Kontinuität versus Diskontinuität

Manfred Eikelmann und Udo Friedrich haben einen Sammelband zur mittelalterlichen Traditionsbildung herausgegeben

Von Cornelia ReinhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Cornelia Reinhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Obwohl es zweifellos einen großen übergreifenden lateineuropäischen Traditionsstrom gibt, aus dem man schöpft, bleibt das volkssprachliche Traditionsverhalten dagegen oftmals punktuell, experimentell und subversiv. Seine spezifische Qualität erweist sich damit in der Differenz zum offiziellen lateinischen Traditionskurs.“ So beschreibt Eikelmann die Umstände der europäischen Traditionsbildung im Mittelalter und zeigt damit die Probleme auf, die die Erforschung ebendieser mit sich bringt. Innovation und Tradition, Kontinuität und Diskontinuität, Volkssprache und Gelehrtensprache, Überlieferungsträger – diese Themen sind Gegenstand des Sammelbandes „Praktiken europäischer Traditionsbildung im Mittelalter“ und werden nicht nur im allgemeinen Kontext, sondern vor allem an ausgewählten Beispielen erläutert. Viele dieser Beispiele sind Basistexte und allgemein bekannt, somit kann die Kenntnis der Texte vorausgesetzt und die Betrachtung unter dem Gesichtspunkt der Traditionsbildung verständlich erörtert werden.

Der schön gestaltete Band repräsentiert sein Inneres: Namhafte Mediävisten verfolgen in fundierten Beiträgen das Ziel, „wegweisende Grundlagenforschung zum Verständnis von Phänomen der Traditionsbildung [zu leisten] und […] vielfältige Anknüpfungspunkte für weiterführende Forschungen“ zu bieten. Dieses Vorhaben wird in zwei Teilen umgesetzt: 1. Europäische Kontinuitäten, 2. Transformationen europäischer Mythen. Im allgemeinen Vorwort wird darauf hingewiesen, dass die Betrachtung des Mittelalters nur unter dem Wissen über nicht konkret vorhandene (sprachliche und kulturelle) Grenzen geschehen kann: „Europäische Tradition in diesem Sinne orientiert sich nicht mehr an vermeintlich großen Leitideen, sondern an den konkreten kulturellen Austausch- und Transferprozessen, die ihre je eigene europäische Geschichte besitzen.“

Der Band basiert auf Diskussionspunkten des Deutschen Germanistentages 2010 und besticht durch sein gleichwertiges Nebeneinander von etablierten Namen und jungen Mediävisten und schärft den Blick darauf, das Mittelalter nicht aus der romantischen Sicht Novalis’ als einheitlich (christlich) zu betrachten, sondern als heterogen und komplex. Anhand diverser Beispiele wird die Thematik – wie auch im Buchtitel angedeutet – konkret dargestellt. Der Schwerpunkt im ersten Teil ist eine sich herausbildende Tradition des Deutschen, vor allem bezüglich der Sprache und Literatur, aufgrund vorhergehender europäischer Traditionen.

Zum Beispiel erörtert Ricarda Bauschke an exemplarischen Strophen romanischer Dichter eine einerseits abhängige, andererseits selbstständig affirmierte Lyrik Reinmars des Alten. Dem voran geht eine ausführliche Einführung kultureller und sprachlicher Divergenzen und Gemeinsamkeiten in Europa zur Karolingerzeit, im höfisch-französisch beeinflussten Mittelalter und zur Zeit des Humanismus – dies kann als Basis für die weiteren Texte betrachtet werden. Im folgenden Aufsatz zeigt Timo Reuvekamp-Felber anhand des Epilogs des mittelalterlichen Eneasromans genealogische Strukturprinzipien auf und betrachtet anhand von Beispielen die Konstruktion von Genealogien griechischer und christlicher Herkunft. Auch Annette Gerock-Reiter geht vom Kleinen ins Große: Sie nimmt sich den berühmten Zeilen „ich bin dîn, du bist mîn“ an und verortet das vermeintlich erste Minnelied im Zwiespalt zwischen lateinischer, romanischer und eigenständig deutscher Tradition; die Frage nach der Artifizialität beziehungsweise Einfachheit der Zeilen ist hierfür Ausgangspunkt und die Verse werden in ihrem (lateinischen) Überlieferungskontext betrachtet, was einen neuen, unverklärten Blick auf die Zeilen ermöglicht.

