Nieder mit dem Pathologisierungswahn
Karin Strauß’ Monologstück „Herr Metitsch“
Von Thomas Stachelhaus
„Ich brauche keinen Betreuer.“ „Wissen Sie, warum ich keinen Betreuer brauche? – Weil ich mich selber betreue.“ So stellt sich der gleichnamige Protagonist dem Publikum vor. Gewissermaßen in Vertretung des Betreuer-‚Kollegen‘ Pfister statten wir dem Ordnungs-Messie einen kleinen Besuch ab. Anfänglich noch verschlossen und zögerlich, dann jedoch zunehmend offenherzig, gewährt uns der Endfünfziger Einblick in sein Paralleluniversum, das ganz eigenen Gesetzen unterliegt. Als Messie kann er nämlich nichts wegwerfen: „Wissen Sie überhaupt, was für ein entsetzliches Wort das ist: weg-werfen!? Von mir weg, aber wohin, daran denkt man nicht; es landet ja nichts im Nichts, das ist das Prinzip ‚Aus-den-Augen-aus-dem-Sinn‘, das lehne ich striktkategorisch [sic!] ab, und dann auch noch werfen! Darin liegt etwas derart Verachtungsvolles, dass ich dies meinerseits höchstselbst – nur verachten kann!“ Metitsch spricht den Objekten das Recht zu, sich im Laufe ihres Daseins zu verändern und sich ihrer genuinen Funktion somit zu entziehen. Auch der Mensch verändere sich im Laufe des Lebens, warum also sollte es den Gegenständen verwehrt bleiben?
Karin Strauß’ Tragikomödie ist mehr als bloß ein Text über die Objektophilie eines nicht nur einsamen und von der Gesellschaft ausgegrenzten, sondern auch pathologisch stigmatisierten Mannes: Es ist eine offene Kritik an der Wegwerfgesellschaft und zugleich eine eindrucksvolle Schmähschrift gegen jene Individuen, die einem Ausstieg aus gängigen Ordnungen gleich mit dem ICD-10 oder DSM-Katalog zu begegnen wissen. Metitsch ist ein Exempel dieses Psychopathologisierungshypes: Jenen Systemaussteigern droht die Zwangsverwaltung; Foucault beschrieb diese Entmachtungsmechanismen viele Jahre zuvor in zahlreichen Abhandlungen. Der Messie durchschaut dieses System zwar, unterwirft sich ihm aber zugleich bereitwillig: „Leute wie Sie – verzeihen Sie, ich sage das ja nicht gern – aber Sie brauchen andere Leute mit Löchern und Abweichungen, Menschen, die ab-rücken von der Gesellschaft der Normalen (falls es die gibt). Womit sonst würdet ihr euer Geld verdienen? Manche von euch nähren ihre Seele von der Scham der Hilfsbedürftigen, bis wir noch weiter ver-rücken, und dann habt ihr uns da, wo ihr uns haben wollt, nicht wahr…“
Und dennoch zeigt er uns das Interieur seines Hauses und wir erhalten eine Einführung in die vielen Facetten seines spezifischen Ordnungssystems. Thomas Büchel geht in der Verkörperung des Herrn Metitsch im Rahmen der szenischen Darbietung regelrecht auf, weiß die Mischung aus Kontrollwahn, Zerstreuung, Verärgerung und Offenherzigkeit bzw. Gastfreundschaft in allen Nuancen zum Ausdruck zu bringen und lässt das Tragikomische niemals vermissen. In stetiger Korrespondenz mit dem Publikum erweckt er das statische Ordnungssystem zum Leben, das auf der Bühne durch in Reih und Glied angeordnetes weißes Kartonpapier angedeutet wird, und präsentiert seine Leidenschaft für die entfunktionalisierten Objekte selbst dann glaubhaft, wenn die jeweilige Requisite nicht einmal haptisch präsent ist.
Das Monologstück bedarf aber nicht zwingend der Inszenierung. Strauß legt einen Theatertext vor, der auch auf einer imaginierten Bühne eindrucksvolle Bilder erzeugen kann: Dazu tragen vor allem die naturalistischen Stilelemente des Theatertextes in Form ausdifferenzierter und spezifischer Regieanweisung bei. Überzeugend ist darüber hinaus Metitschs feinfühliger Sinn für Sprache: Er zerlegt die Worte in ihre Bestandteile, enthüllt ihre Phrasenhaftigkeit, entlarvt ihre wahre Bedeutung. Vor allem aber braucht er die Sprache für sein Ordnungssystem: „Zwischen den Dingen um mich herum und meinem Wissen um sie in meinem Kopf gibt es Vermittler – und das sind die Worte.“ Von der Meisterin der Sprachsezierung und Neukombination, Elfriede Jelinek, ist Strauß’ Monologtext weit entfernt, doch passen die poststrukturalistischen Züge wunderbar zum entworfenen Charakter Metitschs.
Leider, und dies hemmt die eindrucksvolle Wirkung des Textes schließlich, verzichtet Strauß nicht darauf, die Ursachen und Handlungsmotive seiner hermetischen Abriegelung zu entfalten. Metitsch ist nämlich ein Mann mit Zuwanderungsgeschichte, hat den Bosnienkrieg miterlebt, wurde von seiner Frau verlassen und lebt in räumlich großer Distanz zu seiner eigenen Tochter, die sich mit ihrer Familie nach Kanada aufgemacht hat. Und so ist der Text dann doch wieder eine Pathologiegeschichte geworden, die seine anfängliche Sprengkraft relativiert, aber sicherlich nicht aushebelt. Zu Recht wurde der Text von der Jury namentlich erwähnt, aber nicht prämiert.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen