Gegen die Wand fahren und verrückt spielen

Moritz Baßler legt einen beeindruckenden Sammelband über Realismus und Moderne vor

Von Sascha MichelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Michel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wieso sind eigentlich fast alle erfolgreichen, vom Literaturbetrieb gefeierten Romane der Gegenwart realistisch erzählt? Schließlich hatte der Sturmlauf der literarischen Moderne gegen das realistische Erzählen ja nicht nur gute Gründe, sondern auch tolle Alternativen zu bieten. Und die alte strukturalistische Kritik eines Roland Barthes an den Automatismen und Stereotypen realistischer Texte hat ja nicht nur nichts von ihrer Beschreibungskraft verloren, sondern ist angesichts dessen, was ein Autor wie James Wood „kommerziellen Realismus“ nennt, aktueller denn je.

Wer sich wie der Münsteraner Literaturwissenschaftler Moritz Baßler für die unverständliche Kurzprosa der emphatischen Moderne begeistern kann, wer wie er die Popliteratur der 1990er-Jahre als Ausweg aus Hochmoderne und Realismus zugleich versteht und bei seiner eigenen philologischen Arbeit Semiotik für keine beliebige Methode, sondern für eine unhintergehbare Errungenschaft der Moderne hält, für den ist die Erfolgsgeschichte des Realismus alles andere als selbstverständlich. Gerade deshalb aber ist Baßler wie kaum ein anderer in der Lage, sich diesen Realismus noch einmal genauer anzuschauen und die bis heute beliebte Epoche des Poetischen Realismus angenehm nüchtern im Rahmen einer Geschichte von Textverfahren zu untersuchen. In einzelnen Aufsätzen hat er dies bereits getan, nun liegt ein von ihm herausgegebener Sammelband zum Thema Realismus und Moderne vor, der mit seinem etwas spröden Titel „Entsagung und Routines“ exakt benennt, was er zur Diskussion stellt.

Zwei zentrale Thesen sind es, die dem Band zugrundeliegen. Die erste These lautet, dass der Poetische Realismus immer wieder auf Figurationen der Entsagung zurückgreift, weil er aufgrund einer ihm eigenen strukturellen Aporie ein fundamentales Problem mit seinen Erzählschlüssen hat. Diese Aporie basiert auf der merkwürdigen, in vielen Programmschriften des 19. Jahrhunderts nachzulesenden Verquickung von Idealismus und Realismus. Sie besteht darin, dass realistische Erzähltexte semiotisch Unvereinbares zu leisten versuchen: Auf der einen Seite (der syntagmatisch-metonymischen Achse) wollen sie realistische Details plausibel verknüpfen; auf der anderen Seite (der paradigmatisch-metaphorischen Achse) wollen sie diese Arbeit am Detailrealismus und am lebensweltlich plausiblen Plotting mit einem übergeordneten Metacode verbinden, der für den Sinn des Ganzen und die nötige poetische „Verklärung“ sorgen soll.

Die Folge ist für Baßler, der damit an die großen textsemiotischen Studien von Hans Vilmar Geppert und Claus-Michael Ort anknüpft, eine endlose Kippbewegung: Gegen das drohende Übergewicht des Realistischen muss immer wieder neu aus irgendwelchen Metacodes gewonnener Sinn in den Text gepumpt werden; umgekehrt muss der Text immer wieder auf die metonymische Achse der Realismusproduktion kippen, wenn die metaphorischen Sinnaufladungen allzu allegorisch und künstlich, also unrealistisch, zu werden drohen.

Da diese permanente (und von den Erzähltexten selbst bereits meta-semiotisch reflektierte) Kippbewegung keine narrative Schließung erlaubt, haben die Erzähltexte des Poetischen Realismus ein Problem mit ihrem Ende. „Entsagung“, so Baßlers These, ist die favorisierte Lösung dieses Problems. Denn die Entsagung – etwa in Gestalt des am Ende zum Amtmann resignierten Grünen Heinrich in der zweiten Fassung von Kellers Roman – „ermöglicht, das Modell auf der metonymischen Achse zu belassen und also am Ende einen ,realistischen‛, lebbaren Zustand herzustellen, der gleichwohl auf der metaphorischen Achse als defizitär markiert bleibt und also weiterhin auf den abwesenden Metacode hinweist.“

Eine schönere, weil zu akribischer Lektüre und Widerspruch einladende These kann man sich kaum wünschen. Und genau das passiert in diesem vorzüglichen Sammelband. Christian Rakow (Berlin) zum Beispiel macht nicht nur auf die in der neueren Raabe-Forschung herausgestellte Reflexivität im Umgang mit der genannten Kippfigur aufmerksam, die bei Raabe an den heiklen metaphorischen Stellen zu einer kalkuliert-distanzierenden Rahmung und „Marottisierung“ führt. Vielmehr erinnert er auch mal wieder daran, dass bei einem bisweilen fast schon modern anmutenden Erzähler wie Raabe angesichts des nie aufgegebenen Verklärungsanspruchs schlichtweg auch Kitsch entsteht und nicht zufällig jene „Sauce“ auktorialer Sinnaufladungen über den Text gegossen wird, auf die Richard Brinkmann bereits 1957 in seiner zentralen Studie über „Illusion und Wirklichkeit“ hingewiesen hat.

