Dialoge über die Zeitgeschichte

Aris Fioretos und Durs Grünbein legen ihre literarischen „Verabredungen“ vor

Von Daniele VecchiatoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniele Vecchiato

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der eine ist ein raffinierter schwedischer Schriftsteller griechisch-österreichischer Herkunft, der mit virtuosen Romanen wie „Die Seelensucherin“ (2000) und „Der letzte Grieche“ (2009) die Aufmerksamkeit der deutschen Leser verdient hat. Der andere ist der größte deutsche Lyriker seit der Wiedervereinigung, ein Meister der Verssprache und feiner Kenner der Weltliteratur, der zunächst in den Naturwissenschaften („Schädelbasislektion“, 1991) und später immer stärker in der Antike („Nach den Satiren“, 1999; „Koloß im Nebel“, 2012) seine Inspirationsquellen gefunden hat. Ihre Begegnungen durch die Jahre haben intellektuell lebhafte und zugleich unterhaltsame Gespräche angeregt, die teilweise bereits in der Zeitschrift „Akzente“ erschienen und teilweise erst mit dem vorliegenden Band zugänglich gemacht werden.

Die protokollierten „Verabredungen“ von Aris Fioretos und Durs Grünbein an verschiedenen Weltecken sind mehr als das Zeugnis einer gelehrten Freundschaft. Sie sind Erfahrungen, Erinnerungen, Erzählungen. Sie sind Spaziergänge durch die Hauptstädte der postmodernen, postindustriellen, postutopischen Kultur, Reisen durch die Seiten der großen literarischen Vorgänger, Perlen in dialogischer Form über die Kunst und das Leben. Stupend ist die Fähigkeit beider Autoren, Assoziationen zu erwecken, Visionen zu schaffen, die richtigen Zitate am richtigen Ort zu nennen und mal ernst, mal autoironisch über sich selbst und das eigene Werk zu reden.

So ist im ersten Gespräch – 1995 im Berliner Bayrischen Viertel gehalten – vom Grau die Rede, von der Farbe (oder Nicht-Farbe), die in Grünbeins erster Sammlung („Grauzone morgens“, 1988) sowie in Fioretos’ Essay „Das graue Buch“ (1994) dominant ist. Weiterhin unterhalten sich die beiden Freunde über literarische Hunde von Homer bis Kafka, aber auch über den Pawlow’schen Hund als Metapher des DDR-Bürgers und über die Funktion der Dichtung als sarkastische Reduktion, als hartnäckiges Kauen am Knochen der Dinge, bis kein Stück Fleisch (d.h. alles Nicht-Wesentliche) übrig bleibt.

Das zweite Gespräch findet zwei Jahre später im öden Vorort von Las Vegas statt, in den sich die beiden verloren haben. Das Leitmotiv ist diesmal die Wüste als Ort der ständigen Mobilität und daher des Anti-Gedächtnisses. Auch dem kaleidoskopischen horror vacui von Las Vegas wird paradoxerweise die Wirkung einer Wüste zugeschrieben, in der jene „Sehnsucht nach dem Null“ herrscht, die die Innerlichkeit des Subjekts durch Unsicherheit und Vergessen annihiliert.

Das dritte Gespräch spielt wieder in Berlin, sechs Jahre nach dem ersten. Aus dem rotierenden Café des Fernsehturms am Alexanderplatz lassen Grünbein und Fioretos die Geschichte der DDR Revue passieren und kommentieren die architektonischen Entwicklungen der Stadt seit der Wende. Später begeben sie sich Richtung Westen zum Funkturm, um über die Bedeutung der Radiopropaganda im „Dritten Reich“ zu sprechen sowie über die „Kulturrevolution“, die der Übergang vom Wort zum Bild, vom Rundfunk zum Fernsehen bedeutet hat.

In „Terror und Tabu“, dem vierten Gespräch, geht es um 9/11. Die zwei Schriftsteller bummeln 2003 am Ground Zero vorbei, dem „Epizentrum eines schweren kollektiven Traumas“, und räsonieren über die Illusion der freien Wahl in Extremsituationen und die Leere des Todes, die in der Riesenwunde von Manhattan ihre bildliche Quintessenz findet. Aber es geht auch um das literarisch dargestellte Amerika – vor allem bei Kafka und Céline – sowie um die Haltung der Literatur gegenüber der Brutalität des Realen.

In den zwei letzten Gesprächen, die 2011 und 2013 entstanden, treffen sich Fioretos und Grünbein in den jeweiligen heimatlichen Fluchtpunkten: Stockholm und Dresden. Die Kindheitserinnerungen und die ersten literarischen Versuche der beiden werden gestreift und das Thema des Aquatischen – der Quellen, der Ursprünge, aber auch sehr konkret des Wassers in der Literatur und den Künsten – wird hervorgehoben. In Dresden führt Grünbein den Freund durch die geschichtsträchtigen Orte seiner Stadt, die eigentlich nur „ein Phantom, ein Remake“ ist. Das Thema der Schönheit verwebt sich im Elbflorenz notwendigerweise mit dem der Zerstörung und vor allem der Trauerarbeit, die in der zerbombten Stadt aufgrund des hektischen Wiederaufbaus nicht stattgefunden zu haben scheint.

Das Buch schließt mit 50 Fragen und Antworten, die an eine Fortsetzung des Dialogs zwischen den beiden Freunden aus der Ferne denken lässt. In einem Austausch von Postkarten beantworten Grünbein und Fioretos diverse Fragen, die von der Lieblingsfarbe bis hin zur Bedeutung der Poesie reichen. Mit brillanter Schlagfertigkeit führen sie das selbstentworfene Q&A-Spiel und bieten dadurch einen interessanten Einblick in ihre Träume und Überzeugungen, in ihre Lebens- und Arbeitsweisen, in ihre Idee von Kunst.

„Verabredungen“ ist ein glückliches Buch, der Ausdruck einer langjährigen Freundschaft und eines sehr produktiven literarischen und menschlichen Austausches. Charakterisiert sind die „Gespräche und Gegensätze“ von Fioretos und Grünbein durch eine Freude an der Begegnung und am Dialog, durch eine Sehnsucht nach dem Miteinander, die in einer verschärft individualistischen und hypertechnologisierten Gesellschaft selbst im Literaturbetrieb eine Seltenheit geworden ist.

Titelbild

Durs Grünbein / Aris Fioretos: Verabredungen. Gespräche und Gegensätze über Jahrzehnte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
252 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783518423882

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