Lunare Libration

Durs Grünbeins neuer Gedichtband „Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond“

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ein kalter Koloß“, ein „zyklisches Oxymoron in Rotation“, eine „Landschaft, von Meteoriten zerhackt“: „Gevatter Mond“ gibt in Durs Grünbeins neuem Gedichtband „Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond“ eine „lunare Audienz“. Aber bereits diese Aufzählung zeigt, dass kein romantisch-verklärtes Loblied auf einen locus amoenus gedichtet wurde. Grünbeins Gedichtzyklus bemüht sich um eine sachlich-distanzierte und möglichst umfassende Betrachtung. Der Leser wandert mit dem Dichter durch die Zeit und erlebt, welche Wandlungen die Betrachtung des Mondes in den vergangenen Jahrhunderten erfahren hat. Romantische Verzauberung, aufgeklärte Nüchternheit, „Philosophengeschwätz“ und Mysterien wechseln sich in rascher und hektischer Folge ab. Adam und Eva – „Natürlich kam es vom Mond, / Das zitternde Pärchen.“ Römer hätten einen „Mond aus Beton“ gesehen. Bedürfnislose Kyniker treten auf, die „an ihrer kritischen Kotze“ ersticken. Die Kryptik erstaunt, zwischen all den historischen Bezügen und schnellen Sprüngen droht die Poesie zu ersticken. Und niemand fragt, heißt es in einem Gedicht, „Was blieb / Von den tausend Definitionen des Mondes?“ Grünbein wagt eine nüchterne Antwort: Wenn der Mond am Himmel steht, liegt die Landschaft in fahlem Monochrom. Im Gedicht „Montgolfier“, im Gedenken an die aufgeklärten Freimaurer und Erfinder des Heißluftballons Joseph de Montgolfier und Étienne de Montgolfier, greift Grünbein das eichendorffsche Marmorbild auf, jenes Venusbild, das dem Romantiker Wehmut und Entzücken entlockte. Aber bei Grünbein gleicht ein Standbild dem anderen „in der Regennacht“. Ein Schlafwandler durch die Zeiten reitet da auf einem Zebra, man sieht einen „Typen, mehr als sonderbar“. Das Wispern hoffnungsloser Romantiker hat da wenig Platz. Der Blick zum Mond gab ihnen Halt: „Er war der Hafen unerfüllter Wünsche“. Das Präteritum ist mit Bedacht gewählt. Wer blickt heute noch zum Mond auf? Schlaflose und Astronomen treten in Grünbeins Versen auf. „Schlaflose gibt es in Massen“. Die Erde ist kein Ruheplatz mehr in einer rastlosen Zeit. Schließlich stellt Grünbein klar: „Der Mond verläßt uns Richtung All. Mit jedem Jahr / Nimmt die Entfernung zu um ein paar Zentimeter.“

Wieso widmet Durs Grünbein dem Mond dann noch einen ganzen Gedichtband, wenn die Faszination vergänglich erscheint? Ausgangspunkt war seine freudige Lektüre der Mondreise Cyrano de Bergeracs, der schon im 17. Jahrhundert seinen Protagonisten mit einem katapulthaften Sprung auf den Mond fliegen ließ, erklärt Grünbein in einem den Gedichten nachgestellten Aufsatz.

Cyrano de Bergeracs utopische Geschichte ist bis heute populär. Unter dem Anagramm Dyrcona erlebte Cyrano fantastische Abenteuer auf dem Mond; Auftrieb gaben ihm Flaschen voller Tau, der verdunstete. Cyrano sei, so Grünbein, damit das „Urbild aller künftigen erdmüden Dandys“ und „ein Himmelsstürmer im Selbstversuch“. Doch Cyrano sei außerdem ein Pionier gewesen, weil er die Rückkehr vom Mond pompös zelebrierte: Er sei der erste gewesen, „der literarisch in Szene setzte, was es heißt, von seiner so unwahrscheinlichen Reise wiederzukehren“. Die große Zeit der Reisen zum Mond liegt in der Vergangenheit. Fast ein halbes Jahrhundert „ließ der Mensch das Gestirn uns gegenüber unbehelligt“. Grünbein mutmaßt, dass der Mond der Zukunft zur Rohstoffquelle degradiert wird. Allgemein habe man es auf „das lunare Helium“ abgesehen. Außerdem werde der Mond zum „Touristenziel zahlungskräftiger Freizeitabenteurer“. Ansonsten sehe man den Mond nur noch als „Bollwerk im All“, als Teil der Antike, „die wir immer schon auf Distanz hielten“.

Das Nachwort, diese „lyrische Libration“ – wie Durs Grünbein es nennt –, geriert sich als strenge Vorlesung mit erhobenem Zeigefinger. Er findet große Worte, die er seinen Gedichten nachstellt und ihnen damit geradezu aufzwängt. Mutmaßte Grünbein, dass sein Leser nur mit einer Hilfe zum Kern der Verse vordringen könnte? Der Dichter hat dem Drang nachgegeben, mehr sagen zu müssen, als er mit seinen Gedichten sagen konnte. Lutz Hagestedt weigerte sich vor einigen Jahren daher auch mit gutem Grund, sich in die Reihe der jubelnden Akklamateure zu begeben, die in Grünbein den bedeutendsten Dichter des modernen Deutschlands sehen. Er kritisierte an Grünbeins Gedichtband „Nach den Satiren“, der Versuch des Dichters „zur großen Form“ sei „bemüht zwar und respektabel, aber doch voller Mängel und häufig steif und bieder“. „Einschüchternd belesen“ wirkt Grünbein darüber hinaus auf Harald Hartung, der für Grünbeins Mond-Lyrikband zwiespältige Gefühle hegt und ihn letztlich als „redundanten Zettelkasten“ bezeichnet („F.A.Z.“, 08.04.2014).

Im Essay „Katze und Mond“ (1992) präsentierte Grünbein einst den Dichter als Zwischenträger, als Überträger zwischen dieser und einer anderen Welt. Er müht sich, diesem Anspruch an sich selbst gerecht zu werden. Wissenschaftliche Termini, fehlende Zusammenhänge, schnelle Sprünge und steife Theorie – in jedem Fall ist es viel, was Grünbein seinem Leser abverlangt. Der drohende Orientierungsverlust kann aber auch als Warnung vor der Überforderung des Menschen gewertet werden. Der technikbegeisterte moderne Mensch kartografiert den Mond, erobert ihn und verschrottet schließlich befriedigt seine Space-Shuttles. Am Ende ist der Mond nur noch der „treue Hund der Erde“: „Er hält die Pole, macht das Meer zur Wasserwaage. / Die Erde wäre unbewohnbar ohne ihn“. Scheinbar ist der Zauber verschwunden, vertrieben von sogenannten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Skepsis bleibt. Grünbein bricht auch diesen Gedanken ab und ruft dazu auf, einen Brief an den Mond zu schreiben. Einen Aufruf zur Rückkehr zum Mond?

Titelbild

Durs Grünbein: Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
151 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518424155

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch