einer „eheähnlichen Beziehung“, einer „festen Beziehung“ oder eines „Verhältnisses“. Unabhängig davon, ob nun monogam, polygam, matriarchalisch oder patriarchalisch: Ordnung muss sein.

Wohin Max Weber auch griff, überall sah er also die unwiderlegbaren Indizien des einen großen welthistorischen Prozesses der Rationalisierung.

Dabei hat Weber jedoch die von ihm konstatierten und untersuchten Prozesse des Vordringens der Rationalisierung nicht als unilinear, gesetzmäßig ablaufende Entwicklungen dargestellt. Sowohl seine wiederholten Feststellungen, dass historische Wirklichkeit sich nur als Mischungsverhältnis idealtypischer Konstruktionen analytisch beschreiben lässt, als auch die immer wiederkehrende Betonung von auch gegenläufigen Entwicklungen sollten genügen, aus Weber keinen Propagandisten blinder Fortschrittseuphorie zu machen. Eine „Modernisierungstheorie“ im Sinne einer „Evolutionstheorie“, nach der sich die Welt- oder zumindest doch die Menschheitsgeschichte als steter Aufstieg zur Vollkommenheit rationaler Weltbeherrschung darstellen würde, wäre ein groteskes Missverständnis des Weberschen Gesamtwerks. Gerade das Unglaubliche, „Zufällige“ an jenem Prozess, den er „Rationalisierung“ nannte, und zugleich dessen konstante Unterbrechung durch „nicht-rationale“ Entwicklungen waren es, was Weber zeit seines Lebens faszinierte und ihn die Fragestellungen auf immer neue Gebiete anwenden ließen.

Jemand wie Max Weber, der die angeführte Frage nach den „Kosten“ dieser vielfältigen Rationalisierungs-Prozesse unerbittlich stellt, ist mit seinen nüchtern skeptisch-pessimistischen Antworten darauf niemand, der die von ihm untersuchte „Rationalisierung“ aller menschlichen Lebensbereiche als ungeheuer positiv und erstrebenswert schildert, um so eine Apologie des bürgerlichen Zeitalters zu liefern. Webers tiefe Skepsis und seine massiven Befürchtungen vor den „Irrationalitäten“ – im Sinne von „Unvernunft“ und „Unmenschlichkeit“ – der von ihm untersuchten „Rationalisierungsprozesse“, die neben der Effektivitätssteigerung auch eine weitreichende „Entmenschlichung“ mit sich bringen, machen Max Weber über den Vorwurf erhaben, zum Apologeten derartiger Entwicklungen geworden zu sein. Wer selber unablässig die „irrationalen“ Motive und Auswirkungen der von ihm untersuchten – und teilweise ja erst von ihm entdeckten – „Rationalisierung“ betont und vor deren potentieller „Unmenschlichkeit“ warnt, der kann redlicherweise nicht als blinder Anbeter einer angeblich schicksalhaft ablaufenden „Rationalisierungs“-Mechanik denunziert werden.

4. Wer von der Entmenschlichung durch die Bürokratie nicht reden will, der soll vom Prozess der Rationalisierung schweigen

Jemand wie Max Weber, der die Frage nach den „Kosten“ der von ihm rekonstruierten Rationalisierungs-Prozesse stellt und sie skeptisch-pessimistisch beantwortet, kann die von ihm untersuchte „Rationalisierung“ aller menschlichen Lebensbereiche nicht als gute Entwicklung schildern. Seine tiefe Skepsis und seine Befürchtungen gegenüber den „Irrationalitäten“ der von ihm wahrgenommenen Prozesse ließen ihn gleichermaßen scharfsichtig sowohl die Effektivitätssteigerung erkennen als auch deren weitreichende „Entmenschlichung“, „Versachlichung“, „Verunpersönlichung“, „Entseelung“.

Es war Max Webers eminente Angst, ob es angesichts des unaufhaltsamen Vormarsches von Kapitalismus und Bürokratisierung „überhaupt noch möglich [ist], irgend welche Reste einer in irgendeinem Sinn ‚individualistische’ Bewegungsfreiheit zu retten“ und „Demokratie“ in der Zukunft zu erhalten. Darin artikulierte sich Webers skeptizistische Sorge sowohl um den Zustand der Kultur im Allgemeinen als auch um die Chancen der Lebensführung freier Menschen.

5. Kulturkritik und Zeitdiagnose

Die Große Erzählung Max Webers von der universalen „Rationalisierung“ aller Lebensbereiche der Menschheit war und ist es letzten Endes, die ihm einen der überragenden Diagnostiker der Moderne gemacht hat. Sie stand nicht als ihm selbst bewusstes Leitthema über dem größten Teil seines Werkes. Und erst gegen Ende seines Lebens und mit dem abrupten Ende seines wissenschaftlichen Schaffens entwickelte sich bei ihm der eminent düstere Blick in die Zukunft. Seine Große Erzählung handelt von der Geschichte einer apokalyptischen Ironie der unbeabsichtigten Nebenfolgen. Die radikalisierten Protestanten des 16. und 17. Jahrhunderts, auf der Suche nach diesseitigen Zeichen ihrer Erlösung von der ewigen Verdammnis, schufen mit an einem Kosmos von Glaubensinhalten und Verhaltensweisen, die ganz allmählich die Gehäuse der Hörigkeit und Unfreiheit des Menschengeschlechts auf dem ganzen Globus errichteten.

Vor allem ab jenem Zeitpunkt, zu dem auch noch die letzten Reste der ursprünglichen Religiosität aus den so entstandenen Institutionen und den sie tragenden Menschen entwichen waren, zeigte der „moderne“, „rationale“, „bürgerliche“ Betriebskapitalismus des 19. Jahrhunderts und der Wende zum 20. Jahrhundert seine immer grässlichere Fratze. Die untrennbare Verbindung dieses Systems der kapitalistischen Ordnung des Wirtschaftslebens mit den überall entstehenden Maschinen der bürokratischen Ordnung in allen Lebensbereichen bewirkte die Bedrohung der individuellen Freiheit aller Menschen, wenn nicht deren ultimative Zerstörung.

Am Beginn des 21. Jahrhunderts hat diese düstere Erzählung des deutschen Gelehrten Max Weber, der sie beim Übergang des 19. in das 20. Jahrhundert nur sehr allmählich und seiner eigenen Vision bis ans Ende misstrauend komponierte, eine suggestive Erklärungskraft bekommen, durch die sie allen anderen mit ihr konkurrierenden Erzählungen überlegen zu sein scheint.

Max Weber starb im Bewusstsein, dass nicht „das Blühen des Sommers“ vor den ihm nachfolgenden Generationen liege, sondern „eine Polarnacht von eisiger Finsternis und Härte“. Die von Menschen selbst gemachte Geschichte wird zeigen, ob sich die düsteren Schreckensbilder des Max Weber am Ende des 21. Jahrhunderts bewahrheitet haben oder nicht.