Inhaltlich schließt sich unmittelbar Silvia Reuvekamps Beitrag zur „Transformation gelehrten Wissens in der ‚Crône‘ Heinrichs von dem Türlin“ an. Dass dieser ein Schlüsseltext ist, der sowohl auf die lateinische, deutsche und romanische Tradition rekurriert, wird vor allem anhand der Anfangsszene, der Becherprobe, erörtert. „Es gehört zu den herausragenden Merkmalen der Crône, dass sie in ungewöhnlichem Maße auf die literarische Tradition Deutschlands und Frankreichs zurückgreift. Hat diese Eigenart des Textes in der älteren Forschung zum Vorwurf nachklassischer Epigonalität geführt, wird der eigenständige und produktive Umgang mit literarischen Versatzstücken unterschiedlicher Provenienz nun schon seit geraumer Zeit als besondere Qualität des Textes verstanden.“

Ein sehr lesenswerter Beitrag von Bernd Bastert beschäftigt sich mit der „Consolatio Philosophiae“ des Boethius und dessen spätmittelalterlicher Rezeption. Anhand der überlieferten Textzeugen (Übersetzungen, Kommentare, gedruckte Ausgaben) wird der Zusammenhang von Code und Inhalt erörtert sowie die jeweilige Zielgruppe betrachtet – dies in sehr verkürzter Form, was viel Potenzial für weitere Forschung bietet. Die das Kapitel abschließenden Beiträge beschäftigen sich mit der Ausbildung einer deutschen Eigenart – in Lobrede und Tragödie.

Der zweite Teil wird durch eine Einleitung zum Thema „Mythos“ allgemein initiiert und beschäftigt sich im Folgenden auch ausschließlich mit dem Mythos als traditionsbildendes Moment. Konkret beschreibt Andreas Hammer den (Stadt-)Gründungsmythos am Beispiel Augsburgs anhand einer mittelalterlichen und einer frühhumanistischen Chronik. Es stellt sich als sehr gelungen heraus, die beiden Texte, bei dem sich der jüngere auf den älteren bezieht und diesen kritisch betrachtet, zu vergleichen und die Eigenheiten des jeweiligen Entstehungskontexts herauszuarbeiten. So können beide in Ihren Eigenarten dargestellt, aber auch anschaulich gegenübergestellt werden. In ähnlicher Weise stellt Almut Suerbaum die (Rezeption der) Caesar-Figur in Mittelalter und Humanismus vor. Und Hans Rudolf Velten verortet den Schlaraffenlandmythos zwischen antiker und christlicher Prägung und verweist auf die Relevanz, die Rahmenhandlung der jeweiligen Textzeugen zu beachten. Er zeichnet den Weg des „vielleicht einzigen standesübergreifenden und somit auch popularen Mythos“ vom Mittelalter in die Neuzeit anschaulich und mit diversen Anknüpfungsmöglichkeiten nach. Ulrich Hoffmann schließt mit einem Beitrag über das „Mythische“ an – dieser hat inhaltlich sehr viel Potenzial; es geht um Ulrichs von Zazikhoven „Lanzelet“ und dessen episodenhaften Aufbau als Indiz der grundlegenden mythischen (und mündlichen) Erzähltradition. Leider führt er Theoretisches in einer Ausführlichkeit aus, wie man sich dies in einer Einführung zum Thema beziehungsweise Kapitel vorstellen könnte, vor allem weil hier auf Hans Blumenberg und Ernst Cassirer verwiesen wird, die auch in vorhergehenden Beiträgen zur Sprache kommen. Der Abschluss von Elke Brüggen zum Thema Nibelungenlied als Weltkulturerbe zeigt sehr anschaulich die Wirkung der mittelalterlichen Texte auf die heutige Zeit auf und verweist auf den Kern der Traditionsbildung: Es ist ein kulturprägender Vorgang.

Insgesamt sind die Artikel in einer einheitlichen Sprache verfasst, auch die Gliederung ist gut nachzuvollziehen und somit wirkt der Band als „Ganzes“ abgeschlossen. Jedoch fehlt ein Literaturverzeichnis – ein Überblick zum Forschungsstand und zu dessen Genese –, welches auch nicht durch das Personen- und Werkregister ersetzt werden kann. Generell ist es schade, dass das Buch eine hochwertige Ausstattung erhalten hat, jedoch offensichtlich keine Umbruchkorrektur vorgenommen wurde, was natürlich die Wertigkeit infrage stellt und das Lesen maßgeblich beeinträchtigt.

Titelbild

Udo Friedrich / Manfred Eikelmann (Hg.): Praktiken europäischer Traditionsbildung im Mittelalter. Wissen - Literatur - Mythos.
Akademie Verlag, Berlin 2013.
329 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783050052069

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