Ein anderes Problem ist die Fantastik im Realismus. Einerseits ist der Einsatz fantastischer Elemente wie Gespenster, Teufelsfiguren, Vorahnungen etc. kein Zufall angesichts der programmatischen Vorgabe, die Prosa der Verhältnisse immer wieder poetisch zu transzendieren. Andererseits darf das natürlich nicht zu weit gehen, da sonst der Realismus in unplausible, verwirrende Romantik kippt. Mit welchen erzählerischen Mitteln das Fantastische eingesetzt und zugleich gebannt wird, zeigt Julia Neu (Münster) in ihrem Beitrag.

Vor allem aber lenkt die Entsagungsthese den Blick natürlich auf die Erzählschlüsse. Durch den gesamten Band werden zahlreiche, zum Teil (wie im Fall von Otto Ludwigs „Zwischen Himmel und Erde“) wiederkehrende Belege für Baßlers These vor Augen geführt. Fast noch interessanter sind aber die seltenen Fälle eines Happy Ends. Michael Tetzlaff (Münster) etwa geht eine faszinierende Reihe von Beispielen durch, die eine glückliche Schließung suggerieren, die aber dennoch, so Tetzlaffs These, Entsagung verhandeln und variieren, indem sie die Entsagung auslagern, von Stellvertretern ableisten lassen oder zu einer symptomatisch hohen Sterberate bei den Nebenfiguren führen.

Baßlers zweite These bezieht sich auf die beginnende Moderne um 1900 und den Übergang zwischen Realismus und Moderne. Den „point of departure“ vom Poetischen Realismus sieht Baßler in dem, was er mit Bezug auf William S. Burroughs’ Roman „Queer“ als „Routine“ bezeichnet. Eine Routine ist ein idiosynkratischer Diskurs, der nach bestimmten, selbst gesetzten Spielregeln funktioniert. Mit dem Realismus verbindet ihn auf den ersten Blick die Figur des Sonderlings, deren Psychologie er zu folgen scheint. Im Unterschied aber zum Realismus ist dieser Diskurs mit seinen personal erzählten Idiosynkrasien komplett partikular und erlaubt die radikale Öffnung für Rand- und Grenzgänger. Statt eines übergreifenden Metacodes gibt es nur noch einen einzigen Code unter möglichen anderen, der den gesamten Text bestimmt. Zu denken wäre etwa an den inneren Monolog von Arthur Schnitzlers „Leutnant Gustl“ oder an die zahlreichen Irren-Reden der frühen Moderne. Was die Routine darüber hinaus vom Realismus unterscheidet, ist die größere „Spürbarkeit der Zeichen“ (Roman Jakobson): Selbst naturalistische Routines mit ihrer idiomatischen wörtlichen Rede und ihrem zeitdeckend-protokollierenden Erzählen machen die Anführungszeichen ihrer idiosynkratischen Rhetorik deutlich und markieren so ihre eigene Künstlichkeit.

Dass Detailrealismus nicht nur in verklärungsunfähigen Naturalismus, sondern auch in Künstlichkeit kippen kann, wusste schon die realistische Literaturkritik. Katharina Grätz (Freiburg/Br.) zeigt an Adalbert Stifter, wie das Interesse am gegenständlichen Detail in eine modern anmutende Entreferentialisierung und Artifizialität führen kann. Da es bei Stifter aber immer noch den Wunsch nach einem Metacode gibt, wird aus dem artifizellen Realismus bei Stifter noch keine moderne Routine. Ebensowenig machen die Rahmungen und das spätrealistische Reflexivwerden der eigenen Aporien aus einem Autor wie Raabe gleich einen modernen Erzähler. Metadiegese, Selbstreflexion, interne Fokalisierung, Spürbarkeit der Zeichen – alles das sind keine hinreichenden Kriterien für Modernität. „Kein deutschsprachiger Realist von Rang“, so Baßlers unmissverständlicher Befund, „läuft zur Moderne über, vielmehr halten sie an ihrem Modell fest, um es bis zu ihrem Lebensende immer wieder neu und ungebremst gegen die Wand zu fahren.“

Immerhin – dieses ungebremste Gegen-die-Wand-Fahren hat nichts mit jener Provinzialität und Harmlosigkeit zu tun, die man dem deutschsprachigen Realismus im Unterschied etwa zum französischen immer wieder vorgeworfen hat. Auch Heinz Drügh (Frankfurt/M.) legt in seiner Lektüre von Fontanes „Frau Jenny Treibel“ beachtliche semiotische Spannungen frei, die zumindest innerhalb der Figurenrede mit einer gegen die idealistischen Metacodes gerichteten, gleichsam materialistischen Flut des Ephemeren einhergehen. Erst in einem Roman wie Heinrich Manns „Im Schlaraffenland“ fluten die Details und Nuancen auch die Erzähler-Rede. Und ausgerechnet im Naturalismus führt das hypertrophe Protokollieren und Beschreiben zu einer modernen Entreferentialisierung. Diese Modernität stellt aber, so Ingo Stöckmann (Bonn), für den aufs Ganze der Gesellschaft zielenden Naturalismus eigentlich eine Selbstverfehlung dar, das Partikulare und Künstliche der naturalistischen Routine folgt so gesehen keinem vorgegebenen poetologischen Kalkül.

Anders sieht es bei einem Autor wie Herman Bang aus, bei dem, so Robert Matthias Erdbeer (Münster), das semiotische Kippspiel des Realismus in den Sog der Avantgarde gerät. Entsagung wird dabei zur bewusst zitierten Spielregel und der nicht mehr realistisch lesbare Text zu einer Routine, die ihr kalkuliertes Spiel mit den Versatzstücken und Strukturzitaten des Realismus bis zum Klamauk treibt. Auch bei dem zu Unrecht vergessenen Autor Richard Dehmel wird die Schwelle zur modernen Routine vielfach überschritten, wie Melanie Horn (Münster) in ihrem Beitrag zeigt. Wie bei Bang nimmt die Routine ihren Ausgang von der Imitation und Modulation bestimmter Versatzstücke des realistischen Erzählparadigmas und mündet in Texte, die über die Aporien des Spätrealismus hinaus buchstäblich verrückt spielen. Spürbarkeit der Zeichen heißt dabei deutlich markierte Parodie und ein über sprachliche Similaritätsbeziehungen funktionierender Automatismus, der die Wahl von Bildern und Zeichen regelt.

Neben der brillanten Einleitung von Moritz Baßler sind es vor allem diese Lektüren von Herman Bang und Richard Dehmel, die deutlich machen, was mit dem Begriff der Routine in Aussicht steht: die in unterschiedlichste „Ismen“ zersplitterte frühe Moderne trotz aller Spezifik der jeweiligen Texte erstmals auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.

Sowohl der Begriff der Routine als auch Baßlers Entsagungsthese bieten für die Relektüre von Keller bis Fontane, von Arno Holz bis Dehmel oder zum frühen Döblin vielfältigste Anregungen. Übers Historische hinaus aber ist der verfahrensgeschichtlich-semiotische Blick des Bandes auch für das Verständnis der Gegenwart erhellend, weil die Aufmerksamkeit vom vermeintlich realistischen Inhalt und relevanten „Weltgehalt“ zurück auf die Texte selbst gelenkt wird. Wer sich für eine Archäologie der „Wiederkehr des Realismus“ interessiert, wie sie Christa Karpenstein-Eßbach (Karlsruhe) in ihrem Beitrag skizziert, kommt an dieser notwendigen Verschiebung des Blicks nicht vorbei.

Zu fragen wäre etwa, welche aporetischen Formen der „Verklärung“ und „Verwesentlichung“ mehr als 100 Jahre nach dem Ende des Poetischen Realismus auch in heutigen Texten zu beobachten sind. Was zum Beispiel ist mit dem immer wieder neu beschworenen „Weltgehalt“ „großer“ Romane eigentlich gemeint? Wie steht es im frühen 21. Jahrhundert um das semiotische Problempotential, das der gute alte Realismus Claus-Michael Ort (Kiel) zufolge auch noch im 20. Jahrhundert bereitgestellt hat? Haben heutige Romane, wenn sie schon nicht an der Moderne anknüpfen, ein ähnliches meta-semiotisches Reflexionsniveau vorzuweisen wie die Erzähltexte des Spätrealismus? Und was die Routines der frühen Moderne angeht: Wären da nicht vielleicht deshalb interessante Wiederanschlüsse zu finden, weil diese Texte den Erwartungshorizont des Realismus eben noch nicht komplett verlassen und damit womöglich jenem Altern, das auch und gerade die Moderne ereilt, aus heutiger Sicht weniger ausgesetzt sind als die Texte einer längst entzauberten Avantgarde? Nicht zuletzt solche offenen Fragen sind es, die diesen literaturwissenschaftlichen Sammelband übers rein Akademische hinaus erstaunlich aktuell machen.

Titelbild

Moritz Baßler (Hg.): Entsagung und Routines. Aporien des Spätrealismus und Verfahren der frühen Moderne.
De Gruyter, Berlin 2013.
435 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110307535

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